Kleine Hommage an Gordian Troeller
Gordian Troeller unterrichtet uns, ohne uns zu belehren. Er unterrichtet und informiert uns auch darüber, wie wir miteinander leben: schlecht nämlich leben wir miteinander. Wir haben das Feld des Miteinanderlebens den Politik-Profis überlassen. Die Kollegen Journalisten (zumal des Radios und des Fernsehens) zweifeln nicht einmal mehr daran, daß das Zusammenleben von der Politik konstituiert und monopolisiert wird. Deshalb brauen sie jeden Abend in ihren Menüs – genannt Tagesschau, heute, RTL aktuell, heute-journal – etwas zusammen, dem jedermann/jedefrau durch langes Kauen nur noch den Geschmack abgewinnen soll: die jeweils Regierenden verfügen über unseren Alltag. Die Kollegen Mundwerksburschen vergeuden tagtäglich wertvolle Sendeminuten damit, einem Oskar Lafontaine immer wieder zuzuhören, wie er dem Volk der Habenichtse erklärt, daß er nach Prüfung seiner Bezüge, für die er mehrere staatliche Behörden eingeschaltet hat, zu der Überzeugung gekommen sei, er verdiene eigentlich zu wenig – zumindest sei sein Einkommen gerechtfertigt… „Also“, sagt derjenige, den wir allzulange nicht abgewählt haben, „ich mag das Wort ‚Krise‘ nicht“. (Mit diesem wunderbaren Satz beginnt der Deutschlandfunk stolz sein Interview der Woche mit Helmut Kohl am Sonntag, den 7. Juni 1992).
Zu reden ist hier von einem Gordian Troeller, der mit unseren wirklichen Krisen zu tun hat, der aber dennoch nicht zu einem intellektuellen Krisen-Schwätzer geworden ist. Und da ich mit ihm über diese meine (An-)Sicht seiner Person nie gesprochen habe, will ich es mit diesen dürftigen Zeilen eines Vorworts tun: als kleine Hommage, als kleine Lobpreisung.
Ich habe im Lauf meines Berufslebens die akademische Ausbildung ein bißchen fürchten und hassen gelernt. Als kluger Gebildeter – so ist mir klar geworden – hat man immer so verteufelt viele, gute, triftige Gründe, etwas nicht zu tun.
In den Tagen, da ich dies hier schreibe, liegen wir (von der Cap Anamur) in Süd-Angola fest mit einem riesigen Tross von Ex-Tanks mit Minenräumequipment, mit wüst-großen russischen LKWs der Marken Tatra, Krass, Ural, mit Tankwagen, Brückenlege-Panzern und so weiter. Wir kommen da kaum voran. Ich kann nur auf den Geist von Menschen wie Troeller und all denen setzen, die nicht deshalb aufgeben, weil es zu viele Widerstände gibt, zu viele unkonventionelle Wege beschritten werden müssen.
Nein, das erhöht in uns (darf ich das dem ein wenig älteren Kollegen so kumpanenhaft zurufen?) den Widerborstigkeitsgeist: Nun erst recht!
Jüngst traf ich einen jungen Kollegen, der mir die ganze Hoffnung auf meinen mir manchmal verleideten Beruf zurückgegeben hat, der mir auf meine wirklich verblödete Frage, was er denn studiert habe, antwortete: „Gar nichts, ich bin einfach in den Journalismus hineingerutscht.“ Und ich dachte mir dabei: Wahrscheinlich ist das der Grund, warum Andreas Cichowicz in Südafrika und im südlichen Afrika so gute Reportagen und Filme macht, daß er eben nicht so ein Neunmal-Kluger geworden ist…
Ich will ein Beispiel herausgreifen (eines von über 70 Beispielen, die alle zu erzählen wären, wenn es so etwas gäbe wie eine Programmgeschichte des Fernsehens – aber es gibt die Möglichkeit einer solchen TV-Historiographie immer weniger, seit es den Walter Jens alias Momos nicht mehr gibt, die Mainzer Tage der TV-Kritik zu einem Verkaufsgespräch entartet sind, der Chef dieser Journalistentage nichts anderes zu tun hatte, als seinen ZDF-Untergebenen per Dienstanweisung schriftlich zu geben, sie hätten ihn jetzt mit Professor, irgendwann auch mit Doktor anzureden; seit jener Clemens Münster an der Aufgabe gescheitert ist, eine Fernsehprogramm-Geschichte zu schreiben; seit Egon Netenjakob das wohl auch aufgegeben hat und sich den Monographien hingibt: Wildenhahn, Monk, Fechner) – ich nehme das mir liebste Beispiel:
Eritrea. Ein Land, von dem wir – Gordian Troeller und einige wenige – wußten, daß es einmal ein richtiges Land werden würde. Zu Gegnern unserer Prognose – Troeller drehte dreimal, sich der Gefahr aussetzend, am Boden und aus der Luft attackiert zu werden, im Bürgerkriegs-Eritrea – hatten wir das Auswärtige Amt und die Auslandskorrespondenten in Nairobi. Die Vertreter der geballten deutschen Medienmacht verweigerten Eritrea die Anerkennung wie das Auswärtige Amt. Mit einem übrigens berückenden journalistischen Argument: Sie würden aus Addis nicht mehr die Einreisegenehmigung von Gnaden des Haile Mariam Mengistu erhalten, wenn sie den Sprung nach Eritrea wagten. Die deutschen Zuschauer, Leser, Hörer leiden noch immer darunter – ohne es zu wissen: Sie sind Opfer des schlechten Gewissens dieser Reporter. Die möchten nicht zugeben, daß sie sich doppelt geirrt haben: Einmal haben sie die Version von Addis übernommen, daß es ein eritreisches Volk gar nicht gebe; und sie haben die Version übernommen, daß Eritrea nicht unabhängig werden dürfe, weil dann Äthiopien nicht mehr lebensfähig sei. Beide Standpunktprothesen haben sich als das herausgestellt, was sie sind: fauler Politikzauber. Eritrea wird das einzige Land sein in diesen lausigen Jahren, das Erfolg hat, einen wirklich autarken Enthusiasmus, der nicht auf uns verfluchte Europäer wartet, um zurechtgerückt zu werden. Ich freue mich nach Troellers letztem Film schon auf meinen nächsten Besuch in Asmara.
Ich träume von Troellers fünftem Film in Eritrea. Nach dem verschwenderischen ‚Zirkus‘ in Rio de Janeiro, den so viele Umwelt- und Alternativgruppen so verräterisch mitgemacht haben, könnte ein einziger Film aus Asmara und Massawa, aus Kerem und Nacfa, aus Tessenie und Gindha uns zeigen, wie eine fleissige und sparsame, haushälterisch und pfleglich mit ihren Instrumenten und Gefährten, ihren Investitionen und ihren Gebäuden umgehende Gesellschaft es schafft, daß selbst Güter unserer Industriewelt bewahrt werden: durch Wartung.
Kein Land der Welt läßt auf seinen wenigen Strassen so viele VW-Käfer fahren wie Eritrea. Ich habe in meiner ungeschützten Begeisterung geglaubt, das dem VW-Werk in Wolfsburg mitteilen zu sollen. Zumal es ein großes VW-Käfer-Ereignis in Zusammenhang mit der Befreiung gab: Der Leiter der EPLF-Gesundheitsabteilung, Dr. Nerayo, der vor 14 Jahren fliehen mußte, hatte seinen kleinen Käfer in Asmara gelassen. Ein Freund hatte ihm den Wagen eingemauert. Gefährlich, denn Hab und Gut eines Republikflüchtlings gehörte dem räuberischen Staat. Nach 14 Jahren und dem Sieg der EPLF, der Eritrean People’s Liberation Front, kam er am 24. Mai 1991 nach Asmara. Die Mauer wurde gesprengt, der Wagen war da und brauchte nur eine neue Batterie. Dr. Nerayo fährt bis heute mit diesem Wagen. Ein Film-Thema?
Ich habe mich über Gordian Troeller auch einige Male geärgert. So, wenn er Kritisches unter den Tisch fallen lässt, einen stromlinienförmigen Film macht wie den über die Menschen im Südsudan, der alles Bedenkliche und Fatale an dem unorganisierten und brutalen Kampf der SPLA, der Sudanese People’s Liberation Front, unter den Tisch fallen lässt. Die Schwarzafrikaner im Südsudan, denen Gordian Troeller genauso verbunden ist wie ich selbst, werden durch diese allzu militärische, auf den Waffenkampf fixierte „Bewegung“ brutalisiert und malträtiert. Die Bewegung des Dr. John Garang, Oberst, verdient den Ehrentitel Liberation Movement, „Befreiungsbewegung“, nicht. Den muß man sich verdienen, indem man schon während des militärischen Kampfes gegen die übermächtigen Eroberer, Sklavenhalter und Okkupanten aus Khartoum die Strukturen des neuen Sudan etabliert. Indem man eine zivile Verwaltung schafft, die für das Volk sorgt, der Nahrungsvorsorge und der medizinischen Versorgung, dem gesellschaftlichen Leben wie der Betreuung der Tuberkulösen und Lepra-Kranken eine ganz große Priorität einräumt. All das gab es nicht zum Zeitpunkt des Südsudan-Films von Gordian Troeller. Sein Film war gut gemeint. Ich erwähne das aber, weil wir alle in Gefahr sind, wegen einer Tendenz, die wir zu Recht unterstützen, alle begleitenden kritischen Aspekte auszublenden.
Den heftigsten und langwierigsten Streit gab es über Troellers Film Die Nachkommen Abrahams (1989). Den Redakteur der Sendereihe, Elmar Hügler, der sonst seinen breiten Rücken gern zur Verfügung stellt, um Gordian Troeller zu decken, hat diese Auseinandersetzung fast zur Verzweiflung getrieben. Die Reaktionen auf diesen Film über palästinensische Kinder waren der typische Reflex unserer philosemitischen Verkrampfung. In solchen Situationen reagieren Intendanten und Rundfunkräte wie das Kaninchen auf die berühmte Schlange: Sie deklarieren solch einen Film sofort (und fast unbesehen) zu einem Werk „mit eindeutiger antisemitischer Tendenz“ (so der Fernsehausschuss des Bayerischen Rundfunks im November 1989), „mit nicht zu übersehender anti-jüdischer Tendenz“ (NDR-Rundfunkrat), nur weil sich die offiziellen und offiziösen Vertreter Israels in Deutschland heftig ablehnend, auch öffentlich-fordernd, zu diesem Film geäußert hatten. In solchen Fällen proben ARD und ZDF nicht etwa die gebotene Gelassenheit, sondern übernehmen vollständig die Argumente der einen Seite.
So etwas führt zu absurden, nie berichteten Folgen. Als der Reporter des BR, Hans Lechleitner, im Jahre 1987 im Deutschen Fernsehen die von Israel inszenierte „Operation Moses“ sachgerecht kommentierte und sich unterstand, die Israelische Regierungsmeinung zur Herausführung der äthiopischen schwarzen Juden, genannt Falachas, aus dem hungerbedrohten Äthiopien nicht zu teilen, erhob sich heftiger Widerstand. Der Kommentator wurde von seinem Intendanten Reinhold Vöth blind aufgefordert, sich einem deutsch-jüdischen Gremium in Bonn zu stellen (also etwas völlig Illegitimes, ein Nicht-Gremium darf den TV-Kommentator zitieren – ein Gremium, in dem Annemarie Renger und Erik Blumenfeld sassen). Das einzige Vergehen, dessen sich Lechleitner schuldig gemacht hatte, war, daß er nicht die Meinung Israels paraphrasierend wiedergegeben hatte. Ich kann mich an diesen Vorgang deshalb noch so genau erinnern, weil ich ein wenig Mit-Täter war: In einer Situation, in der es in Tigray und Gonder allen Bewohnern Äthiopiens bis zum Verröcheln schlecht ging (es war mitten in der Hungerkrise, in der wir heftig halfen, den Äthiopiern durch Nahrung und Medizin das Überleben zu sichern), machte Israel sich daran, exklusiv nur seinen mit-jüdischen Schäfchen auf sehr teure Weise die Ausreise zu ermöglichen. Ich fand das abgeschmackt, wie ich es auch schlimm finde, daß wir uns manchmal so exklusiv um unsere Aussiedler kümmern – oder jetzt in Angola um Entschädigungsansprüche für die Angola-Deutschen.
So geschah es auch Gordian Troeller. Bis in die Süddeutsche Zeitung reichte die Kampagne. Die geschätzte Medienseite der SZ brachte einen langen Beitrag von Ellen Hofmann mit dem schönen Titel: „Wahrheitssuche in vermintem Gelände“. Der Beitrag kritisierte nicht etwa die Unerlaubtheit der Eingriffe des Zentralrats der Juden und der Israelischen Botschaft in Bonn, der jüdischen Gemeinde in Bremen und anderswo, sondern bemängelte, daß der Autor dieser Seite nicht stärker Gehör verschafft hatte. „Die Problematik von Troellers Beitrag zum Nahostkonflikt besteht nicht darin, daß er Kritik an der Politik des Staates Israel übt. Troellers Selbstverständnis aber ist es, daß ‚ich konsequent in allen Ländern gegen Menschenrechtsverletzungen jeder Art zu Felde ziehe‘. Von seiner Wut gegen Menschenrechtsverletzungen hat er sich auch diesmal hinreißen lassen, als er von Palästinensern und Juden berichtete. Aber da der Antisemitismus eine uralte Leidenschaft ist, darf man sich eben nicht hinreißen lassen …“ (SZ vom 14.11.1989). Als ob seine Aussagen irgendetwas enthielten, das man dem Autor als Fehler nachweisen könnte. Daß er die Politik der dauernden Schul- und Universitätsschließungen kommentiert, wie wir alle es tun: natürlich müssen die Palästinenser so besorgt um ihre Kinder sein, wie wir es sind, wenn in Nordrhein-Westfalen zu viele Schulstunden ausfallen. Wir halten das für eine Politik, die leichtfertig die junge Generation verblöden lässt. Daß es in Israel eine de-facto-, oft auch eine eindeutige de-jure-Apartheid gegenüber Arabern und Palästinensern gibt, ist mittlerweile kein Geheimnis mehr. Aber schlimm ist das für alle Freunde Israels, die ihr Israel nicht gern so schäbig, so rassistisch, so ungerecht sehen möchten – und diese verschämte Liebe zu Israel führt zu der ungeschmälerten Heftigkeit, mit der Israel an den Maßstäben gemessen wird, die es sich selbst gibt.
Der Skandal ist, daß man es dem Zentralrat der Juden und seinem Vorsitzenden überläßt, über solche Sendungen ein Urteil zu sprechen, das mehr ist als irgendeine Meinungsäußerung. Daß es zu einer Debatte darüber kommen kann, ob Gordian Troeller ein Antisemit sei. Daß es einen Beschluß des Fernsehausschusses von Radio Bremen geben muß, in dem konstatiert wird, „Troellers Beitrag kann nicht als antisemitisch eingestuft werden“. Wäre ich an der Stelle des Kollegen Troeller, würde ich mich für einen so unverschämten Persilschein bedanken: „Nach sechsstündiger Debatte stimmten diesem Urteil alle Rundfunkräte im Anschluss zu, auch der Vertreter der jüdischen Gemeinde, Ernst Stoppelmann“ (SZ vom 14.11.1989).
Ich beneide ihn. Wenn ich nicht das machen würde, was ich gern mache (Cap Anamur und Journalismus), würde ich auch gern so einen guten kleinen Sender im Rücken und das Abonnement auf drei Filme sicher haben. Einen Sender, der – nehmt nur alles in allem – so heimelig und solidarisch seinen eigenen Journalisten treu bleibt – und nicht wie das ZDF einen so guten, querköpfigen Journalisten wie Wolfgang Herles von seinem Stuhl als Bonner ZDF-Studio-Leiter einfach vertreibt, weil der Helmut Kohl das so will… Ich würde auch gern eine solche Kolumne haben, das sichere Anrecht auf drei Sendungen pro Jahr oder jeden Monat auf einen Artikel in einer deutschen Wochenzeitung. Aber jetzt träume ich.
Gordian Troeller ragt wie Urgestein, wie vergessenes Inventar einer alten Idee von Fernsehen als kritischer Instanz mit der „öffentlich-rechtlichen Seele“ (Cornelia Bolesch), als Gemeineigentum der Bürger in diese Zeit der Neunziger, in der dieses Medium enteignet, den Bürgern so raffiniert weggenommen wurde, daß sie selbst es kaum wahrgenommen haben.
Es braucht in dieser Gesellschaft und in diesem Fernsehen Menschen wie Gordian Troeller, die sich überfordern, wo überall die Mehrheit sich nur noch unterfordert. Es braucht Filmemacher wie diesen Gordian Troeller, die oft übertreiben, weil so viele andere ausgewogen und behutsam nur noch tiefstapeln und untertreiben.
Ich las in der Süddeutschen Zeitung (21.8.1992) einen Satz von Gordian Troeller: „Keinem Land der Welt lässt man die Chance, sich auf seine Weise zu entwickeln.“ Doch, lieber Gordian, die Eritreer fragen erst gar nicht, sie nehmen sich diese Chance. Ich denke auch an die Kurden – an die Kurden in Südkurdistan, nicht an die in der Türkei, die haben noch einen langen Weg vor sich. Bei den Kurden habe ich Hoffnung „wider alle Hoffnung“. Alles Gute, Gordian Troeller, wir brauchen noch viele Filme, solange es die ARD noch gibt. In der Sprache unseres Nachbarvolkes, das mir von Herkunft her so viel bedeutet, und dessen Sprache ich etwas radebreche, sage ich: „sto filmow“; hundert Filme sollten es doch mindestens werden !
Aus:
Kein Respekt vor heiligen Kühen, Gordian Troeller und seine Filme
Herausgeber: Joachim Paschen
Bremen, 1992