Stern, Heft 45, 5. November 1960 Persien ist nicht der Schah. Persien ist nicht das…
Brasilien
01. November 1964, Stern Nummer 44
Die Frauen dieser Welt
Wie sie leben
Wie sie lieben
Wie sie leiden
Brasilien ist die erste Etappe auf unserer Reise um die Welt. Ein heißes Land mit schönen Frauen. Rio, Karneval, Copacabana und aufregende Mulattinnen sind die gängigen Vorstellungen. Brasilien ist aber auch ein Schulbeispiel der männlichen Vorherrschaft alten Stils. „Er hat den Spaß und sie das Kind“ – dieser Satz bestimmt bis auf den heutigen Tag das Los der Frau und die Allmacht des Mannes. Der Hahnenstolz der Herren wird hier zur Hölle der Frauen.
Auf seiner Brust stehen genau zweiundneunzig Haare. Pechschwarze gekräuselte Haare. Fünfzig verlaufen schnurgerade vom Brustbein bis zum Nabel. Einundzwanzig ziehen sich in einer horizontalen Linie nach Links. Ebenso viele nach rechts. Das Ganze bildet ein Kreuz. Fernando modelliert es täglich mit einer Pinzette. Er ist ein gläubiger Mann. Genau im Schnittpunkt der Linien hängt ein goldenes Medaillon mit dem Bild der Madonna.
Wir sitzen am Strand von Bahia. Neben uns tauscht ein Liebespaar kleine Zärtlichkeiten aus. Fernando schein fasziniert.
„Es kotzt mich an“, meint er plötzlich. „Ja, es kotzt mich an.“
Er starrt wütend aufs Meer. Die Sonne drückt auf meinen Kopf. Nach ein paar Minuten werde ich trotzdem neugierig und frage:
„Was, die Liebe?“
„Nein, die Schwestern.“
„Welche Schwestern?“
„Alle Schwestern.“
„Und warum?“
„Weil sie Brüder haben.“
„Es gibt auch Frauen ohne Brüder.“
„Die haben Väter.“
„Unvermeidlich.“
„Auch das macht mich krank.“
„Und warum?“
„Wegen der Ehre.“
„Welcher Ehre?“
„Unsere Ehre natürlich.“
„Aha“, sage ich und blicke flehend aufs behaarte Kreuz. Aber auch von dort kommt keine Erleuchtung. Nur ein Schmetterling sitzt dort und spiegelt sich im Medaillon.
„Haben sie eine Schwester?“ fragt Fernando jetzt.
„Nein.“
„Dann können sie nicht wissen, was es bedeutet, mit einer Frau ins Bett zu gehen“, meint er. „Ich muß immer an die Ehre des Bruders denken, die sie besudelt. Das ist unerträglich. Meine Schwester hat es getan. Vater jagte sie davon. Aber ich werde sie umbringen, wenn ich sie finde. Deshalb bin ich hier. Sie soll in Salvador auf den Strich gehen.“
„Wäre es nicht besser, ihr zu helfen?“ frage ich zögernd.
„Sind sie verrückt? Soll ich denn ewig leiden?“ schreit er, und der Schmetterling fliegt erschrocken davon.
Fernando ist ein extremer Fall. Er kommt aus einer kleinen Stadt des Innern, wo die Männer stolz sind, die Sitten streng. Trotzdem ist seine Auffassung der Ehre typisch für viele Brasilianer. Besonders für die biederen Leute und nicht, wie man annehmen könnte, für die Armen und Analphabeten.
Die wirklich Armen können sich den Luxus der Ehre nicht leisten. Solange sie keinen Status, keinen Ruf zu behaupten haben, fällt es ihnen auch nicht ein, die Keuschheit ihrer Frauen zum Banner ihrer Redlichkeit zu erheben.
Das beginnt erst, wenn man die ersten Sprossen der sozialen Leiter erklommen hat. Die Wecker klingeln nur in den Häusern des Mittelstandes. Und natürlich auf dem Lande. Bei den kleinen und mittleren Bürgern und bei den Bauern wird die Moral zum Götzen des sozialen Ranges und des männlichen Wertes.
Sie haben noch kein Geld, kein richtiges Geld, das ihnen erlaubt, auf die Dinge herabzusehen wie die wirklich Reichen. Und sie stecken nicht mehr im anonymen Dreck des Elends. Sie haben einen Namen, und damit beginnt die Moral.
Die wirklich Armen, sie heiraten nicht einmal. Oder selten. Warum auch? Was haben sie zu verteidigen, außer dem nackten Leben? Was können ihre Kinder erben, außer gesunden Gliedern? Sie leben zusammen, haben Kinder und trennen sich und haben Kinder mit anderen. Die Frauen arbeiten, und nicht selten schleppen sie ihre Männer mit durch. Oder sie suchen nach einem anderen Mann, der ihre Kinder besser ernähren kann. Sie sind freier, tausendmal freier als die Frauen des Mittelstandes oder der Bauern. Sie haben eine unmittelbare Verantwortung für das Leben ihrer Kinder, und hieraus entwickelt sich eine fast rücksichtslose Unabhängigkeit gegenüber den Männern.
Groteskerweise gibt ihnen gerade das Elend die Möglichkeit, gleichberechtigte Partner des Mannes zu sein, verantwortungsvolle Menschen, und nicht durch Kirche, Staat oder stand geweihte Dienerinnen eines Herrn.
Es ist kein Wunder, daß die armen Frauen trotz ihrer Not fröhlicher aussehen als ihre materiell glücklicheren Schwestern, gelockerter, menschlicher. Und es ist kein Zufall, daß sie von ihnen gehaßt werden. Nicht der Armut wegen. Nein, weil sie frei sind. Freiheit bedeutet Sünde.
Natürlich sind sie nicht frei von Furcht und Krankheit. Auch was man gemeinhin Würde nennt und mit Geld verwechselt, haben sie nicht. Aber dafür echte Würde im Umgang mit den Männern und menschliche Wärme im Verkehr mit den Nachbarn.
In Recife leben zwei Drittel der Bewohner im Elend. Wir gehen in eines der „berüchtigten“ Armenviertel. Viele Frauen wohnen allein und müssen arbeiten, um ihre Kinder zu ernähren. Wenn die Nachbarsfrau verheiratet ist und nicht arbeitet, kümmert sie sich um die Kinder der alleinstehenden Mütter. Da jedoch fast alle Frauen arbeiten müssen oder wollen, haben sie sich zusammengetan und eine Art Kindergarten gegründet. Dort hüten abwechselnd zwei oder drei von ihnen die Kinder von allen. Es ist ein großer lustiger Kinderpool und sicher einer der billigsten und zweckmäßigsten, die wir in Brasilien gesehen haben.
Wir haben vorsichtig versucht, von den Kindern zu erfahren, welches von ihnen „legitim“ und welches unehelich zur Welt gekommen ist. Sie wußten gar nicht, wovon wir sprachen. Wir haben auch verheiratete Frauen gefragt, ob sie die ledigen Mütter verachten oder meiden.
„Warum verachten? Die sind wie wir. Das sind Mütter“, hieß es.
„Habt ihr denn keine Angst um eure eigenen Männer?“
„Die Männer haben hier wenig zu melden. Manchmal ist man froh, wenn man sie los wird.“
„Also keine Schwierigkeiten?“
„Doch, wenn ledige Mütter als Dienstmädchen arbeiten, müssen sie oft ihre Kinder verleugnen, weil sie sonst rausfliegen.“
Viele dieser Frauen sind Mitglieder einer „Frauenliga“, in der sie regelmäßig ihre Probleme besprechen. Hier wird auch Politik gemacht. Ohne die Männer. Wir fragen, ob sie die Erlaubnis ihrer Männer haben.
„Die Erlaubnis brauche ich nicht“, sagt eine Mulattin, deren Falten das Alter nicht verraten. Sie ist vielleicht dreißig oder fünfzig.
„Ich arbeite und verdiene“, fügt sie stolz hinzu.
„Und wenn sie nicht arbeiten?“
„Dann ist es anders, dann muß ich tun, was er sagt.“
„Finden sie das richtig?“
Sie lächelt, Es ist ein sehr müdes Lächeln. „Das ist sicher schlecht. Aber die Männer sind so. Die wollen kommandieren.“
„Wenn wir arbeiten und sie frech werden, dann setzen wir sie einfach vor die Tür.“ So spricht eine Weiße, die als Schneiderin tätig ist. „Ich habe schon zwei weggeschickt, die nur lieben und befehlen wollten.“
Alle lachen. „ja“, sagen sie fast im Chor, „die Männer wären unausstehlich, wenn wir keine Arbeit hätten und die Möglichkeit, sie aus dem Haus zu jagen.“
Eine kleine hagere Negerin hat sich bis jetzt noch nicht am Gespräch beteiligt. Ich frage sie nach ihrer Meinung.
„Wenn man zwölf Kinder hat und nicht mehr arbeiten kann, dann muß man gehorchen.“ Ihre Stimme zittert.
Eine junge, sehr hellhäutige Mulattin springt plötzlich vom Stuhl. Sie streckt ihre Hände aus.
„Arbeiten – arbeiten“, ruft sie, „ich kann das Wort heute nicht mehr hören. Ich habe einen Artikel gelesen. In einer feinen Zeitung. Da stand drin, daß die Frauen ihre Natur vergewaltigen, wenn sie ein Recht auf Arbeit beanspruchen. Ja, das stand da: Frauen dürfen nicht arbeiten. Das sei falsch verstandener Fortschritt. Sie sollten den Männern jene Dinge überlassen, für die sie geboren sind. Ihr Frauen seid zu zart und zerbrechlich, hieß es da. Schaut euch doch eure Hände an, die sind geschaffen, um eure Kinder zu streicheln und einen Mann zu liebkosen. Zur Arbeit taugen die nicht. – Schaut euch doch eure Hände an…“
Von den Röcken heben sich langsam die Arme. Die Hände wenden sich nach oben, und die Frauen starren auf die Narben, die Furchen, die steifen Finger. Und plötzlich, ohne ein Wort, strecken sie ihre Hände hilflos uns entgegen. Sie klagen nicht an. Sie fordern nicht. Sie fragen nur. Zwanzig Hände fragen: Warum? – Und ich habe keine Antwort. Es ist unerträglich. Claude hat Tränen in den Augen. Ich hasse meine weißen gewaschenen Finger. – Jetzt muß etwas passieren. Eine Negerin summt vor sich hin. Die Spannung verebbt.
Die Mulattin sagt: „Mehr als tausend Leben lang haben unsere Hände diese Welt ernährt. Niemand hat uns gesagt, daß sie zu fein sind. Schon bevor Jesus, unser Retter, kam, haben wir geschuftet. Und wir schuften weiter, mit dicken Bäuchen, aus denen neue Frauen kommen, die weiterschuften und wieder dicke Bäuche kriegen. Und dann kommt einer von denen, die uns schuften lassen und uns diese dicken Bäuche machen, und sagt: Die feinen zarten Hände sind zu zerbrechlich.“
„Pst“, flüstert die alte Mulattin mit den vielen Falten. „Pst“, macht auch eine andere und zeigt auf die Frau, die mit geschlossenen Augen vor sich hin summt. – Jetzt singen schon zwei. Ein dritte fällt mit schrillem Ton ein. Alle singen. Es ist ein Lied an die Mutter Gottes.
Und wieder heben sich die Hände. Eins. Zwei. Eins, zwei, drei. Eins. Sie schlagen den Rhythmus. Sie trommeln die Stimmen hinauf zum Himmel. Sie werden zart, erregt, ja fast zerbrechlich und danken Gott jubelnd für ihr Leben. Sie jagen die Not davon, mit ihren vom Elend gezeichneten Händen.
Die Frauen des Mittelstandes schleppen ihre Not zum Arzt. Eine Ärztin in Salvador erzählt uns, daß sie mit Krankheiten zu ihr kommen, deren Ursachen oft in psychischer Vergewaltigung zu suchen sind. Wenn diese Frauen ein wenig Geld haben, gehen sie zum Psychiater. Natürlich nie ohne ihren Mann. Er kann es nicht ertragen, daß sich die Seele seiner Frau vor einem anderen öffnet – und sei es zur Genesung. Und wenn der Arzt ihm erklärt, daß er das Zentrum des Konflikts sei, setzt er sich auf das hohe Roß und verbittet sich, daß man ihm Vorschriften mache, wie er seine Frau zu behandeln habe. Von sexuellen Fragen ganz zu schweigen. Darüber spricht man nur unter Männern. Selbst beim Anatomie-Unterricht in den Schulen hört der Mensch beim Blinddarm auf. Wir haben junge Mädchen getroffen, die zusammenbrachen, weil sie plötzlich Frauen wurden und niemand, nicht einmal die eigene Mutter, ihnen gesagt hatte, daß die weibliche Reife mit einem monatlichen Zyklus beginnt. Sie glaubten krank zu sein, auf immer verloren. Mädchen, die um jeden Preis „rein“ gehalten werden müssen, um ihren Marktwert nicht zu verringern, und denen man deshalb die elementarsten Funktionen ihres Körpers verschweigt.
„Ich empfange nicht nur verheiratete Frauen“, erzählt die Ärztin. „Zu mir kommen auch junge Mädchen, die dem Drängen eines Mannes nachgegeben haben und nicht mehr ein noch aus wissen. Se haben gehört, daß Ärzte mit Nadel und Faden die „Schuld“ vertuschen können.
„Und Sie helfen?“
Meine Frage muß einen moralisierenden Unterton gehabt haben, denn die kleine Frau mit den weißen Haaren wir rot vor Zorn.
„Natürlich helfe ich. Glauben Sie, ich würde diese zu Tode verwundeten armen Dinger abweisen und zusehen, wie sie moralisch gesteinigt werden? Man geht doch auch mit einer langen Nase zum Chirurgen, oder wenn ein Unfall das Kinn zerschmettert hat. Lehnt der Chirurg ab? Nein. Und ebensowenig tue ich das. Denn auch hier handelt es sich um einen Unfall, um einen Schönheitsfehler. Ich muß hinzufügen, daß ich nur in extremen Fällen helfe. Wenn es irgendwie möglich ist, überzeuge ich die Mädchen ihre Tat bewußt zu tragen. Ich erkläre ihnen, daß nicht sie schuldig sind, sondern daß einzig und allein unsere archaische Gesellschaftsordnung zu verurteilen ist.“
„Welche Chancen hat ein Mädchen, daß nicht mehr Jungfrau ist, einen Mann zu finden?“
„Wir sprechen nach wie vor vom Mittelstand. In den großen Städten wie Rio und São Paolo macht sich seit einigen Jahre eine gewisse Toleranz bemerkbar. Im Rest des Landes kaum. Sie wissen, daß man sich in Brasilien nicht scheiden lassen kann. Wenn jedoch ein Mann während der Hochzeitsnacht feststellt, daß er nicht der erste gewesen ist, kann er die Lösung der Ehe fordern. Auf dem Lande bedeutet das Mord und Totschlag.“
Nicht gesagt hat die Ärztin, wie die „gewisse Toleranz“ der großen Städte in den meisten Fällen aussieht. Die jungen Mädchen gehen mit Männern ins Bett. Das schon. Aber nur, um einem makabren Tanz um ihre Jungfräulichkeit beizuwohnen. Fast alles ist erlaubt, alles wird gefordert, aber diese letzte Hürde darf nicht genommen werden. Sie bleibt nach wie vor als einzig kontrollierbarer Beweis der „Reinheit“ die Hauptvoraussetzung für eine erfolgreiche Ehe.
Das nennt man Toleranz: Die Braut ist „unberührt“, obwohl ihre Erfahrungen mit Männern kaum hinter denen eines Strichmädchens zurückstehen dürften.
Man könnte annehmen, daß die Angst vor Empfängnis die Grenzen dieser Liebesspiele absteckt. Sicher wirkt sie mit. Ausschlaggebend jedoch bleibt die tief verwurzelte Überzeugung, daß physische Freuden zu den ausschließlichen Vorrechten des Mannes gehören, während die Frau nur Objekt sein darf. Die Natur hat es so gewollt, heißt es. Deshalb beginnt die eigentliche Sünde erst dann, wenn die Frau nicht mehr Mittel ist, sondern zum Partner wird, wenn sie sich nicht mehr ergeben hingibt, sondern erlebend teilnimmt und ihrerseits nach Erfüllung verlangt.
Es ist das alte Lied: Wenn der Mann sich sexuell betätigt, ist er ein Kerl. Tut die Frau es, ist sie ein sündiges Weib. Da jedoch das eine schlecht ohne das andere möglich ist, wird die Welt sorgfältig getrennt in „schlechte Mädchen“ und „gute Frauen“. Mit den einen amüsiert man sich. Die anderen heiratet man.
Lächerliches Brasilien? – Keineswegs. Dort benimmt der Mittelstand sich nur so, wie es unsere Bürger noch vor wenigen Jahrzehnten taten.
„Er hat den Spaß und sie das Kind“; war auch bei uns ein Motto, mit dem man die doppelte Moral rechtfertigte, die Frau ausklammerte und die Vorrangstellung des Mannes begründete.
Heute sieht es zwar an der Oberfläche anders aus: Zwei Weltkriege haben die herkömmliche Moral erschüttert. Die massive Industrialisierung konnte ohne Hinzuziehung der Frau nicht stattfinden. Man mußte sie aus ihrer behüteten Rolle herauslassen und gab ihr mit der materiellen Unabhängigkeit einen Vorgeschmack auf größere Freiheit. Psychoanalyse und Soziologie rissen die Probleme der Frau, der Ehe, der Liebe und Sexualität aus dem Dunkel der Beichtstühle und verqualmter Männerabende ins Licht der freien Diskussion.
Trotzdem sind die alten Grundsätze nicht tot. Sie färben unsere Urteile und bestimmen unser Verhalten, sobald es sich um Frau und Liebe handelt. Auch bei uns klingeln noch viele Wecker, und ein Blick auf Brasilien zeigt, welcher Geist sie aufzieht
„Du bist mein Retter“, murmelte sie und küßte ein kleines Bild, das sie in der hohlen Hand verborgen hielt. „Möge Gott dir zum Siege verhelfen. Mein Leben gehört dir.“
Sie kniete nieder, und Hunderte von Frauen brüllten: „Es lebe Lacerda! – Nieder mit den Kommunisten! – Zurück zu Würde und Freiheit.“
In der einen Hand hielten sie den Rosenkranz, mit der anderen schwangen sie Plakate, die mit großen Buchstaben verkündeten: „Für Gott, Familie und Vaterland.“
Auch Bilder wurden geschwungen. Es waren Vergrößerungen des kleinen Fotos, das die Frau mit dem Schleier soeben küßte. Es stellt Lacerda dar, den Gouverneur von Rio de Janeiro, der sich dort an die Spitze des „Kreuzzuges gegen den Kommunismus“ gestellt hatte und der eigentliche Motor des Staatsstreiches war, der am ersten April in Brasilien zur Militärdiktatur führte.
Datum: 26. 3. 1964. Ort: Recife, Hauptstadt des Nordostens. Wir gehen durch die Reihen der Frauen und fragen: „Warum schreit ihr? Warum betet ihr? Was wollt ihr?“
- „Gott dienen…“
- „Die Kommunisten töten…“
- „Alle, die uns den Weg zu Gott versperren…“
- „Die Ordnung retten, die Gott gewollt hat…“
Die Antworten regnen auf uns. Claude notiert. Ich fotografiere. Das zwingt mich genauer hinzusehen, und ich entdecke Gesichter, wie sie nur ein Alptraum erfinden kann: ausgemergelte Wangen, die nie ein Gefühl zur Glut gebracht hat. Aufgeblasene Backen, die vor Wohlstand, Verachtung und Selbstgefühl bersten. Haßerfüllte Augen, die beten, und bettelnde Blicke, von Haß gezeichnet. – Wo ist die vielbesungene Schönheit der brasilianischen Frauen?
Ich lasse die Kamera sinken und frage:“ Wer seid ihr?“
„Die patriotische Liga zur Verteidigung der Familie und des Glaubens“, antwortet eine kleine magere Frau.
Muß ich noch weiterfragen? Nein. Was ich hier sehe, ist beredt genug: Die reaktionären Kräfte Brasiliens haben ihre Frauen auf die Straße geschickt, um Gott und Familie zu monopolisieren.
„Die Kommunisten kommen nicht durch“, rufen sie. „Nur über unsere Leiber…“
Ich bin froh, kein Kommunist zu sein, und mache mich auf den Weg. Rufe ertönen: „Nieder mit der Reaktion!“ – „Lacerda an den Galgen!“ Es sind junge Stimmen. Und wenn der Lärm auch ebenso groß ist wie eben auf der Straße, der Anblick ist Balsam für die Augen: Junge Mädchen zwischen siebzehn und fünfundzwanzig protestieren gegen die „parfümierten Geschwader“, wie sie die patriotischen Frauenverbände nennen. Schülerinnen und Studentinnen.
Wir fragen: „Was wollt ihr?“
- „Den Fortschritt.“
- „Landreform.“
- „Freiheit für alle.“
- „Eine bessere Gesellschaft.“
- „Ohne Barrieren und Vorurteile.“
„Zu welcher Partei gehört ihr?“
„Zu keiner. Wir sind jung und haben denken gelernt, und wer denkt, kann das Leben nicht mehr annehmen, das man uns vorschlägt. Wir wollen ‘raus in die frische Luft. Alle Unterdrückten müssen frei werden, die Arbeiter, Bauern, die Frauen.“
Diese Forderungen schallen nicht aus den Elendsquartieren. Sie werden von Mädchen formuliert aus bürgerlichem Hause. Es sind die Töchter jener Frauen, die rosenkranzschwingend für die Erhaltung des Alten kämpfen.
In Brasilien werden die Probleme der Frau nur selten offen diskutiert. Die Männer legen Sperrfeuer. Sie wollen ihre Stellung halten und lehnen jede Herausforderung ab. Die herkömmliche Beziehung zwischen Mann und Frau darf nicht in Frage gestellt werden.
Aus diesem Grunde müssen die Frauen auf Umwegen gegen das Patriarchat rebellieren. Verheiratete Frauen rächen sich heimlich in den Armen fremder Männer. Im Betrug erschleichen sie sich die Illusion der Freiheit.
Zurück in Kirche und Küche
Die neue Generation drückt ihre Revolte auf politischer Ebene aus. Wenn die jungen Mädchen „links“ sagen, wenn sie nach Länderreform schreien und das Wahlrecht für alle fordern, dann kämpfen sie für Großmut, Aufgeschlossenheit, für Toleranz und Fortschritt im weitesten Sinne. Wenn sie Schulter an Schulter mit Arbeitern und Bauern soziale Gerechtigkeit fordern, dann übersetzen sie ins Politische ihre eigene Revolte gegen die patriarchalische Ordnung, die auch ihnen das Recht abspricht, über sich selbst zu bestimmen und ganze Menschen zu werden.
Es ist erstaunlich, wie viele junge Mädchen politisch aktiv sind. Gegen den Willen der Eltern. Gegen die Interessen ihrer eigenen Klasse.
Die Professoren der höheren Schulen und Universitäten unterstreichen immer wieder, daß Mädchen intellektuell und menschlich reifer sind als ihre gleichaltrigen männlichen Kameraden. Es scheint, daß ihre innere Unruhe vor einer unsicheren persönlichen Zukunft sie aufgeschlossen macht. Sie werfen sich hungrig auf neue Ideen, während viele junge Männer im gemachten Bett überlieferter Prinzipien eingeschlafen sind.
Die jungen Mädchen wurden besonders im Nordosten Brasiliens eine treibende politische Kraft. Aber die neuen Herren Brasiliens haben wieder reinen Tisch gemacht und jeden auf seinen Platz verwiesen: die Armen in die Armut und die Frauen in Kirche und Küche.
Eine Schicht gibt es in Brasilien, die über all diesen Dingen steht: die wirklich Reichen. Sie können kaum im Gefängnis landen wie die „Linken“ und noch weniger ihren Ruf verlieren wie die normalen Bürger. Ihr Geld gibt ihnen die Möglichkeit, sich außerhalb der Normen des Mittelstandes zu bewegen und die Probleme von sich zu weisen, die ihnen zu schaffen machen.
Sie gleichen hierin den wirklich Armen, die ebenfalls nichts verlieren können und deshalb leben, wie es ihnen Spaß macht. Elend und Reichtum machen hier gleichermaßen die Moral überflüssig. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß die gute Gesellschaft in ihren Palästen genauso durcheinanderliebt wie die Stallbewohner der Vororte. Sie haben sogar oft ebenso viele Frauen und Kinder.
Nur für ihre Töchter stehen sie zur gängigen Moral.
Aber die Töchter haben ihre eigenen Ideen.
Unsere Freundin Regina gehört zu diesen Töchtern. Sie ist zwanzig Jahre alt. In langen Gesprächen erfuhren wir, wie sie sich selbst, ihre Freunde und die Welt der Erwachsenen sieht. Das Tonband gibt das so wieder:
„Ausländer haben hier viel Erfolg. Viele meiner Freundinnen gehen mit ihnen ins Bett. Zu leicht. Mit unseren eigenen Jungens stellen sie sich an. Da verschanzen sie sich hinter Ehre und Keuschheit. Es geht um den Ruf. Bei Ausländern erfährt es niemand. Unsere Jungens prahlen sofort. Deshalb bin ich noch Jungfrau. Ich will nicht, daß einer eines Morgens am Strand erscheint und allen erzählt: Die Regina macht es so, oder so, und so. Nein. Ich hab‘ die Nase voll von unseren Coco-boys, weißt du, so nennen wir die Jungen der guten Gesellschaft: Kakao-Knaben. Wenn die den Mund auftun, dann ist es nur, um Blasen zu machen wie Frösche. Die geben sich alle Mühe. Aber was sollen sie schon sagen. Wir Mädchen lesen viel mehr. Sie gehen schwimmen oder rasen mit Sportwagen durch die Gegend, während wir uns um Politik, Literatur und Kunst kümmern. Aus Snobismus, wenn du willst. Aber wir tun es. Wir stehen fast alle ‚links‘, aus Snobismus natürlich, denn wir sind reich. Aber man kann nicht Sartre, Camus oder Silone verschlingen, ohne davon beeinflußt zu sein. Das heißt, unser Snobismus formt uns gegen unseren Willen.
Natürlich interessieren uns die Jungen. Da können wir unsere Macht spüren. Dafür üben wir schon, wenn wir erst dreizehn sind. Wir stellen uns vor den Spiegel und öffnen die Augen bis zum Nabel. Auch das Gehen will gelernt sein. Wichtig ist dabei, wie sich der Hintern bewegt. Wir sind echt traurig, wenn mit vierzehn noch nicht genug da ist, und blicken eifersüchtig auf die älteren Frauen, die mehr zu bewegen haben. Ich selbst blicke die Männer an, als ob ich ihnen den Himmel auf Erden verspreche. Ich will in ihren Augen lesen: Mensch, ist die phantastisch! Und sie sollen froh sein und sich sagen: Mensch, die will mich. Die ausländischen Frauen sind natürlich sehr böse auf uns. Die finden uns provokant. Ist das verboten?
Mein Vater hat meine Mutter verlassen und eine sehr ordinäre Frau geheiratet. Die kann sich nicht mal richtig schminken. Trotzdem besteht meine Mutter darauf, daß wir sie besuchen. Sie will, daß wir diese Frau gern haben, weil sie die Frau unseres Vaters ist. Der Chef der Familie hat immer recht. Das Gesetz stammt aus den alten Zeiten. Die ersten Männer, die hier herüberkamen, zeugten Kinder mit den Eingeborenen. Als später die Frauen aus Portugal nachkamen, mußten sie sich wohl oder übel an die Gewohnheiten ihrer Männer gewöhnen. Und das hat sich kaum geändert.
Übrigens sind diese zweiten oder dritten Ehen meist illegal. Offiziell kann man sich hier nämlich nicht scheiden lassen. Wenn deshalb ein Mann seine Frau verlassen will, geht er einige Wochen nach Montevideo und erklärt bei der Rückkehr, daß er drüben die Scheidung erwirkt hat. Meistens stimmt das nicht. Aber niemand wird so geschmacklos sein, daran zu zweifeln. Er könnte ja selbst bald in die gleiche Lage kommen. Zwei Drittel der guten Gesellschaft leben so mit zweitem, drittem oder viertem Partner. Das alte patriarchalische System ist nicht tot.
Ham-Ham mit Grenzen
Aber wir haben und geändert. Wir Mädchen. Meine Schwester, die vierzehn ist, erklärt meinem Vater: Wir verstehen sehr gut, daß du eine andere Frau genommen hast. Dein Vater starb früh. Du mußtest Verantwortung übernehmen und konntest dich nicht ausleben wie deine Freunde. Deshalb tust du es jetzt mit dieser billigen Tute. Du siehst, wir verstehen dich sehr gut. Es kommt uns nur etwas kindlich vor.
Unsere Eltern sind wirklich dumm. Sie glauben fast alles, was wir ihnen sagen. Und unsere Mütter sind alles andere als Psychologen. Während wir ernste Bücher über Psychologie studieren, lesen unsere Mütter idiotische Romane. Die gleichen, die sie als junge Mädchen verschlangen. Wie soll der Horizont sich da erweitern? Und wenn sie uns dann etwas vorhalten, antworten wir einfach: Das ist die billige Psychologie deiner Drei-Groschen-Romane. Und was sollen sie erwidern? Es stimmt.
Wir haben es so weit gebracht, daß sie sogar das Ham-Ham verkraften. Ach ja, das kennst du noch nicht. Es ist eine Art Gesellschaftsspiel unter jungen Leuten. Eine ganze Bande geht ins ‚Black Horse‘ oder sonstwohin und trinkt, bis die anderen Gäste gegangen sind. Dann wird das Licht ausgemacht. Und während die Jukebox spielt, amüsieren wir uns. Jungfrau muß man bleiben, oder vorgeben es zu sein. Aber das ist alles.
Am nächsten Morgen sieht man sich am Strand wieder. Wenn dann einer der Spielgenossen glaubt, ein Recht zu haben weiterzustreicheln, irrt der sich. Wir sind wieder die unerreichbaren Mädchen. Du solltest mal sehen, wie klein die dann werden. Und wir, weil wir Frauen sind, triumphieren, denn er hat ja nicht gehabt worauf es ankommt. Wir können uns erlauben, hochnäsig auf ihn herabzublicken, denn wir sind ‚rein‘. Ist das nicht doof? Aber es klappt immer.
Und du behauptest noch, unsere Männer dominieren. Schau dir im nüchternen Morgenlicht die Köpfe der Ham-Ham-Partner an und sage mir dann, wer an der Leine liegt.“
So kann man es auch sehen.