{"id":54031,"date":"2017-03-11T14:08:55","date_gmt":"2017-03-11T13:08:55","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=54031"},"modified":"2020-04-18T12:25:42","modified_gmt":"2020-04-18T10:25:42","slug":"franco-kommt","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/spanien\/franco-kommt\/","title":{"rendered":"Franco kommt"},"content":{"rendered":"

Stern, Heft 39, 26. September 1959
<\/em><\/p>

\u00dcberall in Barcelona begegneten wir der Unzufriedenheit. Die M\u00e4nner der Untergrundparteien sprachen heimlich mit uns \u00fcber ihre Opposition gegen Franco. Die B\u00fcrger sagen es recht offen in Caf\u00e9s und auf der Stra\u00dfe. Die Jugend, sie schrie es aus vollem Halse.
\u201eSag deinen Lesern, sag der ganzen Welt, da\u00df wir Feiglinge sind. Stolze Spanier nennt man uns! Uns, gerade uns, die wir wie kein anderes Volk vor einem Haufen Polizisten in die Hose machen. Waschlappen sind wir, h\u00f6rst du, Prostituierte der Angst, seelische Kr\u00fcppel einer idiotischen Revolution.“
Rafael rannte aufgeregt in seinem Zimmer auf und ab.
Wir waren bei seinem Vater zum Abendessen eingeladen, einem wohlhabenden Industriellen, der mit ruhigen Worten seiner Unzufriedenheit \u00fcber das Franco-Regime Ausdruck gegeben und vor \u00fcberst\u00fcrzten Handlungen gewarnt hatte. Sein Sohn Rafael, ein Student von 25 Jahren, hatte mit verschlossenem Gesicht dagesessen, ohne sich an der Unterhaltung zu beteiligen. Nach dem Kaffee hatte er mich kurzerhand auf sein Zimmer mitgenommen, wo er sich jetzt austobte.
\u201eF\u00fcr ein wenig Ruhe, f\u00fcr die Ruhe und das Schweigen der Gef\u00e4ngnisse verkaufen wir unsere Ehre und das Recht, frei zu sein wie ihr alle. Die Alten protestieren, indem sie schweigen. Aber das gen\u00fcgt nicht. Die Angst vor einer Wiederholung unserer Revolution steckt ihnen noch so in den Knochen, da\u00df sie ganz einfach stumm strammstehen und das Gefasel des Herrn Generals \u00fcber die Gr\u00f6\u00dfe des spanischen Volkes und seine historische, von Gott gegebene Mission als den Rettungsring ihrer W\u00fcrde anbeten und wie Balsam gegen ihr schlechtes Gewissen dr\u00fccken. O, diese Schw\u00e4chlinge! Weil Franco ihnen, den Reichen, alles erlaubt, um noch reicher zu werden, wollen sie uns mit dem Schreckgespenst des B\u00fcrgerkrieges zu Mitschuldigen ihrer Verschw\u00f6rung des Schweigens machen.“
Er warf seine Zigarette zu Boden und trat darauf herum.
\u201eO nein, dieses Ammenm\u00e4rchen vom schrecklichen Bruderkrieg, der Spanien eine Million Tote gekostet hat, kann unsere Gehirne nicht gleichschalten. Unsere Erinnerungen an diese Zeit sind nichts anderes als aufgescheuchte Kinderm\u00e4rchen, zerbrochene Spielzeuge, schwarze Schleier und die von Tr\u00e4nen entstelltem Gesicht unserer \u00e4lteren Schwestern. Solche Bilder k\u00f6nnen uns nicht abschrecken. Tausendmal abschreckender ist das Gesicht des heutigen Spaniens, und da m\u00fcssen wir handeln wir, die wir f\u00fcr die Zukunft verantwortlich sind und – leider auch schon – f\u00fcr die Gegenwart.“ <\/p>

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Francos Frau (rechts) ist weltbekannt als Sammlerin kostbaren Halsschmucks. Sie ist sehr popul\u00e4r. Bittsteller finden bei ihr immer Geh\u00f6r<\/em><\/p>

Ich unterbrach ihn. \u201e Aber die Alten haben gek\u00e4mpft. Egal auf welcher Seite. Sie wissen, wie Blut und Tod aussehen. Und die, die weiterk\u00e4mpfen wollten, endeten im Gef\u00e4ngnis. Man sollte ihnen …“
Mit einer ungeduldigen Handbewegung fegte er meine Worte zur Seite.
\u201eAuch ich war im Gef\u00e4ngnis“, sagte er leise, zweimal schon. – Ja, sieh mich nicht so erstaunt an, ich, das Kind so reicher Eltern, die fr\u00fcher auf der Seite Francos gek\u00e4mpft haben.
Sein Vater war ins Zimmer getreten und hatte schweigend Platz genommen. Ohne sich im geringsten st\u00f6ren zu lassen, fuhr Rafael fort:
„Seit einigen Jahren \u00fcberlassen wir den einzigen spanischen Adelstitel, der nicht besudelt ist – politischer Gefangener – nicht mehr den Arbeitern und Armen, die lautlos verschwinden. Auch wir, die guten B\u00fcrger, sind wieder Spanier geworden. Hinter den Mauern der Gef\u00e4ngnisse sitzen heute ebenso viele von uns wie von den linksgerichteten Parteien. Und wir sind stolz darauf. Wir haben es fertiggebracht, den Se\u00f1orito auszurotten, jenem Begriff des reichen jungen Herrn, der von Mutter und Schwester verh\u00e4tschelt wird bis zum vierzigsten Lebensjahr und nur dem Nichtstun und seinen Launen lebt. Jenen Faulenzer, den eure Literatur zum spanischen Helden gemacht hat . . .“
Er reckte sich auf, als wolle er zeigen, da\u00df er aus einem anderen Holz geschnitzt ist.
\u201eAlle gro\u00dfen politischen Ereignisse der letzten Jahre wurden von uns, von der b\u00fcrgerlichen Jugend, getragen. Sag deinen Lesern auch dies. Erz\u00e4hle ihnen, wie die Universit\u00e4t von Barcelona revoltierte. Aber damals wart ihr alle von der ungarischen Revolution so fasziniert, da\u00df ihr unseren Hilferuf gar nicht geh\u00f6rt habt.“<\/p>

Rafael zog seinen Stuhl heran und setzte sich mir gegen\u00fcber. Seine leidenschaftlichen Augen wurden etwas ruhiger, zufriedener. Er schien gl\u00fccklich, mir auch etwas Gutes \u00fcber das Spanien von heute erz\u00e4hlen zu k\u00f6nnen.
\u201e Vom ersten Tag an war f\u00fcr uns der Aufstand der Ungarn die Erhebung der Sklaven gegen die Tyrannei. Wir f\u00fchlten eine tiefe Verbundenheit mit diesen Menschen von Budapest, nicht etwa weil sie gegen die Kommunisten k\u00e4mpften – das war uns vollkommen egal -, sondern ganz einfach, weil sie den Mut hatten, sich gegen einen Polizeistaat zu erheben. Gleichzeitig f\u00fchlten wir uns besch\u00e4mt, weil wir uns noch nicht gegen unsere Unterdr\u00fccker geworfen hatten wie die ungarische Jugend gegen die russischen Panzer. Wenn wir uns auch sp\u00e4t besonnen hatten, so wollten wir uns doch wenigstens jetzt nicht von den ungarischen Helden besch\u00e4men lassen.
Wir baten den Gouverneur von Barcelona um die Erlaubnis, \u00f6ffentlich unsere Sympathie f\u00fcr Ungarn ausdr\u00fccken zu d\u00fcrfen. Aufrecht, mit zornig verzerrtem Gesicht, schrie er uns an: \u201a F\u00fcr Ungarn oder f\u00fcr Franco, niemand auf die Stra\u00dfe!\u2018
Als wir zur Universit\u00e4t zur\u00fcckkommen, warten dreihundert Studenten. Madolell, ein junger Monarchist, bittet ums Wort: \u201a Da die Stra\u00dfe uns verboten ist, werden wir uns in der Universit\u00e4t einschlie\u00dfen.\u2018 – Als Antwort schickt der Gouverneur die bewaffnete Polizei. Er kommt sogar selbst, um zu verhandeln, und l\u00e4\u00dft die T\u00fcren aufbrechen. Die Polizisten werden mit den Rufen empfangen: \u201aRusos, Rusos\u2018, als seien sie, wie in Budapest, die Vertreter einer fremden Macht. – Viele Studenten werden verhaftet.“
L\u00e4chelnd schaute Rafael zu seinem Vater.
\u201eDiesmal lie\u00dfen uns die Alten nicht im Stich. Die Professoren beschlossen zu streiken, falls die Studenten nicht freigelassen w\u00fcrden. Der Rektor telefonierte nach Madrid und drohte mit seinem R\u00fccktritt. Um schlimmere Folgen zu vermeiden, entschlo\u00df sich der Gouverneur, uns nach viert\u00e4giger Haft zu entlassen.“
Voller Erwartung sah Rafael mich an. Er erwartete Anerkennung.
\u201eNa ja, vier Tagen, die machen einen Mann noch nicht zum M\u00e4rtyrer . . .\u201c, sagte ich.
\u201eDu hast alles Recht zu spotten“, antwortete er ruhig. \u201eGegen die Ungarn sind wir nur Halbstarke der Politik. Aber ich bin noch nicht fertig mit meiner Geschichte.<\/p>

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Francos Bruder (oben mit Bart) beim Begr\u00e4bnis des Diplomaten Foxa.
Trauerfeiern f\u00fcr ber\u00fchmte Leute sind in Spanien mond\u00e4ne Veranstaltungen, bei denen die elegante Welt den Platz vor der Kirche in einen Salon verwandelt. In Madrid geh\u00f6ren Generale zu den reichen Leuten. <\/em>

In Sevilla (Bild unten) sind sie weit weg von eintr\u00e4glichen Aufsichtsratsposten, und selbst Generalst\u00e4bler m\u00fcssen sich zu viert in einen alten Wagen zw\u00e4ngen<\/em><\/figcaption><\/figure><\/div><\/div>
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Seit jenen Tagen – und bis heute – bedr\u00fcckt uns das Beispiel der ungarischen Jugend. Anfang 1957 k\u00f6nnen wir einfach nicht mehr warten. Wir st\u00fcrzen auf die Stra\u00dfe und demonstrieren gegen den Gouverneur, gegen die Falange und Franco.
Wir werden nat\u00fcrlich zusammengekn\u00fcppelt. Unsere wohlersonnene Rache jedoch bringt das Regime ins Wackeln, da sie zeigt, da\u00df ganz Barcelona gegen Franco ist. Wir telefonieren an Zehntausende und fordern sie auf, durch den Boykott der Stra\u00dfenbahnen ihrer Opposition Ausdruck zu geben. Und ganz Barcelona folgt unserem Aufruf.
Professoren, Soldaten, Priester, Beamte, Arbeiter, eine Million Menschen gehen w\u00e4hrend 14 Tagen zu Fu\u00df, als g\u00e4be es diese blau-roten Stra\u00dfenbahnen nicht, die pl\u00f6tzlich zum Symbol des Regimes geworden sind. Der Gouverneur stopft sie mit Angestellten der Tramgesellschaft voll, l\u00e4\u00dft sie von motorisierten Polizisten begleiten, aber auch diese k\u00f6nnen sie nicht sch\u00fctzen gegen die Tintenflaschen, faulen Apfelsinen und Flugbl\u00e4tter, die wie Konfetti aus den Fenstern Barcelonas geworfen werden – erinnerst du dich, Vater, selbst du hast eine kostbare Tintenflasche auf das Dach eines Wagens geworfen.“
Herr Diaz schaute zu Boden wie ein Junge, der bei einem b\u00f6sen Streich erwischt wird. \u201eNa ja, so kostbar war sie nicht – einfaches Kristall“, murmelte er.
Rafael l\u00e4chelte: \u201eSiehst du, Gordian, selbst die m\u00fcden Alten k\u00f6nnen wieder jung werden, wenn wir sie mitrei\u00dfen. – Aber la\u00df mich weiter erz\u00e4hlen:
W\u00e4hrend des Boykotts der Stra\u00dfenbahnen ist die Universit\u00e4t nat\u00fcrlich geschlossen. Als sie wieder ge\u00f6ffnet wird, finden wir die Haupteing\u00e4nge von Polizisten versperrt, die uns durch Nebent\u00fcren zu unseren H\u00f6rs\u00e4len f\u00fchren. Dort werden unsere Professoren gezwungen, sich \u00f6ffentlich gegen uns auszusprechen. Schweigend verlassen alle Studenten die H\u00f6rs\u00e4le und versammeln sich im Hof der Rechtsfakult\u00e4t. Domingo Madolell ist wieder da, der junge Monarchist, der schon das letzte Mal unser Sprecher war. Er steigt auf eine Bank. \u201aDie Universit\u00e4t ist seit jeher der Hort der Freiheit. Wir wollen sie auch hier wieder dazu machen.\u2018 Siebenhundert Studenten jubeln ihm zu. Man singt \u201aGaudeamus igitur\u2018. Madolell l\u00e4\u00dft ein Vaterunser beten.
Mittlerweile hat die Polizei Befehl erhalten, die Studenten aus der Universit\u00e4t zu vertreiben. Mit den Waffen in der Hand geht sie gegen die Studenten vor, die zun\u00e4chst in die Aula zur\u00fcckfluten. Aber dort erwacht ihr Widerstand. Sie ergreifen St\u00fchle und B\u00e4nke. Der Zusammensto\u00df scheint unvermeidlich.
Da ert\u00f6nt wieder die Stimme des kleinen Madolell: \u201aWir sind hier\u2018, sagt er mit ruhiger Stimme, um unseren Professoren den Standpunkt der Studenten klarzumachen, und nicht, um uns mit der Polizei zu schlagen. Ich bitte die Wachen, den Ort zu respektieren, und den Rektor der Universit\u00e4t, uns anzuh\u00f6ren.\u2018 Polizisten und Wachen stehen die festgenagelt. Auch sie sind von der Pers\u00f6nlichkeit Madolells fasziniert. Er hat sich hingesetzt und l\u00e4\u00dft eine Minute verstreichen. Keiner wagt zu atmen. In dem Augenblick, da die Spannung unertr\u00e4glich wird, erhebt er sich: \u201aIch stelle fest, da\u00df keiner unserer Professoren sich hierher bem\u00fcht hat, und danke der Polizei f\u00fcr ihre respektvolle Haltung.\u2018
Alle Studenten jubeln der Polizei zu, und es sieht so aus, als ob die ganze Angelegenheit friedlich beigelegt w\u00fcrde.<\/p>

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Die Studentinnen von Barcelona wollen nicht mehr, da\u00df die glitzernde Fassade Spaniens sie von der Wirklichkeit trennt. Sie k\u00e4mpfen wir ihre m\u00e4nnlichen Kollegen. Sie verteilen Flugbl\u00e4tter, streiken, und nicht selten werden einige von ihnen auch verhaftet. Carmen will nicht mehr Puppe sein, sondern Kameradin<\/em><\/p>

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Als aber am Nachmittag die Studenten die Universit\u00e4t verlassen, werden Madolell und zwanzig seiner Kameraden von einem Schwarm Polizisten umringt und verhaftet. Die Studenten wollen sie befreien. Aber Verst\u00e4rkung wird eingesetzt. Polizisten und Wachen, die Madolell nicht mit angeh\u00f6rt haben, kn\u00fcppeln die Studenten r\u00fccksichtslos nieder. Man h\u00f6rt die Offiziere schreien: \u201aHay que acabar con esto.\u2018 \u201aMan mu\u00df ein Ende machen.\u2018 Das tragische Wort in jedem spanischen Streit: den Gegner erledigen.
Jetzt gibt es keinen Pardon mehr. Wer sich erhebt, widersteht, wird r\u00fccksichtslos niedergeschlagen. M\u00fctter, die vier Stunden lang bangend gewartet haben und ihren verwundeten S\u00f6hnen zur Hilfe eilen, werden verpr\u00fcgelt und ebenfalls in die Lastwagen der Polizei geworfen. Hunderte werden verhaftet. Es gibt kein Verh\u00f6r, keine pr\u00e4zise Anklage, nur Gef\u00e4ngnis und Schweigen. Dreihundert von uns wird es untersagt, sich zum akademischen Examen zu stellen.
Du siehst, Gordian, da\u00df es auch h\u00e4rter hergehen kann. Du siehst, da\u00df wir versuchen, die Achtung vor uns selbst – und vor euch – wiederzugewinnen.“
Rafael strich sich mit zitternden Fingern durch die Haare. Er wandte sich dem alten Herrn Diaz zu: \u201eWas sagst du dazu, Vater.“
Herr Diaz hatte sich erhoben. \u201eIch kann deine Worte nur best\u00e4tigen. Unsere Freunde hier sollen kein falsches Bild bekommen. Ich habe deine Befreiung nach acht Wochen Haft nur deshalb erwirken k\u00f6nnen, weil ich einst in Francos Generalstab Dienst tat und deshalb direkte Beziehungen zum Staatsoberhaupt habe.“<\/p>

Er nahm meinen Arm und f\u00fchrte mich zur T\u00fcr. \u201eIch bin stolz auf unseren Jungen“, fl\u00fcsterte er. \u201eSeine Generation wird uns alle reinwaschen.“
Laut f\u00fcgte er hinzu: \u201eAber jetzt genug von Politik, Rafael, unsere G\u00e4ste wollen auch die angenehmen Seiten Spaniens genie\u00dfen. Komm, la\u00df uns etwas trinken. Wir haben es alle n\u00f6tig.“
Wei\u00df behandschuhte Diener reichten uns in angew\u00e4rmten Gl\u00e4sern peinlich genau temperierten Cognac. Die Dame des Hauses verwickelte uns mit viel Charme in wundervoll nichtssagende Gespr\u00e4che. Wie alle Spanier der gehobenen Klasse es unter sich tun, duzte man Claude und mich seit Anfang des Abends mit einer Nat\u00fcrlichkeit, wie es eben nur in Spanien in diesem Milieu m\u00f6glich ist. Damit zeigte man uns, da\u00df wir dazugeh\u00f6rten, da\u00df wir alte Freunde waren, und alles wurde soviel gem\u00fctlicher, soviel einfacher.
Nach einigen Gl\u00e4sern konnten wir uns schon gar nicht mehr vorstellen, da\u00df wir hier, in dieser Umgebung, bei \u201eRevolution\u00e4ren“ zu Gast waren. Revolution, das sind Hinterstuben und Arbeiterviertel. Wenigstens hatten wir es uns so vorgestellt, als wir hinter die spanischen Fassade schauen wollten. Nun sa\u00dfen wir in bequemen Clubsesseln vor der Fassade, und doch befanden wir uns in der allerersten Reihe.
Wie immer in Spanien, hatte die Nacht keine Stunden. Erst fr\u00fchmorgens erinnerten wir uns, da\u00df wir ein wichtiges Rendezvous hatten: eine Begegnung mit Franco. Nicht, da\u00df er uns eingeladen h\u00e4tte. Nein, wir hatten erfahren, da\u00df General Franco von einer Propagandareise in Aragonien nach Madrid zur\u00fcckkehrte und beschlossen hatte, mit dem Wagen nach Salinas zu fahren, um dort einen Sonderzug zu besteigen. Da Salinas ein wenig bedeutender Ort ist, waren weder eine Rede noch ein offizieller Empfang vorgesehen. Wir konnten also hoffen, da\u00df die berufsm\u00e4\u00dfigen Hurraschreier nicht dabei sein w\u00fcrden und wir somit Zeugen eines unmittelbaren Kontaktes des zwischen dem Staatschef und seinem Volk werden k\u00f6nnten. Wir wollten herausfinden, wie die Stimmung auf dem Land ist. Vielleicht waren die Bauern, die von der Industrie unber\u00fchrte Landbev\u00f6lkerung, seine Anh\u00e4nger und die eigentlichen Tr\u00e4ger der Bewegung.<\/p>

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Nichts dr\u00fcckt die Macht und die Angst des Diktators besser aus als das, was Sternreporter in einer spanischen Stadt beim Eintreffen Francos sahen <\/em><\/figcaption><\/figure><\/div><\/div>

Schon hinter Saragossa merkt man, da\u00df etwas Ungew\u00f6hnliches in der Luft liegt. Auf jedem H\u00fcgel – die Stra\u00dfe windet sich durch eine wellige Landschaft – thront ein Reiter, ein Zivilgardist zu Pferd, der mit seinem Fernrohr den Horizont absucht. Der Anblick dieser Wachen, die mit ihren komischen H\u00fcten wie mittelalterliche Sp\u00e4her aussehen, ist so malerisch, da\u00df wir uns auf einen ebenso malerischen Empfang in altspanischem Stil vorbereiten.
Auf dem Bahnhofsplatz von Salinas warten etwa 300 Menschen. Bauern im Sonntagsstaat, Arbeiter in blauen Arbeitskitteln, Kinder, die wie zum Kirchgang gekleidet sind. Die Zivilgardisten, der Pfarrer, der Chef der st\u00e4dtischen Falange und die Ortsverwaltung schreiten aufgeregt hin und her. Der Bischof, zivile und milit\u00e4rische W\u00fcrdentr\u00e4ger aus Medinacelli, der vornehmen Kreisstadt, schwitzen in der Sonne vor schwarz-goldenen Willkommensspr\u00fcchen.
Wir haben unseren Wagen auf der Hauptstra\u00dfe gelassen und uns unter die Menge gemischt, um Franco einmal zu sehen, wie das Volk ihn erlebt. Wir glauben, unbemerkt in der Menge verschwinden zu k\u00f6nnen, aber schon nach einigen Schritten klopft ein Polizist mir auf die Schulter: „He, Sie, wer sind Sie und was wollen Sie hier?“
\u201eIch bin Tourist und m\u00f6chte einmal Franco fotografieren, um ein Andenken aus Spanien mit nach Hause zu bringen.“
Er mustert mich einen Augenblick. \u201eNa gut – aber Ihren Wagen k\u00f6nnen sie dort nicht stehen lassen. Schnell, weg damit, in f\u00fcnf Minuten kommt der Caudillo!“
Wir haben unsere Kameras geladen und gute Pl\u00e4tze bezogen. Wenn ich jetzt noch den Wagen in eine Nebenstra\u00dfe rangieren mu\u00df, riskieren wir, Franco zu verpassen.
\u201eAber Herr Wachtmeister“, sage ich. \u201eEs ist doch so viel Platz . . .“
\u201eWas hei\u00dft hier Platz!“ br\u00fcllt er. „Wenn ich weg sage, dann mu\u00df er weg.“
Er schaut mich mi\u00dftrauisch an: \u201eOder haben Sie noch nie geh\u00f6rt, da\u00df Autos in den unglaublichsten Augenblicken in die Luft fliegen k\u00f6nnen?“
Ich lasse mir das nicht zweimal sagen und renne davon, da\u00df die Kameras auf meinem Bauch tanzen.<\/p>

Als ich wieder an meinem Platz komme, beginnt die bedr\u00fcckende Szene, die kein Filmregisseur besser h\u00e4tte drehen k\u00f6nnen, um die Macht und die Angst eines Diktators zu veranschaulichen.
Uniformierte Motorradfahrer kommen die Stra\u00dfe herunter. Die Zuschauer recken neugierig die H\u00e4lse. Ein Arbeiter, der einen besonders guten Platz erobert hat – er sitzt hoch oben auf einem Wappen zwischen zwei Fahnen – schreit pl\u00f6tzlich: \u201eDa kommt er!“
Ein offener Cadillac, Modell 1959, nimmt die Kurve, da\u00df die Reifen quietschen. Vier Soldaten sitzen darin, schu\u00dfbereite Maschinenpistolen auf den Knien. Den Zuschauern klappen die Unterkiefer herunter.<\/p>

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Die Menge wartet auf ihren Caudillo, der hier, in Salinas einen Sonderzug besteigen soll. Sie wird von ihrem Staatsoberhaupt nicht viel zu sehen bekommen, daf\u00fcr aber die Zirkusnummer der Leibgarde Francos erleben: Mit Maschinenpistolen bewaffnet rasen Soldaten in vier offenen Cadillacs heran. Sie springen aus ihren Wagen, ohne nur einen Moment die Zuschauer aus den Augen zu lassen <\/em>
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Ein zweiter Wagen folgt, ein dritter, ein vierter. Ohne ihr Tempo zu verlangsamen, rasen die pr\u00e4chtigen Cadillacs um den Platz und streifen die Zuschauer, die sich fluchtartig auf dem B\u00fcrgersteig zur\u00fcckziehen. Das alles geht so schnell, da\u00df wir fast vergessen, die Kameras zu z\u00fccken. Das Karussell dieser m\u00e4chtigen Wagen fegt den Platz leer. Dann fahren sie zu einer Wagenburg auf.
Bevor sie noch zum Stillstand kommen, springen bereits 16 marschm\u00e4\u00dfig gekleidete Soldaten mit Maschinenpistolen herunter und beobachten nach allen Seiten kritisch die Wartenden. –<\/p>

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Der erste von Francos Leibwache schaut nach links, der zweite nach rechts, der dritte nach hinten, der vierte nach vorn. Keine Bewegung in der Menge entgeht ihnen. Es wird still. Nun kann Francos gepanzerter Wagen vorfahren <\/em><\/figcaption><\/figure>


In der Menge ist es unheimlich still. Neben uns haben zwei st\u00e4dtisch gekleidete Herren Platz genommen, die uns l\u00e4ssig \u00fcber die Schulter blicken.
Langsam rollt nun ein geschlossener und gepanzerter Cadillac vor den Eingang des Bahnhofs. Das dort angetretene Empfangskomitee verbeugt sich respektvoll vor dem Wagen, und ein heller Hut, wahrscheinlich Francos, verschwindet im Innern des Bahnhofs.
Eine Frau hat sich aus dem Menge gel\u00f6st: \u201eViva Franco“, schreit sie. \u201eViva, der Retter Spaniens. Viva …“
Die Bauern haben vor Erstaunen ihre M\u00fcnder immer noch offen. Sie schweigen. Die meisten drehen sich einfach um und gehen kopfsch\u00fcttelnd davon. Die anderen, die um keinen Preis umsonst gekommen sein wollen, sto\u00dfen bis zum Bahnsteig vor. Als Franco sich f\u00fcr einige Augenblicke am Fenster seines Abteils zeigt, wird es totenstill. Nur als das Empfangskomitee kr\u00e4ftig winkt, erheben sich einige m\u00fcde Arme.<\/p>

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Francos Volk bleibt stumm, wenn der Diktator sich endlich am Fenster seines Salonwagens  zeigt. Seit Jahren schon sieht die \u00d6ffentlichkeit nur dieses Gesicht, das durch kein L\u00e4cheln erhellt wird,. Seine unmittelbare Umgebung kennt ihn nur noch m\u00fcrrisch und verstockt. Die Minister zittern vor seinen Launen. In seinen Reden grollt wieder Verbitterung und offene Drohung. Franco hat Sorgen. Franco wei\u00df, da\u00df das Volk sich von ihm abwendet, wie diese beiden alten Frauen, deren Gesichter beredte Symbole der spanischen Not sind <\/em><\/figcaption><\/figure><\/div>


Mein Nachbar sch\u00fcttelt den Kopf und murmelt zu sich selbst: \u201eWie jung der noch aussieht – wie sich so was h\u00e4lt. No hay derecho – Es gibt kein Recht auf Erden …\u201c<\/p>

Im n\u00e4chsten Heft:
Andalusische Hochzeit<\/strong><\/p>","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Stern, Heft 39, 26. September 1959 \u00dcberall in Barcelona begegneten wir der Unzufriedenheit. Die M\u00e4nner der Untergrundparteien sprachen heimlich mit uns \u00fcber ihre Opposition gegen Franco. Die B\u00fcrger sagen es recht offen in Caf\u00e9s und auf der Stra\u00dfe. Die Jugend, sie schrie es aus vollem Halse.\u201eSag deinen Lesern, sag der ganzen Welt, da\u00df wir Feiglinge…<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":62146,"parent":54026,"menu_order":1,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":{"_seopress_robots_primary_cat":"","_seopress_titles_title":"","_seopress_titles_desc":"","_seopress_robots_index":"","footnotes":""},"categories":[540],"tags":[],"class_list":["post-54031","page","type-page","status-publish","has-post-thumbnail","hentry","category-spanien","entry","has-media"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54031"}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/types\/page"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/users\/1"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=54031"}],"version-history":[{"count":5,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54031\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":62209,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54031\/revisions\/62209"}],"up":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54026"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media\/62146"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=54031"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=54031"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=54031"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}