{"id":54033,"date":"2017-03-11T14:08:55","date_gmt":"2017-03-11T13:08:55","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=54033"},"modified":"2020-04-18T23:57:20","modified_gmt":"2020-04-18T21:57:20","slug":"kein-platz-an-spaniens-sonne","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/spanien\/hinter-der-spanischen-fassade\/kein-platz-an-spaniens-sonne\/","title":{"rendered":"Kein Platz an Spaniens Sonne"},"content":{"rendered":"

Stern, Heft 41, 10. Oktober 1959
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F\u00fcr Peseten kann man alles kaufen \u2013 aber Peseten zu haben, ist das Privileg jener wenigen Auserlesenen, die an der Macht sind und diese Macht ausnutzen, um noch reicher zu werden. Madrid, Barcelona, Valencia, alle Prunkst\u00e4dte Spaniens sind die Symbole dieser Zusammenballung von Kapital, das man unerbittlich aus dem Lande herauspumpt, um es in unproduktivem Luxus anzulegen. Hinter dieser Fassade leben M\u00e4nner ohne Hoffnung, Frauen mit versteinerten Gesichtern, Kinder ohne Zukunft. Die Herren des Landes haben die Peseten. Aber f\u00fcr das spanische Volk ist das t\u00e4gliche Brot nicht der selbstverst\u00e4ndliche Verdienst getaner Arbeit, sondern der fragliche Erl\u00f6s eines bitteren t\u00e4glichen Kampfes.<\/strong><\/p>

\u201eHier k\u00f6nnen Sie nicht stehen bleiben. Hier ist strengstes Parkverbot.\u201c Wir halten in einer Stra\u00dfe, wo rechts und links, hinten und vorn viele andere Wagen parken. Ich mache den Wachtmeister darauf aufmerksam.
\u201eDie haben besondere Erlaubnis\u201c, schreit er, \u201eSie d\u00fcrfen hier nicht halten.\u201c
\u201eNa sch\u00f6n, wenn es besondere Bestimmungen f\u00fcr Ausl\u00e4nder gibt\u201c, murmele ich vor mich hin und lasse den Motor wieder anspringen. Dabei sehe ich, wie f\u00fcnfzig Meter vor mir ein anderer Polizist neben einem anderen Wagen verhandelt. F\u00fcr den scheint es auch verboten zu sein. Oder nicht? Anstatt wegzufahren, \u00f6ffnet ein Chauffeur in blauer Livree die T\u00fcr, \u00fcberquert die Stra\u00dfe und steuert auf einen elegant gekleideten Herrn zu, der gelangweilt auf einer Caf\u00e9-Terrasse seinen Manzanilla schl\u00fcrft. Sie sprechen einen Augenblick zusammen, dann sehe ich, wie der Herr in seine Tasche greift und dem Chauffeur etwas in die Hand dr\u00fcckt. Kaum ist dieser wieder bei seinem Wagen angekommen, da verschwindet dieses Etwas im Handumdrehen in der Tasche des Polizisten, der nachl\u00e4ssig davonschlendert.
\u201eAch so\u201c, sage ich zu meinem Polizisten, \u201edas h\u00e4tten Sie mir doch gleich sagen k\u00f6nnen. So viel Anschauungsunterricht war gar nicht n\u00f6tig.\u201c
Ich gebe ihm 5 Peseten. Er nimmt sie z\u00f6gernd. Etwas sch\u00fcchtern sagt er:\u201eAusl\u00e4nder kennen die hiesigen Verh\u00e4ltnisse nicht …\u201c Dann dreht er sich ohne ein weiteres Wort um und geht seinem Kollegen nach.
Als wir auf dem B\u00fcrgersteig stehen und suchend die Stra\u00dfe hinunterblicken, steht er wieder neben uns. \u201eWo wollen Sie hin?\u201c fragt er liebensw\u00fcrdig. \u201eZum Luftfahrtministerium.\u201c Er erkl\u00e4rt uns umst\u00e4ndlich den Weg, und pl\u00f6tzlich, ohne \u00dcbergang, sagt er: \u201eSie m\u00fcssen verstehen, ich verdiene 1120 Peseten im Monat (80 DM) …\u201c<\/p>

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In diesem Elend leben Millionen spanischer Kinder. Sie k\u00f6nnen nicht lernen, nicht richtig erzogen werden, nicht einmal richtig spielen. Sehr jung schon h\u00f6ren sie auf, Kinder zu sein, weil auch sie arbeiten m\u00fcssen, um die kleineren zu ern\u00e4hren<\/em><\/figcaption><\/figure>

Ein Gehalt gen\u00fcgt nicht<\/strong><\/p>

Das Luftfahrtministerium geh\u00f6rt zu jenen unz\u00e4hligen Monumentalbauten der letzten 20 Jahre, mit denen Franco, durch die bewu\u00dfte Kopie des Escorialstils, eine ebenso bewu\u00dfte Beziehung zwischen jener ruhmreichen Epoche Spaniens und seinem Regime herstellen will. Als wir eintreten, verlieren wir uns zun\u00e4chst in einem Labyrinth von marmorbelegten Treppen und G\u00e4ngen. Es sieht prunkvoll aus. Weniger prunkvoll ist das B\u00fcro, in das man uns endlich f\u00fchrt, und wo ich nach Manolo Greco frage, dem wir von Freunden aus Barcelona eine Botschaft zu \u00fcberbringen haben.
\u201eHerr Greco ist nicht hier\u201c, lautet die lakonische Antwort.
\u201eAber er arbeitet doch hier.\u201c
\u201eJa, am besten erreichen Sie ihn zwischen 12 und 15 Uhr.\u201c
\u201eIst er denn nicht fest angestellt?\u201c will ich wissen.
\u201eAber nat\u00fcrlich.\u201c
Der Beamte, der mir antwortet, kritzelt in einem Heft und hat bis jetzt nicht einmal aufgeblickt.
\u201eWo ist er denn jetzt zu erreichen?\u201c frage ich wieder.
Der kleine Mann im grauen, abgeschabten Anzug dreht sich m\u00fcde nach mir um. Seine Augen dr\u00fccken kein Interesse, kein Erstaunen, nichts aus.
\u201eIm Kino\u201c, sagt er.
\u201eW\u00e4hrend der B\u00fcrostunden im Kino?\u201c
Sein Gesicht verzieht sich einen Augenblick, als versuche er zu l\u00e4cheln. \u201eJa, aber er sitzt an der Kasse.\u201c Etwas bestimmter, energischer f\u00fcgt er hinzu: Er mu\u00df arbeiten, um seine vier Kinder zu ern\u00e4hren. Hier verdient er nur 1400 Peseten (100 DM).\u201c
Er dreht sich wieder seinem Heft zu und fl\u00fcstert: \u201eIch wasche nachts Autos.\u201c
Jeden Tag begegnen uns Beispiele dieser Art. F\u00fcr das spanische Volk ist das t\u00e4gliche Brot nicht der selbstverst\u00e4ndliche Lohn getaner Arbeit, sondern der fragliche Erl\u00f6s eines t\u00e4glichen, bitteren Kampfes.
Vor dieser Not hat Franco seine Prunkbauten errichtet, um die Gr\u00f6\u00dfe seiner Mission zu demonstrieren. Selbst die Fabriken, die m\u00e4chtiger aussehen als mittelalterliche Festungen, sind zum gro\u00dfen Teil nichts als Fassade. Was sie herstellen, ist f\u00fcr den inl\u00e4ndischen Markt zu teuer und im Ausland nicht konkurrenzf\u00e4hig.
Ein Fiat 1400, in Barcelona hergestellt, kostet 170.000 Peseten (12.000 DM). Ein DKW-Kombi spanischer Fabrikation: 10.000 DM. Eine Isetta: 4600 DM. Und das ist noch billig, im Vergleich mit den eingef\u00fchrten Wagen, bei denen sich einschlie\u00dflich Einfuhrerlaubnis, Trinkgeldern usw. folgende Preise ergeben: Volkswagen = 23.000 DM; Opel Kapit\u00e4n = 32.000 DM; Mercedes 180 = 37.000 DM.
Aber wer soll das bezahlen, wenn die monatlichen Geh\u00e4lter so aussehen:<\/p>

  • Universit\u00e4tsprofessor 380 DM<\/li>
  • Lehrer 100 DM<\/li>
  • Elektriker 280 DM<\/li>
  • Hauptmann 185 DM<\/li>
  • Mechaniker 300 DM<\/li>
  • Angestellter 120 DM<\/li>
  • Bauarbeiter 80 DM<\/li><\/ul>

    und wenn die Grundnahrungsmittel nicht sehr viel billiger sind als in Deutschland.<\/p>

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    Aus diesem Elend f\u00fchren f\u00fcr die meisten nur drei Wege: Priester werden, T\u00e4nzer oder Stierk\u00e4mpfe. Berufe, von denen alle Armen tr\u00e4umen und auf die sie sich von Kindheit an vorbereiten. Aber nur wenigen gelingt dieser Sprung zum Erfolg und aus der Not. Die anderen bleiben, wie ihre V\u00e4ter, ungelernte Arbeiter und verdienen vielleicht eines Tages 100 DM im Monat. Damit k\u00f6nnen sie ihren Kindern wieder keine andere Zukunft bieten als den Traum des fernen M\u00e4rchenlandes der Kanzel, der B\u00fchne und der Arena<\/em><\/p>

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    Sieger an der Futterkrippe<\/strong><\/p>

    \u201eWer das bezahlen soll“, schreit Enrique mich an, der finanzielle Berater einer gro\u00dfen Bank, „\u201edas fragst du mich im Ernst? Spanien nat\u00fcrlich. Das ganze Volk mu\u00df blechen, damit hunderttausend Familien solche Wagen kaufen k\u00f6nnen. Ich geh\u00f6re dazu – zu diesem oberen Hunderttausend. Deshalb kannst du mir glauben, wenn ich dir sage, da\u00df wir das Land so gr\u00fcndlich auspumpen, wie es die Feudalherren fr\u00fcherer Jahrhunderte nicht fertiggebracht haben.“
    Wir schlendern Arm in Arm die Castillana, die Prachtavenue von Madrid, hinunter. Enrique spricht so laut, da\u00df einige Spazierg\u00e4nge sich nach uns umdrehen. Aber er l\u00e4\u00dft sich dadurch nicht st\u00f6ren.
    \u201eDie Sache ist sehr einfach. Mit dem Ende des B\u00fcrgerkrieges, vor 20 Jahren, \u00fcbernahm Franco die Macht. Alle beugten sich vor dem Sieger. Es gab keine Opposition, keinen Widerstand. Das Proletariat und die Republikaner waren mit den Waffen niedergeschlagen worden. Die B\u00fcrger, die Besitzenden, waren gerettet worden. Der Schreck war ihnen derart in die Glieder gefahren, da\u00df sie ihrem Retter alle Rechte zugestanden. Franco schien der gottgesandte, einstimmig angenommene F\u00fchrer.
    In Wirklichkeit wurde er der Schiedsrichter zwischen zwei Gruppen, die zwar gemeinsam den Krieg gewonnen hatten, sich aber unvers\u00f6hnlich gegen\u00fcberstanden. Einerseits die faschistische Falange mit ihrer Forderung nach sozialer Revolution; andererseits die Konservativen, die Monarchisten und die Kirche, die sich auf das Heer st\u00fctzen und jede soziale Reform ablehnen. Da Franco keiner der feindlichen Tendenzen den Vorrang geben konnte, ohne seine eigene Stellung zu gef\u00e4hrden, spielte er sie geschickt gegeneinander aus. Damit blieb er bis heute das entscheidende Z\u00fcnglein an der Waage.
    Aber was n\u00fctzt es, Sieger zu sein, wenn man seinen Sieg nicht auswerten kann? Da sie es politisch nicht durften, gab es nur einen Weg: reich werden. So reich werden, da\u00df einem die ganze Politik egal sein kann und es im Grunde nur noch eine politische Richtlinie gibt: noch reicher werden, um Gottes willen nichts tun, was die goldenen Futtert\u00f6pfe ins Wanken bringen kann. So gelang es Franco, ihren politischen Eifer zu d\u00e4mpfen und ihren Streit zu schlichten, indem er ihnen allen erlaubte, sich die Taschen vollzustopfen.
    Eine besondere Begabung ist dazu nicht n\u00f6tig, wenn die Wirtschaft gleichgeschaltet ist und man selber am Dr\u00fccker sitzt. So wurden kleine Minister zu Gro\u00dfgrundbesitzern, arme Parteisekret\u00e4re zu Bankiers, unterbesoldete Gener\u00e4le zu Industriekapit\u00e4nen.
    Als einige besorgte M\u00e4nner Franco vor den katastrophalen Folgen einer solchen Korruption warnten, antwortete er: \u201eDiese Generation hat genug unter dem Krieg gelitten. Es ist nur recht, da\u00df sie nun den Sieg genie\u00dft …“<\/p>

    Kennen Sie Gana?<\/strong><\/p>

    Enrique dreht sich pl\u00f6tzlich um. \u201eEntschuldige mich einen Augenblick, ich bin gleich wieder da.“
    Im Laufschritt holt er zwei junge Frauen ein, die an uns vorbeigegangen waren, und spricht eindringlich auf sie ein. Ich glaube zun\u00e4chst, da\u00df es sich um Bekannte handelt, die er begr\u00fc\u00dfen will. Aber warum wenden sie dann ostentativ ihre K\u00f6pfe von Enrique ab?
    Enrique scheint davon nicht im geringsten ber\u00fchrt. Er bleibt ihnen dicht auf den Fersen. Als ich schon anfange, mich seiner Zudringlichkeit wegen zu genieren, ruft er mir zu allem \u00dcberflu\u00df noch zu: „Gordian, komm mir zu Hilfe. Diese M\u00e4dchen sind gef\u00fchllos wie Scharfrichter.“
    Ich bin so lange nicht mehr in Spanien gewesen und nicht lange genug wieder hier, um dieses Spiel normal zu finden. Ich wei\u00df zwar, und die schmunzelnden Zuschauer beweisen es, da\u00df es ein g\u00e4ngiges, lustiges Spiel ist, an dem keiner Ansto\u00df nimmt, am wenigsten die beteiligten M\u00e4dchen.
    Als ich sch\u00fcchtern und ein wenig vorwurfsvoll den Kopf sch\u00fcttele, schreit Enrique \u00fcber die Stra\u00dfe:
    \u201eAch, ihr Ausl\u00e4nder! Auf euch ist nie Verla\u00df. Du kannst doch einen Freund nicht in der schlimmsten Situation seines Lebens im Stich lassen.“
    Die M\u00e4dchen k\u00f6nnen ein L\u00e4cheln nicht verkneifen. Enrique tut, als ob er es nicht s\u00e4he.
    \u201eSchau her“, ruft er, \u201ewie soll ich allein diesen wundervollen, aber ach so kalten Statuen beibringen, da\u00df sie in diesem Augenblick das zartf\u00fchlendste Herz von Madrid mit F\u00fc\u00dfen treten.“ Er greift sich an die Brust. \u201eKomm, hilf mir. Sag du’s ihnen. Bist du Journalist oder bist du keiner?“
    Wenn man mir mit beruflichem Ehrgeiz kommt, kann ich nat\u00fcrlich nicht Nein sagen. Mit langen Schritten hole ich die Gruppe ein.
    \u201eEnrique ist das z\u00e4rtlichste Wesen der Welt“, sage ich trocken.
    \u201eAber nein, Gordian, nicht so“, wettert er, \u201edu mu\u00dft etwas nordische Romantik mitbringen, die steht im Augenblick hier ganz besonders hoch im Kurs. Ich \u00fcbernehme die Rolle des leidenschaftlichen Spaniers, und du wirst sehen, wie unsere Mischung diese Eisberge zum Schmelzen bringt.“
    Mittlerweile haben die beiden M\u00e4dchen es ohne jeden Protest erlaubt, da\u00df wir neben ihnen dahinbummeln. Einer links. Einer rechts. Es kostet sie einige M\u00fche, ernst zu bleiben und doch bringen sie es fertig, sich so zu benehmen, als seien wir Luft. Sie sind beide sehr h\u00fcbsch. Beide blond. Von jenem warmen, venezianischen Blond, da\u00df wie Altgold gl\u00e4nzt und die schwarzen Augen umso dunkler erscheinen l\u00e4\u00dft. Zwanglos f\u00fchren sie ihre Unterhaltung weiter, w\u00e4hrend Enrique und ich uns \u00fcber ihre K\u00f6pfe hinweg zurufen, wie sch\u00f6n sie sind.
    Erst als sie pl\u00f6tzlich vor einem Haus haltmachen, merken wir, da\u00df wir seit langem die Castillana verlassen haben. Sie gehen zu T\u00fcr. Wir bleiben stehen. Als wir h\u00f6flich gute Nacht w\u00fcnschen, drehen sie sich beide kurz um und gr\u00fc\u00dfen mit einem fl\u00fcchtigen L\u00e4cheln.
    \u201eSo“, sagt Enrique, \u201enormalerweise m\u00fc\u00dften wir jetzt jeden Abend um diese Stunde hierherkommen, um vielleicht nach dem zehnten Mal mit ihnen sprechen zu k\u00f6nnen. Aber die jungen Damen haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Ich kenne dieses Haus. Der Fahrstuhl ist vorsintflutlich. Da kann alles passieren. Komm.“
    Wir rasen die Treppe hinauf, da\u00df uns der Atem ausgeht. Im dritten Stock h\u00f6ren wir den Fahrstuhl ankommen. Enrique ergreift die T\u00fcr und \u00f6ffnete sie mit einer gro\u00dfen Verbeugung. – Die beiden M\u00e4dchen brechen in schallendes Gel\u00e4chter aus.
    \u201eHas ganado“, sagt die eine, \u201eDu hast gewonnen.“
    Striche untenIch bin Enrique“, antwortet er.
    Striche untenIch hei\u00dfe Aurora“, sagt sie. \u201eAber jetzt m\u00fc\u00dft ihr schnell verschwinden.“
    \u201eUnd was hast du nun erreicht?“ frage ich Enrique, als wir wieder vor dem Haus stehen.
    Er l\u00e4chelt mich an, voller Nachsicht und Mitleid. \u201eOh, ihr unverbesserlichen Sachlichkeitsnarren. – Zun\u00e4chst einmal habe ich eine halbe Stunde lang den Ernst des Lebens vergessen. Ich habe wohltuende geistige Gymnastik getrieben, indem ich mir das Gehirn mit Albernheiten sauber gefegt habe. Dabei habe ich ein entz\u00fcckendes M\u00e4dchen kennengelernt, mit dem ich von nun an auf der Stra\u00dfe plaudernd darf. Im \u00fcbrigen hatte ich genug davon, \u00fcber Politik zu reden. ‚No me dava la gana. – Ich hatte keine \u201a gana‘.“
    Wenn ein Spanier von \u201egana\u201c redet, wird jedes Argument sinnlos. Gana ist weder Lust noch Laune noch Wunsch, nichts, was dem Willen untersteht oder durch \u00e4u\u00dfere Umst\u00e4nde zu beeinflussen w\u00e4re. Man hat sie oder man hat sie nicht. Sie ist ein pl\u00f6tzlicher Impuls, etwas zu tun oder es nicht zu tun. Ein Befehl, einen Mu\u00df, dem man nicht entrinnen kann und das keine Rechtfertigung verlangt.
    \u201eCada uno hace lo que le da la gana“ (jeder lebt nach seiner Gana), ist nicht nur ein g\u00e4ngiges Sprichwort, sondern das Recht, das jedem Spanier zuerkannt wird, diesem mysteri\u00f6sen Impuls zu leben. Sie ist der Ausdruck der unabh\u00e4ngigen Pers\u00f6nlichkeit eines jeden.
    Als die spanische Legion mit den deutschen Truppen in Ru\u00dfland k\u00e4mpfte, fand der deutsche Generalstab sie eines Morgens weit hinter den feindlichen Linien und mu\u00dfte starke Verb\u00e4nde einsetzen, um die Spanier vor der Vernichtung zu retten. Dem spanischen Kommandanten war \u00fcber Nacht die Gana gekommen, anzugreifen. – Auf die Dauer wurde diese Gana strategisch so untragbar, da\u00df die spanische Legion von der Front abgezogen werden mu\u00dfte.
    Vor vielen Jahren sa\u00df ich einmal mit einem Oberst der spanischen Luftwaffe in Valencia in einer Bar. Wir sprachen \u00fcber die Ehe. Pl\u00f6tzlich sprang er auf. \u201eIch mu\u00df mein Junggesellenleben aufgeben“, rief er. \u201eIch werde die erste Frau heiraten, die durch diese T\u00fcr kommt.“ Es war eine Prostituierte. Er machte sie zu seiner Frau \u2013 porque le dava la gana.
    Gana war es auch, die Enrique pl\u00f6tzlich hinter den M\u00e4dchen herlaufen lie\u00df.<\/p>

    Caf\u00e9haus – das Parlament der Opposition<\/strong><\/p>

    Ich schlendere also mit Enrique langsam wieder die Castillana hinauf. Es ist Mitternacht. Sehr fr\u00fch f\u00fcr einen spanischen Sommerabend. Es ist die Stunde, zu der Kinderm\u00e4dchen mit wei\u00dfen Piqu\u00e9kleidern und von Goldnadeln gehaltenen Spitzenh\u00e4ubchen prinzipiell in Spitzen gewickelte Kinder in englischen Landauern spazieren fahren. Es ist auch die Stunde der Tertulia.
    Tertulia ist ein ebenso un\u00fcbersetzbarer Begriff wie Gana. Der Stammtisch kommt ihr vielleicht am n\u00e4chsten. M\u00e4nner sitzen um Caf\u00e9tische und sprechen stundenlang \u00fcber die Ereignisse des Tages, \u00fcber Politik und die Skandalgeschichten der Stadt. Man geh\u00f6rt zu einer Tertulia, wie man zu einem Club geh\u00f6rt (ohne nat\u00fcrlich Eintrittsgeld zu zahlen), oder zu einer Sekte.
    Im Caf\u00e9 G. ist die Tertulia am\u00fcsanter als irgendwo anders. Hier treffen sich t\u00e4glich Maler, Schriftsteller, Rechtsanw\u00e4lte und Aristokraten, die zur intellektuellen Elite Spaniens geh\u00f6ren.
    \u201eDie werden Gesichter machen, wenn sie dich sehen“, sagt Enrique. \u201eIch habe nicht verraten, da\u00df du wieder hier bist.“
    \u201eSind es immer noch dieselben?“
    \u201eNat\u00fcrlich. Wo k\u00e4men wir hin, wenn wir nicht wenigstens unsere Tertulia h\u00e4tten, um frei reden zu k\u00f6nnen?“
    Wahrhaftig, dort sitzen sie, wie vor zehn Jahren. Fernando, der Anwalt, der mittlerweile ber\u00fchmt geworden ist durch seine sensationellen Pl\u00e4doyers. Paco, der Psychiater, Spezialist f\u00fcr bei\u00dfende Anekdoten. Jos\u00e9, der Maler, der sich von Zeit zu Zeit den Luxus leistet, die Mauern der H\u00e4user mit politischen Karikaturen zu bepinseln und daf\u00fcr ins Gef\u00e4ngnis zu gehen. Viktor, der „rote“ Graf, der Diplomat.
    Wie wohl es tut, Spanien wiederzufinden, diese gescheiten M\u00e4nner, die an der Spitze der internationalen Elite stehen w\u00fcrden, wenn Franco es erlaubte, ihren Ruf \u00fcber die Grenzen dringen zu lassen!
    Wir umarmen uns. Das Caf\u00e9 G. hallt wider von den Schl\u00e4gen, die ich auf meine Schultern bekomme.
    \u201eMensch, da bist du wieder. Was f\u00fcr Neuigkeiten bringst du?“
    Sie wollen wissen, wie es in Frankreich aussieht, in Deutschland, in der ganzen freien Welt, zu der sie nicht geh\u00f6ren und \u00fcber die sie nur wenig aus der gleichgeschalteten Presse erfahren.
    \u201eHast du uns B\u00fccher mitgebracht, die wir hier nicht lesen d\u00fcrfen, Zeitungen, die verboten sind?“
    Ich mu\u00df erz\u00e4hlen, bis mir der Atem ausgeht. Enrique kommt mir zu Hilfe. \u201eNun la\u00dft ihn doch in Ruhe. Berichtet ihm lieber, wie es bei uns aussieht. Daf\u00fcr ist er doch hier, damit er den Leuten da drau\u00dfen sagen kann, was Franco aus dem sch\u00f6nen Spanien gemacht hat.“
    \u201eDas Paradies der Schieber“, sagt Viktor lachend.
    \u201eDu \u00fcbertreibst.“
    \u201eNur teilweise. Gemessen am persischen, s\u00fcd- oder mittelamerikanischen Gepflogenheiten, wo weder moralische Bedenken noch das Volkswohl entscheidend sind, sondern die Macht nichts anderes bedeutet als die Eroberung wirtschaftlicher Positionen, von denen aus man sich selbst ungest\u00f6rt bereichert, ist hier nat\u00fcrlich alles vollkommen normal und vertretbar und sogar wohltuend besser. Wenn du uns aber mit England vergleichst oder mit Deutschland, wo Leute ihres Amtes enthoben werden oder ins Gef\u00e4ngnis wandern, weil sie sich verleiten lie\u00dfen, von irgendeiner Firma ein Geschenk anzunehmen, dann m\u00fc\u00dften hier viele Beamte, die meisten Gesch\u00e4ftsleute und Industriellen sofort verhaftet werden, denn die spanische Wirtschaft ist in allen ihren Ver\u00e4stelungen, vom Minister bis zum B\u00fcrovorsteher, in erster Linie ein gro\u00dfer Markt, auf dem man Einflu\u00df kauft oder verkauft.
    Um es krasser auszudr\u00fccken: Heute kannst du Kenntnisse haben, Diplome, Kohlen, Stahl, Apfelsinen oder was du willst, du kannst der T\u00fcchtigste unter den T\u00fcchtigen sein – wenn du keinen Einflu\u00df hast, bleibst du ein armer Mann. Einflu\u00df ist der gesuchteste Artikel unserer Wirtschaft. Deshalb ist er so teuer.“
    Enrico unterbricht ihn:
    \u201eWenn Franco Ministerposten umbesetzt oder sonstige \u00c4nderungen in der Regierung vornimmt, dann fragen wir uns nicht, wie ihr es in eueren demokratischen L\u00e4ndern tut, welche politische Tendenz diese M\u00e4nner vertreten, sondern ob wir sie pers\u00f6nlich kennen oder nicht. Und sollten sie nicht zu unseren direkten Bekannten geh\u00f6ren, dann telefonieren wir so langen unsere Freunde, bis wir einen gefunden haben, der gute Beziehungen zu den neuen M\u00e4nnern hat. Erst dann k\u00f6nnen wir beruhigt zu Bett gehen. Finden wir niemanden, dann sieht es b\u00f6se f\u00fcr unsere Gesch\u00e4fte aus.“<\/p>

    Wirtschaftspartisanen<\/strong><\/p>

    \u201eIhr macht Gesch\u00e4fte?“ frage ich ungl\u00e4ubig. „\u201ech kenne euch gar nicht wieder. Ihr redet so, als ob ihr all dies guthei\u00dfen und t\u00fcchtig mitmachen w\u00fcrdet.“
    Schallendes Gel\u00e4chter antwortet mir.
    \u201eUnd wie wir mitmachen“, ruft Jos\u00e9.
    \u201eHast du schon meinen Wagen gesehen, Mercedes 180. Glaubst du, so was bekommt man geschenkt?“
    \u201eNun \u00fcbertreibe nicht gleich.“ Mit ernster Stimme versucht Enrique den Heiterkeitsausbruch zu d\u00e4mpfen. \u201eGuthei\u00dfen tun wir das nat\u00fcrlich nicht. Das wei\u00dft du. Aber leben wollen wir trotzdem. Daf\u00fcr m\u00fcssen wir wohl oder \u00fcbel die Spielregeln annehmen, die man uns vorschreibt. Sonst k\u00f6nnen wir uns gleich umbringen.
    \u201eIch bin Anwalt“, versucht Fernando zu erl\u00e4utern, \u201eaber mein Geld verdiene ich nur zu einem geringen Teil in Gerichtss\u00e4len. Da ich einen Vetter im Wirtschaftsministerium sitzen habe und einen Schwager im Industrieinstitut, haben mich einige Firmen, die keine besseren Verbindungen haben, zu ihrem Rechtsberater gemacht. Meine Arbeit besteht darin, da\u00df ich meinen Verwandten f\u00fcr Genehmigungen, Einfuhrerleichterungen usw. Schmiergelder \u00fcberbringe und nat\u00fcrlich selbst f\u00fcr diese Boteng\u00e4nge f\u00fcrstlich bezahlt werde.“ Mit etwas trauriger Stimme f\u00fcgte er hinzu: \u201eDu siehst, da\u00df sich viel ge\u00e4ndert hat.“
    Jos\u00e9, der Maler, hat bis jetzt stumm zugeh\u00f6rt. Inzwischen ist er bei seinem siebten Cognac angekommen, und bei jedem Glas wird sein Gesicht finsterer.
    \u201eJa“, st\u00f6\u00dft er m\u00fcrrisch hervor, \u201eund um dir selber vorzugaukeln, da\u00df du noch ein anst\u00e4ndiger Kerl bist, machst du die brillantesten Pl\u00e4doyers und gehst jeden Tag zur Messe. So gehen wir alle zugrunde: mit einer Hand auf der Bibel, mit der anderen im Dreck. Manolo – noch einen Cognac“, ruft er zur Theke hin\u00fcber.
    \u201eH\u00f6r zu, Gordian.“ Er packt mich am Arm. \u201eEs ist mir ganz egal, was dieses Regime politisch oder sozial aus uns macht. Das ist schon lange nicht mehr wichtig, verstehst du. Aber da\u00df es uns alle dazu verurteilt, moralische Kr\u00fcppel zu werden – das k\u00f6nnen wir ihm nicht verzeihen. Oder? \u2026 \u201c Er schaut drohend von einem zum andern. Alle sind ernst geworden. Kein antwortet. Jos\u00e9 leert sein Glas in einem Zuge.
    Man spricht uns von Glauben, von Moral, man mi\u00dft die Badehose mit dem Zentimeterma\u00df aus, man pocht auf spanische Ehre und christliches Gewissen und zwingt das Volk damit in die Knie. Und wenn es aufblickt, was sieht es: L\u00fcge, Betrug, Schwindel – und selbst Sittenlosigkeit, wie du sie dir kaum vorstellen kannst.“
    \u201eDa hat er recht.“ Paco, der Psychiater scheint pl\u00f6tzlich aufzuwachen. Seine Augen blinzeln malizi\u00f6s. \u201eIn Paris gab es doch diesen Skandal der \u201a Balletts roses\u2018, du wei\u00dft: ber\u00fchmte Politiker mit jungen M\u00e4dchen usw. In Madrid gab es vor nicht sehr langer Zeit einen \u00e4hnlichen Skandal. Die Presse schrieb nat\u00fcrlich kein Wort dar\u00fcber, wie immer, wenn es sich um hohe Herren handelt, aber die betroffenen V\u00e4ter schrien so laut und machten Miene, die Ehre ihrer T\u00f6chter und S\u00f6hne mit Messer und Revolver zu r\u00e4chen, da\u00df die Polizei diskret einschreiten mu\u00dfte. Es gab nat\u00fcrlich keine Verhaftungen, keine Prozesse. Alles wurde vertuscht. Es gab nur einen Toten, und das auch nur aus Zufall. Als n\u00e4mlich die Polizei an die T\u00fcr des Hauptbetroffenen klopfte, um ihm nahezulegen, das Land f\u00fcr einige Zeit zu verlassen, glaubte er, es sei einer der wutentbrannten V\u00e4ter, und jagte sich aus Angst eine Kugel durch den Kopf.“
    \u201eEs gibt auch lustige Geschichten, die ebenso gut die Situation erkl\u00e4ren“, unterbricht Viktor. \u201eEin hoher Beamter des Wirtschaftsministeriums erhielt zu Weihnachten so viele Geschenke, da\u00df er gezwungen war, neben seinem schon recht sch\u00f6nen Haus eine Villa zu mieten. Er f\u00fcllte das Parterre und eine Etage mit dem Porzellan, M\u00f6beln, Stoffen, Silberplatten, Goldbestecken und Teppichen, die seine \u201aKunden\u2019 ihm zugeschickt hatten. Die Geschenke an Lik\u00f6ren und Weinen waren jedoch zu zahlreich, um von diesen Ehrenmann selbst im Laufe eines Jahres getrunken zu werden. Er verkaufte sie an seinem Weinh\u00e4ndler f\u00fcr 80.000 Peseten (beinahe 6000 DM).“
    \u201eIch finde das gar nicht komisch“, knurrt Jos\u00e9.
    \u201eDu mu\u00dft verstehen“, wendet sich Fernando an mich, Jos\u00e9 ist uns b\u00f6se, weil wir dieses Spiel mitmachen. Aber es hat keinen Sinn, der Freiheit \u00fcber einem Glas Cognac nachzujammern oder unserer Revolte durch geniale Wandmalereien Ausdruck zu geben, wie er es tut. Die romantische Epoche des Widerstandes ist endg\u00fcltig vorbei. Sie war ergebnislos. Mit Franco k\u00f6nnen wir nur dann fertig werden, wenn wir uns selbst starke Positionen im Innern seines Systems erobern. Wir tun es. Bewu\u00dft. Zynisch.“<\/p>

    Lesen Sie im n\u00e4chsten Heft:
    Kanzel, Tasca und Arena<\/strong><\/p>","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

    Stern, Heft 41, 10. Oktober 1959 F\u00fcr Peseten kann man alles kaufen \u2013 aber Peseten zu haben, ist das Privileg jener wenigen Auserlesenen, die an der Macht sind und diese Macht ausnutzen, um noch reicher zu werden. Madrid, Barcelona, Valencia, alle Prunkst\u00e4dte Spaniens sind die Symbole dieser Zusammenballung von Kapital, das man unerbittlich aus dem…<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":62264,"parent":55794,"menu_order":0,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":{"_seopress_robots_primary_cat":"","_seopress_titles_title":"","_seopress_titles_desc":"","_seopress_robots_index":"","footnotes":""},"categories":[540],"tags":[],"class_list":["post-54033","page","type-page","status-publish","has-post-thumbnail","hentry","category-spanien","entry","has-media"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54033"}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/types\/page"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/users\/1"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=54033"}],"version-history":[{"count":5,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54033\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":62279,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54033\/revisions\/62279"}],"up":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/55794"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media\/62264"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=54033"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=54033"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=54033"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}