{"id":54034,"date":"2017-03-11T14:08:55","date_gmt":"2017-03-11T13:08:55","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=54034"},"modified":"2020-04-19T00:50:24","modified_gmt":"2020-04-18T22:50:24","slug":"kanzel-tasca-und-arena","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/spanien\/hinter-der-spanischen-fassade\/kanzel-tasca-und-arena\/","title":{"rendered":"Kanzel, Tasca und Arena"},"content":{"rendered":"

Stern, Heft 42, 17. Oktober 1959
\n<\/em><\/p>\n

„Ich bin Zigeunerin reinster Rasse. Hier, sieh meine Haut, meine Augen, meine Haltung.“
\nPepita strafft ihre Gestalt. Sie spannt ihre H\u00fcften und wird in einer Sekunde zum Urbild der Zigeunerin, deren Silhouette den Frauentyp ganz Spaniens \u00fcber Jahrhunderte geformt hat und heute noch bestimmt.
\nWie bei uns der Film ein weibliches Sch\u00f6nheitsideal schuf, dem alle jungen Frauen nachstreben, so hat in Spanien die tanzende, singende, leidenschaftliche Zigeunerin frauliche Formen und Haltungen entscheidend beeinflu\u00dft. Hier ist der Umfang des Busens nicht wichtig, sondern die stolze Art, den Oberk\u00f6rper zu tragen. Hier ist die schlanke Taille ohne Belang, es z\u00e4hlt der Schwung der H\u00fcften und des Schenkels. Die flache Sch\u00f6nheit des Nordens ist verp\u00f6nt. Lange Beine, schmale H\u00fcften und wohlgeformte Br\u00fcste erlauben zwar den nordischen Frauen eleganter zu sein als ihre spanischen Schwestern, sie regen jedoch die Fantasie des Spaniers nicht im geringsten an. F\u00fcr ihn mu\u00df eine Frau H\u00fcften haben und Schenkel, deren Formen bei jeder Bewegung verlockend unter dem Kleid spielen. Dabei mu\u00df sie ganz feine Fesseln haben – ein Zeichen guter Rasse – und winzige F\u00fc\u00dfe (zwischen Gr\u00f6\u00dfe 34 und 36), um durch diese zierliche Zerbrechlichkeit seine zarte Seite anzur\u00fchren, sein Verlangen, ritterlicher Besch\u00fctzer zu sein.
\nPepita hat unglaublich feine Fesseln. Langsam schiebt sie einen Fu\u00df vor und h\u00e4mmert mit ihrem Absatz den Rhythmus eines Fandangos. Ihr stolzer Blick ist schwer zu ertragen. Das ist keine Koketterie mehr, sondern Herausforderung, keine Erotik, nein, Hochmut einer Rasse, die gelassen alle Schimpfworte hinnimmt, wie Diebe, Bettler, Heuchler – weil sie \u00fcberzeugt ist, allein den einzig wahren Sinn des Lebens bewahrt zu haben: die Leidenschaft und die Liebe.
\nPepita w\u00fcrde mir ohne jede Hemmung Uhr und Brieftasche stehlen, sie w\u00fcrde betteln gehen oder Meineide schw\u00f6ren, weil sie \u00fcberzeugt ist, sich einem ewigen Gesetz verschrieben zu haben, das ihr erlaubt, alle von Menschen geschaffenen Gesetze mit F\u00fc\u00dfen zu treten. Und weil sie alles verachtet, was nicht von Zigeunern stammt.<\/p>\n

Sie setzte sich zu uns. „Glaubst du mir jetzt, da\u00df ich Zigeunerin bin?“
\n„Und ob ich dir glaube“, sage ich und st\u00fcrze einen Tio Pepe hinunter. „Eindrucksvoller konntest du es mir gar nicht beweisen.“
\n„O doch“, antwortet sie mit einem malizi\u00f6sen L\u00e4cheln. „Aber dar\u00fcber wollen wir lieber nicht reden.“
\n„Willst du was trinken?“
\nSie ist pl\u00f6tzlich entspannt. Ihre Schultern sind nicht mehr so stolz nach hinten geworfen. Ihre Arme ruhen l\u00e4ssig auf dem Tisch. Die Verwandlung ist erstaunlich. Vor mir sitzt ein kleines l\u00e4chelndes siebzehnj\u00e4hriges M\u00e4dchen, das nach einer Limonade verlangt.
\nWir sitzen in einer Tasca in Triana, dem Zigeunerviertel von Sevilla. Eine Tasca ist eine gew\u00f6hnliche Kneipe, in der man trinkt. In einigen gibt es, wie hier, einen Gitarristen und zwei oder drei Zigeunerinnen, die Flamenco tanzen. Auch ein S\u00e4nger geh\u00f6rt oft dazu. Diese Tasca ist nicht f\u00fcr Touristen. Hier ist man unter sich. Manolo Herrera, ein Zigeuner, mit dessen Familie ich einmal w\u00e4hrend drei Wochen durch Andalusien gewandert bin, und der mir seitdem jedes Jahr p\u00fcnktlich zu Weihnachten eine Postkarte schickt, hat mich hierher gebracht, um mir die Tanzk\u00fcnste seiner Nichte Pepita zu zeigen.
\n„Die hat Rasse, was?“ sagt er voller Bewunderung. „Erinnerst du dich an das kleine sechsj\u00e4hrige M\u00e4dchen, das damals mit uns reiste und soviel Geld einbrachte, wenn es in den Stra\u00dfen tanzte? Das war Pepita. Jetzt ist sie eine Frau“, f\u00fcgt er stolz hinzu. „Y que mujer! – und was f\u00fcr eine Frau!“
\nEine kleine \u00e4ltliche Frau n\u00e4hert sich unserem Tisch. Sie ist schwarz gekleidet, wie die meisten \u00e4lteren Frauen des Volkes, die entweder f\u00fcr irgendein Mitglied ihrer zahlreichen Familie Trauer tragen oder, einmal verheiratet, ihrem guten Ruf und ihrem eifers\u00fcchtigen Gatten dadurch Gen\u00fcge tun wollen, da\u00df sie endg\u00fcltig aufh\u00f6ren, kokett zu sein, indem sie sich in schwarze, unf\u00f6rmige Kleider h\u00fcllen.
\n„Erkennst du sie wieder?“ fragt Manolo. „Das ist Nana Hedilla, Pepitas Mutter, die uns fr\u00fcher in dieser Tasca mit dem Rollen ihrer Kastagnetten toll machte.“
\nIch kann mir schwer vorstellen, da\u00df diese kleine rundliche Person irgendjemanden tollmachen kann, erinnere mich aber an „Nana de Triana“, wie sie sich stolz nannte, die vor zehn Jahren zu den besten T\u00e4nzerinnen Sevillas geh\u00f6rte. Heute kommt sie nicht mehr zum Tanzen in die Tasca, sondern nur, um auf Pepita aufzupassen und sie brav nach Hause zu bringen. Zigeunerinnen kennen das Feuer ihrer T\u00f6chter. Sie sind deshalb doppelt vorsichtig. Es gibt kaum eine T\u00e4nzerin in Spanien, sei es auf der B\u00fchne, in der Tasca oder im eleganten Nachtlokal, die nicht st\u00e4ndig von ihrer Mutter begleitet w\u00e4re. Selbst wenn sie ins Ausland gerufen werden, bleiben die schwarzgekleideten M\u00fctter ihnen wie Geheimpolizisten auf den Fersen.
\n„Sie hat\u2018s nicht geschafft“, sagt Manolo. „Halt\u2019s Maul“, schreit sie ihn an. „Nat\u00fcrlich h\u00e4tt\u2018 ich\u2018s im Handumdrehen geschafft, wenn ihr verfluchten M\u00e4nner nicht w\u00e4rt. Da kniet ihr einem jahrelang auf der Seele, versprecht Himmel und Erde, bis man weich wird. Man will endlich auch Frau werden und heiratet so einen hergelaufenen Kerl wie deinen Bruder. Nat\u00fcrlich darf man weitertanzen, das wird hoch und heilig geschworen, aber ehe man sich versieht, hat man acht Kinder, h\u00e4ngende Br\u00fcste und Krampfadern. Und alles ist aus – f\u00fcr immer.“
\nSie nimmt Pepita bei der Hand und zieht sie hoch.
\n„Aber ihr wird das nicht passieren, darauf k\u00f6nnt ihr euch verlassen. Sie wird eine gro\u00dfe T\u00e4nzerin werden. Daf\u00fcr sorge ich. Sie mu\u00df es werden; denn f\u00fcr unsereins gibt es keinen anderen Weg aus dem Elend.“
\nManolo und ich erheben uns ebenfalls und folgen den beiden Frauen auf die Stra\u00dfe. Es ist erst zw\u00f6lf Uhr nachts, aber schon schleppt „Nana de Triana“ ihre Tochter nach Hause. Sie kennt die verf\u00fchrerischen T\u00fccken andalusischer N\u00e4chte. Sie geht kein Risiko ein. Manolo h\u00e4lt mich etwas zur\u00fcck.
\n„Sie hat recht“, sagte er. „Tausende von M\u00e4dchen, Zigeunerinnen und andere, werden nur deshalb T\u00e4nzerinnen, weil es die einzige M\u00f6glichkeit ist, der Armut unserer Vorst\u00e4dte zu entkommen. Der Weg ist hart. Nur wenige erreichen es wirklich. Die meisten enden wie Nana. Und die, die nicht heiraten, aber auch nicht wieder ins Elend zur\u00fcck wollen, werden Prostituierte. Wenn sie Gl\u00fcck haben, werden sie die Geliebte eines reichen Mannes, der oft sogar f\u00fcr ihre Familie sorgt.“<\/p>\n

Vom Hinterhof in die Arena<\/strong><\/p>\n

Als wir vor dem Haus angekommen sind, in dem Manolo wohnt, h\u00f6ren wir kurze, befehlende Rufe: „Ol\u00e9 toro (Stier), ol\u00e9.“ Im Patio, dem kleinen Hof, um den fast alle andalusischen H\u00e4user gebaut sind, tummeln sich einige Kinder. In der Mitte steht ein Junge. Er ist vielleicht zehn Jahre alt. In seinen H\u00e4nden h\u00e4lt er ein zerrissenes Hemd. W\u00e4hrend er seinen kleinen nackten Oberk\u00f6rper herausfordernd vorbeugt, ruft er befehlend: „Toro, anda!“ (Stier, nun los!)\u201c und jedesmal st\u00fcrmt eines der Kinder in geb\u00fcckter Haltung auf ihn zu. Er weicht geschickt aus, wie ein richtiger Stierk\u00e4mpfer.
\nOhne ein Wort zu sagen, rennt nun auch Manolo auf ihn los. Aber der Junge l\u00e4\u00dft sich nicht aus der Ruhe bringen. Festen Fu\u00dfes wartet er. Als Manolo nur noch einige Zentimeter von ihm entfernt ist und ich glaube, er w\u00fcrde ihn umwerfen, vollf\u00fchrt der Knirps eine vollendete Veronika, eine der schwersten Figuren des Stierkampfes, und Manolo schie\u00dft an ihm vorbei.
\n„Ol\u00e9“, ruft er mir jetzt zu, „ol\u00e9 toro“ und wirft sein Hemd weg. Mit erhobenen Armen steht er wartend da. Ich b\u00fccke mich und laufe auf ihn zu. Als ich seinen K\u00f6rper streife, bohren sich seine Finger schmerzhaft in meinen Nacken. „Banderillas“, erkl\u00e4rt der kleine Kerl lachend. „Ich habe sie genau auf den richtigen Platz gestellt.“
\n„Das kann man wohl sagen.“ Ich versuche durch Reiben, den brennenden Schmerz zu stillen. „Jetzt wei\u00df ich wenigstens, wo man die Banderillas hinpflanzt.“
\nEr h\u00f6rt mich gar nicht mehr, er hat schon wieder sein Hemd in den H\u00e4nden und fordert seine Kameraden energisch auf, weiterzuk\u00e4mpfen. Ich bin erstaunt \u00fcber den Ernst, mit dem diese Kinder zu so sp\u00e4ter Stunde unter einer kleinen Funzel stehen und Torero spielen.
\n„Das ist kein Spiel mehr“, erkl\u00e4rt Manolo „das ist regelrechtes Training eines ehrgeizigen Jungen, der Torero werden will. Du l\u00e4cheltest, aber du wei\u00dft doch, da\u00df es f\u00fcr einen armen Jungen nur einen Weg aus dem Elend gibt: den Sprung in die Arena.
\n„F\u00fcr einen Zigeuner“, verbessere ich.
\nEr schaut mich vorwurfsvoll an. „Im Elend gibt es diesen Unterschied nicht mehr. Da sind wir alle gleich, ob Zigeuner oder nicht. Wir Zigeuner tragen die Armut vielleicht mit etwas mehr W\u00fcrde, weil wir lange jede normale Arbeit verworfen haben und uns deshalb nicht beklagen d\u00fcrfen. Aber das ist heute anders. Wir arbeiten in Fabriken, in Bergwerken, wir sind Schuhputzer, Scherenschleifer, Soldaten oder Chauffeure – genau wie die anderen. Wir sind zwar immer noch \u00fcberzeugt, ein ganz spezielles leidenschaftliches Blut aus unserer fernen asiatischen Heimat mitgebracht zu haben, und sind stolz darauf. Aber das hat nichts mit unserer sozialen Stellung zu tun. Da sind unsere Probleme heute die gleichen wie die der anderen Armen.“
\nNana und Pepita, die zun\u00e4chst in einer T\u00fcr des Hofes verschwunden waren, gesellen sich wieder zu uns. Pepita hat ihr Kost\u00fcm abgelegt. Sie sieht in ihrem geflickten Kleid recht unscheinbar aus. Ich kann mir schwer vorstellen, da\u00df dieses M\u00e4dchen so selbstbewu\u00dft in der Tasca getanzt hat.
\nManolo erkl\u00e4rt weiter: „\u00dcbrigens, der kleine Stierk\u00e4mpfer hier ist kein Zigeuner. In diesem Haus wohnen nur vier Zigeunerfamilien, alle anderen sind ganz normale Spanier. Der zw\u00f6lfj\u00e4hrige Bruder dieses Jungen ist im Seminar. Die Kanzel ist der dritte Weg, hier herauszukommen.“
\nEr l\u00e4chelt Nana verschmitzt an. „Es ist sicher der leichteste Weg, aber zu schwer f\u00fcr einen Zigeuner. Denn wer kann schon Priester werden mit unserem Blut?“
\n„Unser Blut, unser Blut“, f\u00e4hrt in Nana b\u00f6se dazwischen. „Was n\u00fctzt es. Schau uns an. Da kann man noch so leidenschaftlich sein, noch so verliebt; mit Fl\u00f6hen, leerem Magen und zehn Menschen in einem Zimmer geht selbst die sch\u00f6nste Liebe zum Teufel.“ Sie wendet sich drohend Pepita zu. „Daran denkt man nicht, wenn man siebzehn Jahre alt ist. Deshalb mu\u00df ich es f\u00fcr dich tun.“
\n„Sie tanzt gro\u00dfartig“, sage ich, um Nana zu beruhigen, aber sie h\u00f6rt gar nicht zu. Sie gr\u00fcbelt vor sich hin, w\u00e4hrend Pepita verlegen ihr Kleid glatt streicht.
\n„Ich h\u00e4tte dich gern ins Haus gebeten“, sagt Nana endlich. „Aber es ist schon zu sp\u00e4t. Die Kinder und Manolos Frau schlafen schon. Und wir haben nur dieses eine Zimmer f\u00fcr unsere beiden Familien.“ Mit einer m\u00fcden Handbewegung umschreibt sie den Hof. „Auf diesem Patio siehst du vierzehn T\u00fcren. Jede f\u00fchrt zu einem einzigen Zimmer, und in jedem Zimmer wohnen zwei bis drei Familien, und wenn die Kinder heiraten, kommen wieder neue hinzu. Wenn du weg sein wirst, dann werden die M\u00e4nner mit ihren Strohmatten vor die T\u00fcr kommen, um in Hof zu schlafen.“
\nIch hatte diese fast unbeschreibliche Wohnungsnot in allen St\u00e4dten Spaniens angetroffen, hier aber, im Anblick dieser Freunde, die ich einst als ein lustiges Zigeunervolk kennengelernt hatte, das unbek\u00fcmmert mit seinen Wagen durchs Land zog und sein Lager aufschlug, wo immer es ihm gefiel, \u00fcberkommt mich pl\u00f6tzlich eine ohnm\u00e4chtige Scham. Ich greife in die Tasche, wie viele von uns es automatisch tun, wenn sie ein schlechtes Gewissen haben und sich f\u00fcr einige Pfennige freikaufen wollen. Aber meine Hand bleibt stecken. Und merklich haben sich die Gestalten meiner Freunde gestrafft. Pepita sieht pl\u00f6tzlich wieder so aus wie in der Tasca, als sie herausfordernd ihr Zigeunertum beanspruchte. Es wird unheimlich still. Schnell ziehe ich ein Paket Zigaretten aus der Tasche und reiche es herum. Nana und Manolo atmen erleichtert auf. Pepita greift z\u00f6gernd zu. Auch ich brauche jetzt eine Zigarette, denn es wird mir klar, da\u00df ich in dieser einen Sekunde diesen Menschen die tiefste Erniedrigung erspart habe.
\nWir plaudern noch ein wenig. Dann verabschiede ich mich. Als ich langsam in der Dunkelheit davonschlendere, begleiten mich die Stimmen der Kinder mit ihrem“ol\u00e9, toro, ol\u00e9“ – und dieser m\u00e4nnliche Ruf des Kampfes klingt hier in der Nacht, wie der verzweifelte Schrei nach einem besseren Leben.<\/p>\n

Warten auf Francos Tod<\/strong><\/p>\n

Als wir wieder in Madrid sind und die Bilanz unserer sechsw\u00f6chigen Spanienreise ziehen, sieht das Bild so d\u00fcster aus, da\u00df ich mich entschlie\u00dfe, einen alten Bekannten aufzusuchen, einen Falangisten, der mittlerweile zu einem bedeutenden Posten in der faschistischen Einheitspartei aufgestiegen ist, um ihm unverbl\u00fcmt meine Meinung zu sagen.
\nEr empf\u00e4ngt uns mit \u00fcberstr\u00f6mender Freundlichkeit und versteht es sofort, eine Atmosph\u00e4re zu schaffen, als h\u00e4tten wir uns nicht vor zehn Jahren das letzte mal gesehen, sondern gestern.
\nZwei andere Falangisten sind mit ihren Frauen geladen. Man ist elegant, man spricht von tausend Dingen. Das Abendessen ist ausgezeichnet, die Bedienung so wundervoll, gute franz\u00f6sische Weine so reichlich, da\u00df ich meinen Groll vergesse und vergn\u00fcgt mitplaudere \u00fcber Chruschtschow, Amerika, den arabischen Nationalismus und die gelbe Gefahr. Kein Wort \u00fcber Franco, das scheint hier zum guten Ton zu geh\u00f6ren.
\nAls die Herren sich in den Rauchsalon zur\u00fcckziehen, ruft mein Bekannter seinen Dienstboten zu, uns f\u00fcr die n\u00e4chste halbe Stunde nicht zu st\u00f6ren, und schlie\u00dft sorgf\u00e4ltig die T\u00fcr.
\n„Was hast du auf dem Herzen?“ fragt er mich. „Am Telefon klang deine Stimme gar nicht freundlich. Was ist los?“
\nIch werfe einen bedeutungsvollen Blick auf seine beiden Freunde, aber lachend sagt er: „Du kannst frei sprechen. Und wenn du uns dein Wort gibst, weder unsere Namen noch unsere Stellungen preiszugeben, wollen auch wir ganz offen sein. Einverstanden?“
\n„Einverstanden.“
\nIch erz\u00e4hle, was wir w\u00e4hrend unserer Rundreise gesehen haben, spreche von der Armut, der Wohnungsnot, den unn\u00fctzen Prunkbauten, der sozialen Ungerechtigkeit, Gef\u00e4ngnissen. „Ich wollte es mir nur von der Seele reden“, sage ich abschlie\u00dfend. „Jemandem sagen k\u00f6nnen, der mitverantwortlich ist, da\u00df ihr aus diesem wundervollen Volk eine Masse von armen Heuchlern gemacht habt. Wenn ihr die zwanzig Jahre euerer Macht nicht damit verbracht h\u00e4ttet, euch Denkm\u00e4ler zu setzen, w\u00e4re Spanien heute kein unterentwickeltes Land.“
\nZu meinem Erstaunen protestiert keiner. Nach einer kurzen Pause sagt mein Gastgeber vollkommen ruhig: „Du hast recht. Dieses Land befindet sich in einem Zustand, da\u00df wir uns sch\u00e4men m\u00fcssen, mitverantwortlich zu sein. Wir sind es aber nur insofern, als wir damit einverstanden waren, die offiziellen Tr\u00e4ger des Regimes zu spielen, ohne die soziale Revolution durchzuf\u00fchren, die auf unserem Programm steht. Franco hat es uns versprochen. Aber er hat dieses Versprechen nie eingel\u00f6st, sondern den Gener\u00e4len, Konservativen und der Kirche freies Spiel gelassen und ihnen erlaubt, uns in Schach zu halten. Die Falange ist somit einmal betrogen worden – aber sie will es nicht ein zweitesmal werden. Darauf kannst du dich verlassen.“
\nMein Gastgeber, den ich der Einfachheit halber Pedro nennen werde (und seine Freunde Carlos und Paco), steht auf und schlie\u00dft das Fenster.
\n„Auch wir m\u00fcssen vorsichtig sein“, sagte er l\u00e4chelnd, „denn du sollst noch einiges erfahren. Wir warten auf Francos Tod. Wir w\u00fcnschen ihn nicht f\u00fcr morgen – wir brauchen den Caudillo noch -, aber wir bereiten uns darauf vor und hoffen, da\u00df es nicht mehr zu lange dauern wird.“
\nAls Carlos mein Erstaunen sieht, unterbricht er: „Franco hat uns gezeigt, wie man in der Politik man\u00f6vrieren mu\u00df. Sein opportunistischer Wirklichkeitssinn hat uns gelehrt, ebenfalls Realisten und Opportunisten zu werden. Aber mit einem Unterschied: F\u00fcr ihn ist die Macht eine pers\u00f6nliche Angelegenheit, eine h\u00f6chst private Sache, und die letzten zwanzig Jahre sind f\u00fcr ihn nichts anderes als seine Biografie. F\u00fcr uns aber bleibt die Macht die einzige M\u00f6glichkeit, einen alten Wunsch zu verwirklichen: die Revolution, verbessert durch zwanzig Jahre Erfahrung. Fr\u00fcher wollten wir eine romantische Revolution, die sich eigentlich in Worten ersch\u00f6pfte. Heute wollen wir eine greifbare Wirklichkeit, wie es sie in Ru\u00dfland gibt. Von einem entgegengesetzten Ausgangspunkt kommend, sind wir am gleichen Punkt angekommen wie die Russen. Wir wollen die Revolution des Proletariats. Deshalb auch bleiben wir auf unseren Posten. Die Geduld ist die erste Tugend eines jeden Revolution\u00e4rs.“
\nAls ich Pedro frage, ob ich diese Information in meinem Artikel wiedergeben darf, antwortete er mir sehr ernst:
\n„Wenn du weder Namen noch Titel angibst – nat\u00fcrlich. Du mu\u00dft nicht glauben, da\u00df die Ver\u00f6ffentlichung solcher Erkl\u00e4rungen die Aufmerksamkeit auf uns ziehen wird. Wir sind n\u00e4mlich keine kleine isolierte Gruppe. Was du hier geh\u00f6rt hast, kannst du von vielen f\u00fchrenden M\u00e4nnern h\u00f6ren, die f\u00fcr die \u00d6ffentlichkeit weiterhin Falangisten sind und treue Anh\u00e4nger Francos. Im Grunde bilden wir heute die einzige soziale Macht, auf die sich Franco st\u00fctzt. Und es ist in unserem Interesse, die Treue zum Regime aufrecht zu erhalten. Wir k\u00f6nnen uns den billigen Luxus der Sozialisten und Monarchisten nicht leisten, die aus ideologischen \u00dcberlegungen laut protestieren und sich dadurch demaskieren.“
\nEr bricht pl\u00f6tzlich ab: „Aber trinken wir noch etwas, du siehst sehr n\u00fcchtern aus.“
\n„Da soll man nicht n\u00fcchtern werden“, st\u00f6hne ich. „Man hat mir gesagt, da\u00df Kontakte bestehen zwischen einigen Gruppen der Falange und der verbotenen kommunistischen Partei. Ich habe selbst festgestellt, da\u00df die Mehrzahl der jungen spanischen Intellektuellen mit dem Marxismus flirtet, man hat mir sogar erz\u00e4hlt, euer ber\u00fchmter Torero Dominguin sei ein Freund der Kommunisten. Aber in dieser Luxuswohnung aus eurem eigenen Mund zu erfahren, da\u00df marxistische Ideen heute die Falange beherrschen, eine Partei, die allgemein als das letzte \u00dcberbleibsel des Faschismus betrachtet wird, das ist wirklich eine \u00dcberraschung, auf die ich einen guten Schluck brauche.“
\nWir sto\u00dfen an. „Auf was sollen wir trinken?“ frage ich. Wir blicken uns fragend an. Es scheint schwer zu sein, einen Toast zu finden, der uns allen genehm ist. „Auf da\u00df Papa Franco uns bald die Erbschaft abtritt“, schl\u00e4gt Carlos z\u00f6gernd vor. „Ach, Quatsch“, ruft Pedro. „Auf das Leben. Das wollen wir doch alle leidenschaftlich, um unsere Ideen zu verwirklichen.“ Wir leeren unsere Gl\u00e4ser, und mir wird pl\u00f6tzlich klar, wie diese M\u00e4nner sich ver\u00e4ndert haben. Waren nicht sie es, die w\u00e4hrend des B\u00fcrgerkriegs auf den Tod tranken und sich in die Schlacht st\u00fcrzten mit dem Ruf: „Es lebe der Tod.“
\nIch wende mich wieder an Pedro. „Wenn Franco eure Positionen kennt, mu\u00df er doch alles versuchen, euch von eurem Posten zu verdr\u00e4ngen.“
\n„Warum sollte er das? Wir unterst\u00fctzen ihn doch, und im \u00fcbrigen wei\u00df er nicht, wer bei uns diese Ideen vertritt. Andererseits vergi\u00dft du, weil du aus einem Land kommst, wo sich die Politik jetzt wieder in der \u00d6ffentlichkeit abspielt, da\u00df Diktaturen unvermeidlich eine unmoralische Wirklichkeit schaffen, die jeder annehmen mu\u00df, der politisch interessiert ist. Wenn die normale Moral verschwindet, wird eine Notmoral geboren, eine brutal vereinfachte Moral, die nur noch den Nutzen kennt. Aus purer Notwendigkeit sind Tausende von Spaniern zu Spezialisten des politischen Doppelspiels geworden. Die meisten, die heute Francos Politik machen, arbeiten zugleich am Umsturz. Genau wie wir, so bereiten auch die Monarchisten und b\u00fcrgerlichen Kapitalisten ihre Zukunft vor. Diese Zukunft ist der Tod Francos. In jenem Augenblick m\u00fcssen wir alle unser wahres Gesicht enth\u00fcllen. Unsere kapitalistischen Gegner rechnen mit der Armee. Aber da werden nur die hohen Offiziere mitmachen. Die unterbesoldete Masse geh\u00f6rt zu uns. Im \u00fcbrigen haben wir das gesamte Proletariat durch die Gewerkschaften, die wir schon zwanzig Jahre kontrollieren, fest in der Hand. Die Gewerkschaft ist ein m\u00e4chtiges Werkzeug, das bis heute unbenutzt geblieben ist. Durch sie wird die Revolution getragen werden, wenn der Augenblick gekommen ist.“
\n„Aber wie seid ihr spanischen Falangisten zu Marxisten geworden?“ will ich wissen.
\nPaco ergreift das Wort. Er ist der J\u00fcngste von ihnen. Vielleicht drei\u00dfig Jahre alt. Er geh\u00f6rt nicht zu der „alten Garde“.
\n„Sie m\u00fcssen ber\u00fccksichtigen“, sagt er, „da\u00df wir von Kindheit an zum Ha\u00df gegen den liberalen und demokratischen Kapitalismus erzogen worden sind. Man hat uns zum Beispiel gelehrt, da\u00df die soziale Gleichheit erstrebenswerter ist als die Freiheit. Jeder Spanier ist durch die Jugendorganisation der Falange gegangen und besitzt deshalb \u00fcber den Kapitalismus, die politische Freiheit, die Demokratie kritische Vorstellungen, die ungef\u00e4hr denen entsprechen, die ein Russe aus seiner ideologischen Schulung mitbringt.“
\nPedro unterbricht ihn: Du musst nicht vergessen, Gordian, da\u00df unsere offizielle Propaganda uns bis vor einigen Jahren Ru\u00dfland als das Beispiel eines verhungerten, unterentwickelten Landes hingestellt hat. Pl\u00f6tzlich sehen wir eine m\u00e4chtige Sowjetunion, in der nach unseren Begriffen Ordnung herrscht und soziale Gleichheit. Da wir, wie du wei\u00dft, das demokratischer Freiheitsideal ablehnen und uns auch von der Religion abgewandt haben, weil die Erstarrung des spanischen Katholizismus in seiner traditionellen Formen ihn jedes pers\u00f6nlichen Gef\u00fchlswertes beraubt hat, mu\u00dften wir Falangisten unvermeidlich auf die Idee kommen, da\u00df Russland genau das verwirklicht hat, was wir von Anfang an als den Kern unseres Programms bezeichnen. F\u00fcr einen Mann, der nicht an die Freiheit glaubt und eine proletarische Revolution w\u00fcnscht, ist es deshalb schwer, sich nicht dem sowjetischen Regime sehr nahe zu f\u00fchlen. Es ist nicht einmal das in Ru\u00dfland vergossene Blut, das ihn abschrecken k\u00f6nnte, weil wir selbst f\u00fcr Ideen get\u00f6tet haben, und zwar vollkommen sinnlos, denn bis heute haben wir sie nicht verwirklichen k\u00f6nnen. Du wirst verstehen, da\u00df es ein historischer Unsinn w\u00e4re, wenn die Falange nicht vom Kommunismus angezogen w\u00fcrde. Heute, wo der russische Kommunismus ein neues Gesicht hat, gut gekleidet ist, patriotisch aussieht und m\u00e4chtig geworden ist, weil er eine soziale Disziplin erzwungen hat, die unseren Ideen gem\u00e4\u00df den Streik und die Freiheit als altmodische und unrealistische Begriffe verurteilt, gibt es keinen echten Falangisten, der im sowjetischen System, wenn nicht einen Freund, so jedoch ein Beispiel sieht. Im Augenblick teilen sich die spanischen Falangisten in zwei Gruppen. Jene, die sich zum Kommunismus bekannt haben und heimlich mit ihm verb\u00fcndet sind. Und jene, die nicht von der kommunistischen Partei beherrscht sein wollen, sondern versuchen, die Revolution ohne sie und vor ihr zu machen.“
\n„Und zu welcher Gruppe geh\u00f6rt ihr?“ frage ich.
\nPedro legt mir freundlich die Hand auf die Schulter. „Das, Gordian, ist ein Geheimnis, das wir heute noch f\u00fcr uns behalten m\u00fcssen.“<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Stern, Heft 42, 17. Oktober 1959 „Ich bin Zigeunerin reinster Rasse. Hier, sieh meine Haut, meine Augen, meine Haltung.“ Pepita strafft ihre Gestalt. Sie spannt ihre H\u00fcften und wird in einer Sekunde zum Urbild der Zigeunerin, deren Silhouette den Frauentyp ganz Spaniens \u00fcber Jahrhunderte geformt hat und heute noch bestimmt. Wie bei uns der Film…<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":62280,"parent":55794,"menu_order":1,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":{"_seopress_robots_primary_cat":"","_seopress_titles_title":"","_seopress_titles_desc":"","_seopress_robots_index":"","footnotes":""},"categories":[540],"tags":[],"class_list":["post-54034","page","type-page","status-publish","has-post-thumbnail","hentry","category-spanien","entry","has-media"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54034"}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/types\/page"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/users\/1"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=54034"}],"version-history":[{"count":2,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54034\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":62267,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54034\/revisions\/62267"}],"up":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/55794"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media\/62280"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=54034"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=54034"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=54034"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}