{"id":54036,"date":"2017-03-11T14:08:55","date_gmt":"2017-03-11T13:08:55","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=54036"},"modified":"2020-02-01T00:52:24","modified_gmt":"2020-01-31T23:52:24","slug":"und-das-vor-unserer-tuer","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/sizilien\/und-das-vor-unserer-tuer\/","title":{"rendered":"Und das vor unserer T\u00fcr"},"content":{"rendered":"

Stern, Heft 13, 26. M\u00e4rz 1960<\/em><\/p>

\u201eWir k\u00f6nnen den Leuten diesen Gestank nicht zumuten\u201c, sagte Claude, als wir endlich vor der chemischen Reinigungsanstalt in Agrigento angekommen waren. \u201eSie werden uns rauswerfen.\u201c
\u201eDann k\u00f6nnen wir auch in kein Hotel mehr gehen\u201c, antwortete ich, \u201edenn wir riechen nicht besser als unsere Kleider. Komm, wir m\u00fcssen es versuchen, sonst haben wir \u00fcberhaupt nichts mehr anzuziehen. Und etwas Gestank werden die hier schon gew\u00f6hnt sein.\u201c
Ohne auch nur die Nase zu r\u00fcmpfen, nahm ein h\u00f6fliches Fr\u00e4ulein unser B\u00fcndel entgegen. Wir f\u00fchlten uns befreit, wenigstens so lange wir in der frischen Luft waren, denn im Auto stand der Geruch zum Durchschneiden dick, genau wie vorher. Seit drei Tagen schleppten wir ihn mit uns herum, in den Kleidern, den Schuhen, den Haaren. Und da half kein Schrubben und kein Waschen. Es war hartn\u00e4ckig und unausweichlich \u2013 genau wie die sizilianische Blutrache. In den Elendsvierteln von Palermo, die mehr als die H\u00e4lfte der Stadt ausmachen, in Licata, Partinico, Montelepre und vielen anderen D\u00f6rfern und St\u00e4dten hatte er f\u00fcr uns schon seit Wochen den Duft der Mandelbl\u00fcten verdr\u00e4ngt. Aber so wie in Palma di Montechiaro, wo wir seit drei Tagen fotografierten, war er uns noch nicht begegnet. Selbst nicht in Asien oder Afrika. Hier wateten wir f\u00f6rmlich in der offenen Latrine von 22 000 Menschen, die die wenig beneidenswerte Ehre haben, die B\u00fcrger dieser Stadt zu sein.
Palma di Montechiaro liegt im S\u00fcden Siziliens an der Hauptstra\u00dfe Nr. 115, zwischen Agrigento und Ragusa. Wir kamen dort an einem Sonntag an.
\u201eSuchen Sie jemanden?\u201c fragte der kleine Mann im zerfransten Mantel, der uns schon eine Stunde lang schweigend gefolgt war und diskret versucht hatte, uns die bettelnden Kinder vom Leib zu halten. Noch bevor ich antworten konnte, schrie Claude entsetzt auf. Aus einem der H\u00e4user hatte eine Frau im Eifer des morgendlichen Reinemachens den Familiennachteinmer, ohne hinzugucken, auf die Stra\u00dfe gesch\u00fcttet und dabei genau Claudes Beine getroffen. \u201eIch kann es nicht mehr aushalten, stammelt Claude, \u201eseit wir auf Sizilien sind, ist mir \u00fcbel. Dieser fade, s\u00fc\u00dfe Geruch, diese Mischung von Mensch und Tier dreht mir den Magen um.\u201c Sie zeigt hilflos auf ihre triefenden Beine. \u201eErinnerst du dich an die neidischen Gesichter unserer Freunde als wir nach der \u201aTrauminsel des Mittelmeeres\u2019 aufbrachen? Die sollten uns jetzt mal sehen.\u201c<\/p>

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Aller Schmutz,<\/strong> der Abfall und der Kot, sammelt sich auf den Stra\u00dfen von Palma di Montechiaro. Dabei handelt es sich nicht um ein kleines Dorf, sondern um eine Stadt mit 22.000 Einwohnern. Neunzig Prozent der H\u00e4user gelten offiziell als unbewohnbar, und doch leben dort, wie Tiere zusammen gepfercht, 6 bis zehn Menschen in einem Zimmer, nicht selten gemeinsam mit H\u00fchner, Ziegen, Eseln<\/em><\/p>

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Mittlerweile hatte der kleine Mann einen Eimer Wasser besorgt. Er machte eine z\u00f6gernde, etwas entschuldigende Verbeugung und go\u00df das Wasser mit einem kr\u00e4ftigen Schwung an Claudes Beine. \u201eDas ist Sizilien\u201c, sagte er, \u201edas ist Palma di Montechiaro. Sie m\u00fcssen auf den Hauptstra\u00dfen bleiben und in den gro\u00dfen Hotels, wenn Sie der Armut nicht begegnen wollen.\u201c
Jetzt erscheint auch die putzeifrige Frau mit Wasser und B\u00fcrste und versucht fluchend, den Dreck abzuwaschen. Im Nu sind wir von einem Dutzend Frauen umgeben, hinter denen 30 bis 40 Kinder mit Ellenbogen und Fu\u00dftritten versuchen, sich einen Weg zum Mittelpunkt des Interesses zu erk\u00e4mpfen. Claude will mir etwas zurufen, aber ihre Worte gehen im Stimmengewirr der heftig gestikulierenden Frauen unter. Der Kontakt mit der Bev\u00f6lkerung ist hergestellt, das ist sicher, wenn es auch diesmal nicht auf ganz saubere Weise geschah.
Alle wollen uns erkl\u00e4ren, alle sprechen zur gleichen Zeit. \u201eWas sollen wir denn mit unserem Schmutz machen?\u201c fragt eine. \u2013 \u201eWir haben kein Wasser, keine Toiletten, keine Kanalisation\u201c, schreit die andere.- \u201eNicht einmal einen Platz au\u00dferhalb der Stadt, wo wir unseren Dreck hinbringen k\u00f6nnen.\u201c \u2013 \u201eDie H\u00fchner, Ziegen und Kinder setzen sich einfach auf die Stra\u00dfe. Aber f\u00fcr uns Erwachsene ziemt sich das nicht. Da m\u00fcssen wir eben in unserem Zimmer ein Gef\u00e4\u00df reservieren, das wir nach Gebrauch auf die Stra\u00dfe leeren.\u201c \u2013 \u201eWohin denn sonst?\u201c \u2013 \u201eEntschuldigen Sie, da\u00df ich nicht hingeschaut habe.\u201c \u2013 \u201eIch bin eine Witwe mit neun Kindern. Ich war schon einmal in Siculiana, da ist es auch nicht anders\u201c \u2013 \u201eIn Licata auch nicht.\u201c \u2013 \u201eIn Caltanissetta vielleicht?\u201c
\u201eGibt es denn keine st\u00e4dtische F\u00e4kalienabfuhr?\u201c will ich wissen.
Schallendes Gel\u00e4chter.
\u201eNur in den gro\u00dfen St\u00e4dten.\u201c \u2013 \u201eHier hilft uns der Regen. Die Stra\u00dfen sind fast alle absch\u00fcssig. Da w\u00e4lzt sich der Schmutz im Winter langsam den Abhang hinunter und sammelt sich am Ende der Stra\u00dfe.\u201c \u2013 \u201eSehen Sie, der kleine H\u00fcgel dort unten, wo die Kinder spielen, das ist die Endstation all unseres Drecks.“
Ich danke meinem Sch\u00f6pfer, da\u00df wir im Winter gekommen sind, nicht im Sommer, wenn Millionen Fliegen und M\u00fccken sich gierig \u00fcber den Kot hermachen und jeder Schritt nicht nur den Gestank, sondern auch eine schwarze summende Wolke aufscheucht.<\/p>\r\n

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Wie ein Werbeprospekt<\/strong> wirkt das Panorama von Palma die Montechiaro. Was in keinem Reisef\u00fchrer steht, sind die Zahlen: Nur jeder zwa<\/em>nzigste<\/em> Mann hat einen regelm\u00e4\u00dfigen Verdienst. Ein Drittel der 22 <\/em>000 Einwohner steht auf der Armenliste der Gemeinde. Jeder achte ist tuberkul\u00f6s. \u2013 Sch\u00f6n sie diese Stadt von der Ferne aus. Wer sie betritt, lernt was Elend ist<\/em><\/p>\r\n

Genauso pl\u00f6tzlich, wie es gekommen war, ist das Interesse der Frauen an uns erloschen. Etwas viel Faszinierenderes, als neugierige Ausl\u00e4nder es ein k\u00f6nnen, ist aufgetaucht: ein Meinungsstreit, der jetzt schreiend ausgefochten wird. Es geht um die Stadtreinigung. Wenn ich richtig verstehe, gibt es sie doch. Ein wohlhabender Herr des Ortes erh\u00e4lt im Jahr mehrere Millionen Lire, um die Sauberkeit der Stadt zu garantieren. In seinen B\u00fcchern f\u00fchrt er mehrere Stra\u00dfenfeger und Angestellte. In Wirklichkeit jedoch besch\u00e4ftigt er davon nur zwei, die auf dem Platz vor den Kirchen und in der Hauptdurchgangsstra\u00dfe f\u00fcr Sauberkeit sorgen. Die anderen aufgef\u00fchrten Namen gibt es zwar, und wenn man einen dieser M\u00e4nner in seiner mit Kindern \u00fcberf\u00fcllten Einzimmer-Stall-Wohnung aufsuchen w\u00fcrde, w\u00fcrde er hoch und heilig beteuern, da\u00df er bei der Stadtreinigung besch\u00e4ftigt ist; aber er arbeitet weder, noch bezieht er Lohn. Und wenn man ihm morgens auf den Abh\u00e4ngen der Berge begegnet, wo er Kr\u00e4uter sucht, um seinen Kindern wenigstens einmal am Tag eine warme Suppe machen zu k\u00f6nnen, w\u00fcrde er fest und steif behaupten, da\u00df er seinen freien Tag habe und morgen wieder arbeite. Warum? Weil das absolute, hoffnungslose Elend ihn hilflos jeder Willk\u00fcr ausliefert, wenn sie nur den Schein und das Versprechen einer Besserung andeutet.
Der wohlhabende M\u00fcllabfuhrunternehmer besitzt n\u00e4mlich die Arbeitskarte unseres armen Mannes. Er stempelt sie gewissenhaft ab, und wenn 52 Wochenmarken gewissenhaft geklebt sind, hat unser armer Mann recht auf eine sechsmonatige Arbeitslosenunterst\u00fctzung von rund 17 000 Lire (110 DM) pro Monat. F\u00fcr dieses unter normalen Umst\u00e4nden unerreichbare Ziel \u00fcberl\u00e4\u00dft er dem Arbeitgeber seine Familienkarte, auf der neun Kinder eingetragen sind, f\u00fcr die ihm aus der Staatskasse 39 840 Lire (257 DM) pro Monat zustehen. Solange er offiziell arbeitet, wohlverstanden. Von diesem Geld sieht er nat\u00fcrlich nie etwas, da er den Arbeitgeber f\u00fcr den gro\u00dfen Dienst bezahlen mu\u00df, ihn in seinen B\u00fcchern zu f\u00fchren und ihm dadurch alle zwei Jahre w\u00e4hrend sechs Monaten Arbeitslosenunterst\u00fctzung zu verschaffen. Die Rechnung geht so auf: 478 080 Lire (3085 DM) f\u00fcr den Unternehmer, 102 000 Lire (663 DM) f\u00fcr den armen Mann. Und das alles bezahlt der Staat. Nat\u00fcrlich hilft ein kluger Unternehmer nur M\u00e4nnern mit 8 bis 12 Kindern. Wenn er ein besonderer Menschenfreund ist, gibt er ihm auch manchmal etwas von den Kindergeldern ab.<\/p>\r\n

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Die Zukunft Siziliens<\/strong> liegt nicht mehr in den gefalteten H\u00e4nden dieser beh\u00fcteten S\u00f6hne der reichen B\u00fcrger und Landbarone. Sie wird von den z\u00fcgellosen, verwilderten Kindern der Elendsviertel bestimmt werden, die nicht zur Schule gehen k\u00f6nnen, weil sie keine Schule haben. Sie sind verurteilt, Analphabeten zu bleiben, weil ihre Eltern die vorgeschriebene Schuluniform nicht kaufen k\u00f6nnen \u2013 und auch die B\u00fccher m\u00fcssen bezahlt werden<\/em><\/p>\r\n

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Die Frauen feilschen um die Preise, jede will es besser wissen und die Witwe mit den neun Kindern am allerbesten. Sie hatte n\u00e4mlich einen Mann, der drei Jahre lang der fiktive Arbeiter einer ebenso nicht existenten Steingrube war, was ihm w\u00e4hrend der ganzen Zeit 1300 Mark eingebracht hat.
Sp\u00e4ter erkundigten wir uns genauer. In Palma di Montechiaro allein gibt es 128 Unternehmer, vom Schneider \u00fcber den Apotheker und den Metzger bis zu den Stra\u00dfenbauern, die sich mit den Kindergeldern fiktiver Arbeitnehmer die Taschen vollstecken, was im kinderreichen Sizilien recht eintr\u00e4glich sein kann. Da gibt es Junggesellen, die f\u00fcr 100 und mehr Kinder monatlich kassieren. Daf\u00fcr brauchen sie nur zehn oder zw\u00f6lf zeugungsfreudige arme V\u00e4ter zu finden. Was hei\u00dft finden? Sie m\u00fcssen unter den unz\u00e4hligen Bewerbern einen ihrem Betrieb entsprechende Auswahl treffen. Es ist ein unerh\u00f6rtes Gl\u00fcck auserw\u00e4hlt zu werden. Man mu\u00df schon mit dem Arbeitgeber verschw\u00e4gert sein oder wenigstens der Freund eines Freundes sein, um \u00fcberhaupt in die engere Wahl zu kommen. Und dabei hat der Unternehmer nie eine Einbu\u00dfe. Wenn er n\u00e4mlich einen Mann aus seinen B\u00fcchern streichen mu\u00df, damit der arme Teufel endlich, mit seinen 52 Marken bewaffnet, in den Genu\u00df seiner Arbeitslosenunterst\u00fctzung kommen kann, stellt er sofort einen neuen ein, wenn m\u00f6glich mit noch mehr Kindern.
\u201eIhr und die Beh\u00f6rden duldet so etwas?\u201c fragten wir die Gewerkschaftsf\u00fchrer, die uns dar\u00fcber Auskunft gaben.
\u201eDie Mafia duldet und f\u00f6rdert es\u201c, war die Antwort.
\u201eWas ist die Mafia, was will sie, wer vertritt sie hier?\u201c
Die vier alten M\u00e4nner schauten zu Boden. Unsere Frage geh\u00f6rte zu jenen, die man Sizilien nicht h\u00f6rt, selbst wenn man sie von den D\u00e4chern schreit.
\u201eWollen Sie noch etwas Kaffee?\u201c, fragte einer.\u201cEs ist sp\u00e4t\u201c, sagte ein anderer, \u201edie Sonne geht bald unter.\u201c<\/p>\r\n

Es sollten Wochen vergehen, bevor wir die mysteri\u00f6se Mafia finden konnten.
Jetzt bahnen wir uns m\u00fchselig einen Weg durch immer lauter schreiende Weiber; es geht schon nicht mehr um die M\u00fcllabfuhr, sondern um das Privatleben einer jeden.
\u201eDu Tochter einer Hergelaufenen,\u201c schreit eine zwei Zentner schwere Matrone. Sie stillt einen kleinen Jungen, der verzweifelt versucht, die wogende Brust festzuhalten, und seine kleinen Z\u00e4hne resolut zur Hilfe nimmt. Eine schallende Ohrfeige bringt den kleinen Kerl dazu, seine fanatische Nahrungssuche aufzugeben; er hustet, verschluckt sich und bricht die Milch \u00fcber die Brust und das schwarze Kleid seiner Mutter. Die scheint es gar nicht zu bemerken. \u201eHier, setz ihn runter\u201c, sagt sie zu einer jungen Frau, die hinter ihr steht. Diese nimmt das Kind und stellt es au\u00dferhalb des Kreises der Frauen auf die Stra\u00dfe. Der kleine Junge l\u00e4uft schreiend davon. Jetzt sehe ich erst, da\u00df er mindestens zwei, wenn nicht drei Jahre alt ist.
Mittlerweile hat sich seine Mutter wieder ihrer Gegnerin zugewandt: \u201eDu zehnmal betrogene Dirne. Wer hat den Kadaver Ernestos entdeckt, nachdem er im Feld erschossen worden war? Du. Und warum fehlten ihm die Goldz\u00e4hne, als er nach Hause getragen wurde? Weil du und dein Mann sie herausgebrochen hatten. Hoffentlich schmort er in der H\u00f6lle, dein Mann.\u201c
\u201eDu wirst in der H\u00f6lle braten, weil du unseren Priester vom rechten Weg abgebracht hast \u2013 von wem ist dieses Kind? Antworte. Von wem?\u201c
Wir gehen um die Ecke und h\u00f6ren nur noch eine wildes Stimmengewirr, das mit Weinen und Kindergeschrei vermischt wie die Anklage einer j\u00e4mmerlichen Menschheit zum Himmel steigt.
\u201eIch wei\u00df nicht, was schlimmer ist\u201c, murmelt Claude vor sich hin, \u201eder Gestank oder das Geschrei. Am schlimmsten f\u00fcr mich war das Radio, das \u00fcber die Stra\u00dfe gr\u00f6lte. Hast du geh\u00f6rt? Sie spielten Dolce Vita, s\u00fc\u00dfes Leben.\u201c
Der kleine Mann im zerfransten Mantel mit den traurigen schwarzen Augen hat uns nicht verlassen. Z\u00f6gernd geht er neben mir: \u201eDie Armen lieben sich nicht\u201c, sagt er tonlos vor sich hin, \u201esie hassen sich t\u00f6dlich. Sie hassen sich untereinander tausendmal mehr, als sie die Reichen hassen. Vor denen haben sie Respekt und machen B\u00fccklinge. Sie sind h\u00e4\u00dflich, die Armen, h\u00e4\u00dflich an Leib und Seele.\u201c
Ich h\u00f6re ihm nur halb zu. Meine Augen sind gebannt von einem kleinen M\u00e4dchen, das mit nacktem Unterk\u00f6rper in einer Pf\u00fctze menschlicher Exkremente sitzt und mit seinen H\u00e4nden darin herumspielt. Langsam zieht es einen 10 Zentimeter langen wei\u00dfen Wurm heraus. Es h\u00e4lt ihn zwischen Zeigefinger und Daumen und l\u00e4\u00dft ihn hin- und herpendeln. Der Wurm lebt, und die Kleine strahlt vor Freude. Liebevoll wickelt sie ihn zun\u00e4chst um ihr Handgelenk und betrachtet ihn kritisch. Dann dreht sie ihn vorsichtig um den Ringfinger der linken Hand. Das scheint ihr besser zu gefallen, denn ein zufriedenes L\u00e4cheln spielt um ihre Lippen. Neben ihr steht ein Hund, der ebenso fasziniert hinschaut wie ich. Sein Kopf ist aufmerksam zur Seite gebeugt, und ich kann den Eindruck nicht loswerden, schon einmal auf einer farbigen Postkarte aus S\u00fcdtirol einen Hund in dieser Stellung gesehen zu haben, der ein blumenpfl\u00fcckendes pausbackiges M\u00e4dchen betrachtet. Als die Kleine den Wurm wieder abwickelt und einen Knoten in ihn schl\u00e4gt, schnappt der Hund blitzschnell zu und rennt mit seiner Beute davon. Das M\u00e4dchen schreit auf und beginnt zu weinen.
Claude dreht sich um. Auch ihr ist dieser markersch\u00fctternde Schrei in die Glieder gefahren. \u201eWas ist los?\u201c fragt sie mich mit unruhiger Stimme. \u201eNichts\u201c, sage ich, \u201enichts von Bedeutung. Die Kleine hat ihren Ring verloren.\u201c<\/p>

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Das Spielzeug, ein zerbrochener Spiegel. Das Heim nur ein Stall. Und Augen, in denen f\u00fcr immer die Anklage einer unmenschlichen Kindheit brennen wird<\/em><\/figcaption>\r\n<\/figure>

Wer satt werden will, mu\u00df das Gesetz brechen<\/strong><\/p>

Der automatische Impuls zu fotografieren, den man vor noch ann\u00e4hernd ertragbarem Elend haben kann, ist vollkommen verschwunden. Die Kameras baumeln auf meiner Brust, als geh\u00f6rten sie nicht zu mir, als w\u00e4re ich nie Fotograf gewesen. Es gibt Situationen, wo man nur noch stumm dastehen und Gott bitten kann, der Scham, Zeuge zu sein, eine Ende zu bereiten. Ohnm\u00e4chtiger Zeuge einer Trag\u00f6die, in der die schreienden Frauen, die jammernden Kinder, der Wurm, der Dreck und die arbeitslosen Angestellten nur die heutige Wiederholung t\u00e4glich erlebten Elends aller St\u00e4dte und D\u00f6rfer Siziliens sind. Wenn ich ehrlich mit mir bin, mu\u00df ich gestehen, da\u00df ich vor einem Negerkind oder einem Araberm\u00e4dchen vielleicht noch die Kamera gez\u00fcckt h\u00e4tte, wenn sie mit ihrem Wurm gespielt h\u00e4tten wie mit dem kostbarsten Schmuck der Welt. Weil meine Ohren voll sind von den Propagandaposaunen \u00fcber die hilfsbed\u00fcrftigen Entwicklungsl\u00e4nder, in denen Ost und West mit Rubel und Dollar um die Gunst der unentschiedenen Millionen k\u00e4mpfen. Auch weil das beziehungslos Exotische, das Fremde die Scham vielleicht geschw\u00e4cht h\u00e4tte. Aber hier, vor unserer T\u00fcr, im vergessenen Armenhaus Europas, wo Menschen gleicher Farbe, gleichen Glaubens, gleicher geschichtlicher Vergangenheit schlechter leben als die K\u00fche und Hunde unserer \u00e4rmsten Bauern, fehlten mir der Mut und die Distanz, Bilder einzufangen, die ebenso anklagend sind wie Massengr\u00e4ber und Folterkammern. Und es handelte sich nicht um krasse Einzelf\u00e4lle. Auf der gr\u00f6\u00dften und potentiell reichsten Insel des Mittelmeeres leben 2 300 000 von 4 700 000 Menschen in einem uns unvorstellbaren Elend. Das hei\u00dft, die H\u00e4lfte der Einwohner. 527 000 Familien, f\u00fcr die das t\u00e4gliche Brot nicht der nat\u00fcrliche Lohn getaner Arbeit ist, sondern der fragliche Erl\u00f6s aus Betteln, Stehlen, Prostitution und gelegentlichen Handlangerdiensten. Jeder dieser Menschen w\u00fcrde bei uns im Gef\u00e4ngnis sitzen, weil der Hunger ihn t\u00e4glich zwingt, das Gesetz zu brechen. 46 % aller Sizilianer sind Analphabeten. Ein F\u00fcnftel kennt nur eine Mahlzeit am Tag, dabei essen sie weder Fleisch, noch Fisch, noch Eier oder Milch. In Palma di Montechiaro steht ein Drittel der Einwohner auf der Armenliste der Gemeinde. 13 % haben Trachom, die \u00e4gyptische Augenkrankheit, 15 % Tbc. 5000 von 22 000 Menschen sind Braccianti, das hei\u00dft, landwirtschaftliche Gelegenheitsarbeiter.
Aber lassen wir sie selber zu Wort kommen. Unser diskreter Begleiter ist vor einem H\u00e4uschen stehengeblieben. \u201eHier wohne ich\u201c, sagt er, \u201eSie k\u00f6nnen hereinkommen, wenn Sie wollen. Man nennt mich Ruggero.\u201c
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Die Wohnung besteht aus einem einzigen Raum von ungef\u00e4hr 25 Quadratmetern. Rechts ragen \u00fcber einen gebl\u00fcmten Vorhang die Ohren eines Esels hervor. Links in der Ecke steht ein Bett, auf dem zwei H\u00fchner nach Brotkrumen suchen. Ein Tisch und vier St\u00fchle f\u00fcllen die Mitte des Raumes. An der Wand h\u00e4ngt etwas K\u00fcchengeschirr, darunter liegt ein B\u00fcndel Kleider, gegen das ein Tonkrug mit frischem Wasser lehnt. Einige Heiligenbilder h\u00e4ngen kreuz und quer an den W\u00e4nden. Vier Kinder hocken auf dem Tisch und knabbern an trockenem Brot, w\u00e4hrend die Mutter wortlos an der T\u00fcr steht.
\u201eDas sind die J\u00fcngsten\u201c, sagt Ruggero mit einem Unterton von Stolz, \u201edie vier Gro\u00dfen spielen auf der Stra\u00dfe.\u201c \u201eSchlafen Sie alle zehn hier?\u201c will Marie-Claude wissen.
\u201eDie vier Kleinen mit meiner Frau dort im Bett, ich und die Gr\u00f6\u00dferen auf der Erde. Wir breiten nat\u00fcrlich Kleider aus und Decken.\u201c Schnell f\u00fcgt er einige Worte in sizilianischem Dialekt hinzu, die wir nicht verstehen. Es kommt Leben in die Frau, sie r\u00e4umt die Kinder f\u00f6rmlich vom Tisch. Wir werden aufgefordert, uns zu setzen. Und wieder geht das Getuschel auf sizilianisch los; und Ruggero kramt in seinen Taschen, die Frau in einem Kochtopf, in dem M\u00fcnzen klingeln. \u201eEtwas Wein?\u201c fragt er und reicht seiner Frau, was er in den Taschen gefunden hat. Wir danken. \u201eDoch, doch, meine Frau wird ihn holen.\u201c
Ich kann es nicht mehr mit ansehen. Diese dem\u00fctige Gastfreundschaft des Elends, diese qualvoll groteske W\u00fcrde der Armut erdr\u00fccken mich. Mit einem Sprung bin ich bei der T\u00fcr, packe die Frau am Arm und ziehe sie in den Raum zur\u00fcck. Unter meinem Griff \u00f6ffnet sich ihre Hand. Das Geld f\u00e4llt auf den Tisch. Es sind 135 Lire, 65 Pfennig. Wir starren alle darauf, als h\u00e4tten wir noch nie Geld gesehen. Als meine Augen dem Blick Ruggeros begegnen, sagt er mit ruhiger Stimme, als beantworte er eine nicht ausgesprochene Frage: \u201eJa, das ist alles, was wir besitzen.\u201c<\/p>\r\n

\"\"Das Heim<\/strong> des Landarbeiters Salvatore B. in Palma die Montechiaro ist am Tag der Tummelplatz der H\u00fchner, die das Ungeziefer aus dem Bett picken. Hier gibt es kein Wasser, keinen Herd, keine Toilette, keinen Schrank. Es ist die Unterkunft f\u00fcr die Nacht. Ein Stall f\u00fcr acht Menschen: eine Familie mit sechs Kindern. In diesem Bett schl\u00e4ft die Mutter mit den drei j\u00fcngsten Kindern. Sie ist schwanger. Die anderen schlafen auf der Erde. Alle sind tuberkul\u00f6s. Der Vater kann nicht mehr arbeiten, nur der \u00e4lteste Sohn verdient etwas Geld als Tagel\u00f6hner. In den letzten zwei Monaten hat er elf Tage gearbeitet und 11,700 Lire (80 DM) heimgebracht<\/em>

Von diesem Augenblick an sehen wir Ruggero jeden Tag. Er wird unser F\u00fchrer durch das H\u00e4userlabyrinth von Palma di Montechiaro. Als wir zum Abschied vor einer Flasche Wein sitzen, die wir selber mitgebracht haben, bitte ich ihn, uns sein Leben zu erz\u00e4hlen. Nachdenklich blickt er auf seine Frau. \u201eDas w\u00e4re schon m\u00f6glich, wenn wir allein w\u00e4ren \u2026\u201c
Ich mache ihn darauf aufmerksam, da\u00df keine Fremden im Zimmer sind, da\u00df wir die T\u00fcr schlie\u00dfen k\u00f6nnen.
\u201eNein, das Leben eines Mannes ist nicht f\u00fcr die Ohren von Frauen bestimmt. Allein sein, hei\u00dft unter M\u00e4nnern sein.\u201c Claude ist schon aufgestanden und auch die Frau Ruggeros hat bereits die Kinder auf den Arm gepackt, um das Zimmer zu verlassen. Als wir allein sind, spricht Ruggero. Er beginnt ohne \u00dcbergang, ohne Einleitung, mit monotoner Stimme, als sage er ein Gebet auf, das er vor Jahren auswendig gelernt hat und jetzt herunterleiert, ohne den Sinn wirklich zu verstehen.<\/p>

Arbeit bekommt nur, wer den Lohn unterbietet<\/strong><\/p>

\u201eIch bin Bracciante, Landarbeiter, und habe in den letzten drei Monaten sieben Tage gearbeitet. Jeden Tag gehe ich morgens auf den Platz der Stadt, wo die Angestellten der gro\u00dfen G\u00fcter die Arbeiter f\u00fcr den Tag aussuchen. Ich bin alt, zweiundvierzig Jahre, das gibt mir wenig Chancen. Wenn ich \u00fcberhaupt verdienen will, mu\u00df ich weit unter dem offiziellen Tarif arbeiten. Das ist so: Der Bauer oder sein Verwalter geht zu einem Braccianten und fragt: \u201aWas ist dein Preis?\u2019 \u201aNeunhundert Lire (6 DM)\u2019, sagt der Mann. Dann kommt der Bauer vielleicht zu mir und sagt: \u201aDer da dr\u00fcben macht es f\u00fcr neunhundert Lire, wieviel willst du?\u2019 Ich mu\u00df achthundert sagen, wenn ich \u00fcberhaupt eine Aussicht behalten will. Dann geht der Bauern wieder zu einem anderen und vielleicht wieder zu mir zur\u00fcck und sagt: \u201aDer da dr\u00fcben macht es f\u00fcr siebenhundert Lire, aber der ist zwanzig Jahre j\u00fcnger als du.\u2019 Wenn ich Gl\u00fcck habe, darf ich dann f\u00fcr sechshundert Lire am Tag arbeiten.
Meistens aber bleibe ich mit vielen anderen auf dem Marktplatz. Wir plaudern bis zum Abend, weil jeder Angst hat, sich zu Hause zu zeigen, bevor die Sonne untergeht. Ohne Geld sind wir zu Hause eine Last. Die Frau schreit uns an und weint. Manchmal leiht mir einer zweihundert oder dreihundert Lire. Ich finde vielleicht auch Lasten, die ich f\u00fcr einige Lire schleppen kann Oder ich gehe nach Licata, wo mich keiner kennt. Da bettle ich. Ich verbinde mir dann ein Auge und male einen Teil meines Gesichtes blau an. Oder ich nehme meine drei j\u00fcngsten Kinder mit.
Als ich Kind war, schickte mich mein Vater nach Agrigento betteln. Ich mu\u00dfte dann taubstumm spielen. Er hat mich nie respektiert, deshalb blieb ich damals Analphabet. Ich achte meine Kinder, sie m\u00fcssen zur Schule gehen. Wir waren elf Kinder. Drei starben. Es war eine Epidemie, und eine Nachbarin hatte uns einen verw\u00fcnschten K\u00e4se geschenkt, um unsere Familie ins Ungl\u00fcck zu st\u00fcrzen. Ich wurde auch krank. Meine Mutter lie\u00df eine Magierin kommen, die sollte das Haus vom Fluch der Nachbarin s\u00e4ubern. Sie betete viel. Ich mu\u00dfte zwei Tage neben meinem toten Bruder liegen, mit heiligen Kr\u00e4utern in Nase und Ohren. Es hat geholfen. Auch kein anderer starb in diesem Jahr.<\/p>\r\n

\"\"In fast allen H\u00e4usern ist es wie hier: Mutter und Tochter leben mit ihren elf Kindern in dieser fensterlosen H\u00f6hle. In ganz Sizilien bersten die H\u00e4user unter der Zahl der Kinder<\/em><\/strong><\/p>\r\n


Mit sechs Jahren wurde ich an einen Sch\u00e4fer vermietet. Da lernte ich die Kr\u00e4uter und Wurzeln kennen, die ich jetzt noch an bestimmten Tagen suche und an die Magierinnen verkaufe. Am richtigen Tag ausgegraben, bek\u00e4mpfen die Wurzeln den b\u00f6sen Blick. Es gibt die wei\u00dfe Magie und die schwarze Magie. Die wei\u00dfe hilft. Die schwarze bringt B\u00f6ses. Die Polizei verbietet die schwarze Magie, deshalb behaupten allen, sie trieben nur wei\u00dfe Magie. Das ist nicht wahr. Ich liefere viele Kr\u00e4uter f\u00fcr die schwarze Magie. Auch die Lava ist wirksam, aber die gibt es nicht hier, sondern nur in der N\u00e4he des \u00c4tna. Wenn man das richtige Gebet dar\u00fcber spricht und sie unter das Bett eines Menschen legt, stirbt er in sieben Tagen. Mit Quecksilber kann man das auch machen. Das nimmt man aus Thermometern. Deshalb hat die Apotheke hier fast nie welche.
In den Bergen wurde mein Blut d\u00fcnn, zu d\u00fcnn zum Arbeiten. Das dauerte drei Jahre. Da ich nichts verdienen konnte, schickte mein Vater mich in die Schule. Ich kann lesen. Als der Steinbruch aufgemacht wurde, konnte ich schon wieder arbeiten. Ich schleppte K\u00f6rbe mit Steinen an die Eselskarren. Damals war ich elf Jahre. Als ich ein St\u00fcck Brot a\u00df, kamen drei M\u00e4nner aus unserer Stadt. Ohne ein Wort zu sagen, gingen sie auf den Vorsteher zu. Als sie ganz nah waren, zog einer ein Jagdgewehr unter dem Mantel hervor und scho\u00df dem Vorsteher ins Gesicht. Er war tot. Wir konnten ihn nicht mehr erkenne. Er hatte sich geweigert, der Mafia den Schutzzoll f\u00fcr den Steinbruch zu zahlen. Wir kannten die drei M\u00e4nner, aber keiner von uns sagte etwas. Wir wollten unser Gesicht behalten.
Als Ernesto am n\u00e4chsten Tag erschossen wurde, war ich auch dabei. Die Landarbeiter kommen abends immer in Gruppen vom Feld zur\u00fcck, weil sie Angst haben, \u00fcberfallen zu werden. Einer ist meistens bewaffnet. Er reitet auf seinem Esel voran und sieht stattlich aus mit dem Jagdgewehr \u00fcber dem Sattel. Ernesto hatte sich geweigert, gestohlenes Vieh \u00fcber seine Felder laufen zu lassen. Ein Mann, den ich kenne, hatte mir gesagt, er m\u00fcsse mit Ernesto heimlich verhandeln. Ich sollte Ernesto weit vor der Stadt abfangen und ihm sagen, seine Frau sei krank, und dann querfeldein auf dem k\u00fcrzesten Weg zur Stadt rennen. Er w\u00fcrde schon folgen. Er tat es auch. Als wir die anderen Landarbeiter nicht mehr sahen, wurde Ernesto erschossen. Ich war es, der ihm die Goldz\u00e4hne herausbrach.
In dieser Nacht wurde ich ein Mann. Wir schliefen zu f\u00fcnft in einer Ecke unseres Zimmers. Meine Bruder, meine zwei Schwestern und ich. Die drei kleinen Geschwister schliefen mit Vater und Mutter im Bett. Meine Schwester war vierzehn. Von jetzt an brauchte ich jedesmal ihre N\u00e4he, wenn ich mich in Gefahr f\u00fchlte. Das ist der Fluch der M\u00e4nner: Sie brauchen die Frau, wenn sie schwach sind. Andere sagen, sie brauchen die Frau, um ihre St\u00e4rke zu zeigen. Das ist nicht wahr. Als ich tuberkul\u00f6s war, konnte ich gar nicht genug Frauen bekommen. Je schw\u00e4cher ich wurde, umso mehr brauchte ich sie. Das ist schwer hier, weil die Leute Angst vor b\u00f6sen Zungen haben. Die Ehre liegt auf der Zunge des Nachbarn. Ich mu\u00dfte heiraten, weil ich kein Geld hatte und deshalb meinen Durst nach Frauen nicht stillen konnte. Bei einem Armen gilt die Ehre.
Als die Amerikaner kamen, verga\u00dfen wir unsere Ehre, denn die waren reich. Ich verkaufte meine Schwester, meine Frau. Ich heilte meine Schwindsucht mit amerikanischen Truth\u00fchnerkonserven. Mein Bruder verkaufte seine Tochter. Im Hafen von Licata standen wir alle Schlange. Auch die Knaben und jungen M\u00e4nner a\u00df\"\"<\/strong><\/em>en endlich einmal volle Mahlzeiten.<\/p>\r\n

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Das t\u00e4gliche Brot<\/strong> der Millionen Armen Siziliens besteht tats\u00e4chlich nur aus Brot. Nur selt<\/em>en gibt es Spaghetti, die zu Hause hergestellt werden m\u00fcssen, weil sie sonst unerschwinglich sind. Das bedeutet stundenlange Ar<\/em>beit, um nur einige Pfennige zu sparen. Pfennige, die man nicht h<\/em>at. Mit etwas Mehl, etwas Wasser und viel Geduld \u2013 mit wenig Hygiene \u2013 ern\u00e4hren diese Frauen ihre vierzehn Kinder und ihre arbeitslosen M\u00e4nner<\/em>

Wenn ein Sizilianer meine Frau anr\u00fchren w\u00fcrde, m\u00fc\u00dfte ich ihn t\u00f6ten. Balthasar hat seine Frau erschossen. Sie war mit ihrer Tochter einen Tag nach Catania gefahren. Balthasar verh\u00f6rte seine Tochter. Die erz\u00e4hlte ihm, ihre Mutter w\u00e4re mit ihr, mit einer anderen Frau und einem Mann in eine Auto gestiegen.
Balthasar war f\u00fcnf Jahre im Gef\u00e4ngnis. Man i\u00dft regelm\u00e4\u00dfig im Gef\u00e4ngnis. Mein Schwager, der in Palermo wohnt, war drei Jahre im Gef\u00e4ngnis, weil er gestohlen hatte. Obwohl er nie wieder gestohlen hat, gilt er bei der Polizei als Gewohnheitsverbrecher und wird hin und wieder aus Sicherheitsgr\u00fcnden zur Zwangsarbeit eingezogen. Die mu\u00df er auf der Insel Pantelleria machen. Er bekommt zweihundertf\u00fcnfzig Lire am Tag und seine Familie f\u00fcnftausend Lire alle zwei Monate. Als ich vor zwei Jahren \u00fcberhaupt keine Arbeit fand, lebten wir nur vom Verkauf meiner Kr\u00e4uter. Die Kinder wurden krank. Da schickte ich einen Brief an die Polizei von Palermo und bat sie, mich zur Zwangsarbeit einzuziehen. Sie antwortete nicht. Und dabei ist mein Schwager genauso wenig ein Gewohnheitsverbrecher wie ich.\"\"<\/em><\/p>\r\n

Noch sind Hammer und Sichel f\u00fcr sie nur ein sinnloses Gekritzel,\u00a0das sie verspielt nachahmen. Die Vorlage dazu stammt von ihren V\u00e4tern<\/em><\/strong>

Voriges Jahr verkaufte ich unser Radio, die Bettw\u00e4sche, einen Anzug und lieh mir etwas Geld, um nach Frankreich auszuwandern. Ich brauchte zwanzigtausend Lire (135 DM). Diese gab ich einer hiesigen Organisation, die mich daf\u00fcr heimlich \u00fcber die franz\u00f6sische Grenze brachte. Wir waren siebzehn. Die franz\u00f6sische Polizei griff uns auf und schickte uns wieder zur\u00fcck. Zwei Monate blieben wir in einem Fl\u00fcchtlingslager in der N\u00e4he von Mailand. Dann verlud man uns wieder nach Palma di Montechiaro.
Vor vier Wochen ging ich nach Agrigento. Dort gibt es ein Auswandererb\u00fcro, das Arbeiter f\u00fcr Deutschland sucht. Meine Papiere waren in Ordnung. Meine Schwindsucht ist seit langem ausgeheilt. Sie fanden mich gesund. Aber mir fehlten vier Z\u00e4hne. ‚Wenn Sie vier neue Z\u00e4hne haben, k\u00f6nnen Sie auswandern‘, sagte man mir. Aber vier neue Z\u00e4hne kosten sechzehntausend Lire (107 DM).\u201c
Ruggero l\u00e4\u00dft die Arme sinken. Er kann dem Elend nicht entrinnen.<\/p>

Im n\u00e4chsten Heft:<\/p>

Wer redet, hat sein Leben verwirkt<\/strong><\/p>","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Stern, Heft 13, 26. M\u00e4rz 1960 \u201eWir k\u00f6nnen den Leuten diesen Gestank nicht zumuten\u201c, sagte Claude, als wir endlich vor der chemischen Reinigungsanstalt in Agrigento angekommen waren. \u201eSie werden uns rauswerfen.\u201c\u201eDann k\u00f6nnen wir auch in kein Hotel mehr gehen\u201c, antwortete ich, \u201edenn wir riechen nicht besser als unsere Kleider. Komm, wir m\u00fcssen es versuchen, sonst…<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":61450,"parent":54035,"menu_order":0,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":{"_seopress_robots_primary_cat":"","_seopress_titles_title":"","_seopress_titles_desc":"","_seopress_robots_index":"","footnotes":""},"categories":[],"tags":[],"class_list":["post-54036","page","type-page","status-publish","has-post-thumbnail","hentry","entry","has-media"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54036"}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/types\/page"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/users\/1"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=54036"}],"version-history":[{"count":5,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54036\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":61528,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54036\/revisions\/61528"}],"up":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54035"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media\/61450"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=54036"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=54036"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=54036"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}