{"id":54037,"date":"2017-03-11T14:08:55","date_gmt":"2017-03-11T13:08:55","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=54037"},"modified":"2020-02-01T12:07:40","modified_gmt":"2020-02-01T11:07:40","slug":"wer-redet-hat-sein-leben-verwirkt","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/sizilien\/wer-redet-hat-sein-leben-verwirkt\/","title":{"rendered":"Wer redet, hat sein Leben verwirkt"},"content":{"rendered":"
Stern, Heft 14,\u00a0 2. April 1960 Sizilien 1960. <\/strong>Arbeitslosigkeit scheint nur deshalb die Krankheit industrieller L\u00e4nder zu sein, weil sie dort statistisch erfas\u00dft wird. In landwirtschaftlichen Gegenden wie Sizilien tr\u00e4gt der Arbeitslose andere Namen: Schuster, Handlanger, Bettler, Fris\u00f6r, Schneider oder Schmied sind hier meistens n u r Titel ohne Arbeit, kl\u00e4glich klingende Hoffnungen leerer H\u00e4nde und M\u00e4gen. In Bisacquino, einen Ort von 8370 Einwohnern, gibt es 870 Handlanger, 45 Schuster, 24 Fris\u00f6re, 30 Tischler, 30 Schneider, 25 Schmiede, von denen jeder nur vier bis f\u00fcnf Tage im Monat arbeitet; 400 Bauarbeiter mit durchschnittlich 130 Arbeitstagen pro Mann und Jahr; 615 Landarbeiter, die zusammen 65 000 Tage j\u00e4hrlich besch\u00e4ftigungslos sind. Es gibt auch 20 Gesch\u00e4ftsleute, die Kredit vergeben und daf\u00fcr 40-60 Ptozent Zinsen verlangen.<\/p>\n Durch die Hauptstra\u00dfen f\u00fchren Bisch\u00f6fe in goldbesticktem Ornat and\u00e4chtig pr\u00e4chtige Prozessionen<\/em><\/strong><\/p>\n In den Gassen w\u00fcrfeln verkommene Kinder um Geld<\/em><\/strong><\/p>\n <\/p>\n <\/p>\n <\/p>\n <\/p>\n \u201eHerr Ausl\u00e4nder, he, Herr Ausl\u00e4nder!\u201c Der gefl\u00fcsterte Ruf mu\u00df mir gelten, denn wer k\u00f6nnte in dieser d\u00fcsteren Stra\u00dfe, um diese Zeit noch so angesprochen werden. Ich drehe mich um. \u201eHier, Herr Ausl\u00e4nder, hier.\u201c Aus einem d\u00fcsteren Hauseingang ragt ein Arm heraus, daran h\u00e4ngt eine Hand, die ganz eindeutig, fast befehlend \u201ekomm her\u201c macht. <\/strong><\/em><\/p>\n Man stiehlt selten \u2013<\/strong> wenn man einen Erwerb hat wie diese siebzigj\u00e4hriger Mann aus Palermo. U<\/em>nunterbrochen, seit seinem sechsten Lebensjahr verkauft Vincenzo Paladino Sicherheitsnadeln zwischen der Stra\u00dfe des Heiligen Augustins und den Platz der Vierzig M\u00e4rtyrer. Zwei Mark Verdienst pro Tag w\u00e4hrend des ganzen Lebens<\/em> <\/strong><\/em><\/p>\n <\/p>\n <\/p>\n Man stiehlt nie \u2013<\/strong> wenn man eine Kuh besitzt. Selbst wenn man wollte, k\u00f6nnte man nicht betr\u00fcgen, indem man verw\u00e4sserte Milch in gekorkten Flaschen anbietet. In Palermo hat man gelernt, mi\u00dftrauisch zu sein. Jeder K\u00e4ufer kann Verlangen: vor seiner T\u00fcr, in seinen Topf und unter seiner Aufsicht mu\u00df die Kuh f\u00fcr ihn gemolken werden<\/em><\/p>\n <\/p>\n <\/p>\n <\/p>\n Man kann nicht mehr stehlen \u2013<\/strong> wenn einen die Beine nicht mehr tragen oder wenn die Augen nicht mehr sehen. Dann mu\u00df man betteln gehen vor den T\u00fcren der Kirchen und eleganten Hotels. Aber betteln ist alles andere als ein ruhiger Lebensabend. Immer wieder mu\u00df man gegen seinesgleichen k\u00e4mpfen, manchmal sogar mit Dolch und Faust; denn jeder will f\u00fcr sich den eintr\u00e4glichsten Platz behaupten<\/em><\/p>\n <\/p>\n <\/p>\n Stehlen oder hungern \u2013<\/strong> sie haben keine andere Wahl; denn eine solche Drehorgel ern\u00e4hrt nicht ihre drei Begleiter. Viertausend\u00a0Lire (sechsundzwanzig Mark) pro Tag f\u00fcr drei Familien, ist der Erl\u00f6s einer guten Orgel<\/em><\/p>\n Ich wei\u00df. Es gibt ein ungeschriebenes, dabei aber eisernes Gesetz, welches das ganze Leben eines Sizilianers bestimmt: die Omert\u00e0, ein un\u00fcbersetzbarer Begriff, der ann\u00e4hernd \u201eSolidarit\u00e4t durch Schweigen\u201c bedeutet. F\u00fcr einen Sizilianer gibt es im Grunde kein schlimmeres Verbrechen, als \u00fcber die Taten oder Untaten eines anderen zu \u201esprechen\u201c, das hei\u00dft, so zu sprechen, da\u00df Polizei und Obrigkeit es erfahren. F\u00fcr jemanden der spricht, gibt es kein Pardon. Man mu\u00df die Omert\u00e0 kennen, wenn man Sizilien auch nur ann\u00e4hernd verstehen will. Sie ist der Schl\u00fcssel, den ich dem Leser an die Hand geben mu\u00dfte, bevor ich ihm zumuten kann, weiterhin diese Geschichten zu lesen, die, auf unsere Werte bezogen, phantastisch und unwirklich klingen w\u00fcrden. Ich halte also voller Spannung vor dem Hausflur und atme erleichtert auf, als ich ihn gelassen in der T\u00fcr stehen sehe. Er hat also Vertrauen, sonst h\u00e4tte er sich n\u00e4mlich irgendwo versteckt gehalten, um zun\u00e4chst einmal zu sehen, ob ich auch allein vorfahre. Das leuchtet mir ein. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, wo man in diesen Elendswohnungen Betr\u00e4ge von 40 000 Lire im Handumdrehen aus der Tasche ziehen kann. Ein kleiner Kapitalist<\/strong> <\/p>\n <\/strong><\/em><\/p>\n <\/p>\n <\/p>\n <\/p>\n <\/p>\n <\/p>\n Ein richtiger Kapitalist<\/strong> <\/p>\n Aus den Erkl\u00e4rungen Carmelos klingt der Stolz, einen richtigen Beruf zu haben und nicht verurteilt zu sein, an Stra\u00dfenecken gestohlenen Kleinkram zu verkaufen, Lumpen und Alteisen zu sammeln, ein bis zwei Schuhe im Monat zu flicken oder verzweifelt den kleinen Verdienstm\u00f6glichkeiten nachzugehen, wie dem Verkaufen von Nadeln, Krawatten oder Kragenst\u00e4bchen, was kein verstecktes Betteln zu sein scheint, sondern bereits einen ersten Schritt auf der sozialen Stufenleiter bedeutet. Und jetzt f\u00e4llt mir die d\u00fcmmste Frage ein, die man in solch einer Situation stellen kann: \u201eHaben Sie denn nie ein schlechtes Gewissen, wenn Sie jemandem etwas wegnehmen?\u201c <\/p>\n Die Eltern sind arbeitslos, aber die Kinder schuften. Das Gesetz des Hungers ist ebenso grausam f\u00fcr sie wie f\u00fcr ihre V\u00e4ter. Wer nichts verdient und wer nicht betten will, mu\u00df\u00a0sich sein Brot in den Abf\u00e4llen der Stra\u00dfe suchen<\/em><\/strong><\/p>\n <\/p>\n <\/em><\/strong><\/p>\n <\/p>\n Prostitution mu\u00df die Witwenrent<\/strong>e ersetzen<\/strong><\/p>\n Als er vierzehn war, wurde seine Schule dann von der Polizei ausgehoben. Jemand hatte sie angegeben. Carmelo wu\u00dfte, wer. Schon lange erwartete man von ihm, da\u00df er sich beweise, eine Art Aufnahmeexamen. Es wurde ihm befohlen, den Verr\u00e4ter in eine bestimmte Haust\u00fcr zu locken. Dort wurde es von zwei Erwachsenen erstochen. Einen Schuh gef\u00e4llig?<\/strong> Wenn die Sohle durch ist und das Oberleder br\u00fcchig, kauft man sich nicht ein paar neue Schuhe. Man w\u00fchlt in diesem Haufen herum, bis man einen gefunden hat, der zu dem noch guten Schuh pa\u00dft<\/em><\/p>\n <\/p>\n <\/p>\n Gott kann nicht schuldig sein<\/strong><\/p>\n Vittoria setzt sich wieder ans Feuer. Die M\u00e4nner starren immer noch regungslos auf die Frauen. Die Ratten sind mit dem Fell verschwunden. Auch die Hochschwangere ist nicht mehr da. Das junge M\u00e4dchen wartet immer noch in ihrer Ecke und zittert vor K\u00e4lte. Im n\u00e4chsten Heft:<\/p>\n Blut ist billiger als Geld<\/strong><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":" Stern, Heft 14,\u00a0 2. April 1960 Sizilien 1960. Arbeitslosigkeit scheint nur deshalb die Krankheit industrieller L\u00e4nder zu sein, weil sie dort statistisch erfas\u00dft wird. 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\n<\/em><\/p>\n
\nIch habe zun\u00e4chst einmal Angst. In Palermo verschwindet man leicht, und noch leichter verschwinden Geld, Kameras, Schuhe und Hemd. Entweder stehen hinter diesem Arm zwei oder drei Kerle, die mich auf Reichweite heranrufen, um mich zu packen und auszurauben, oder es h\u00e4ngt ein Mann daran, der mir ein M\u00e4dchen verkaufen will.
\nNach einigem Z\u00f6gern siegt die journalistische Neugier \u00fcber die Angst. Ich bleibe jedoch in respektvoller Entfernung, denn diese Hand bewegt sich immer noch in der typischen Art der Mittelmeerv\u00f6lker, die, wenn sie jemanden heranwinken, nicht wie wir den Arm fast z\u00e4rtlich umarmend nach oben f\u00fchren, sondern die ausgestreckten Finger von oben nach unten bewegen, als wollten sie zuschnappen und herrisch Besitz ergreifen.
\n\u201cSono latitante\u201c \u2013 ich bin auf der Flucht\u201c, fl\u00fcstert die Stimme, deren Besitzer ich immer noch nicht erkenne. \u201eIch brauche Geld f\u00fcr eine Hose und den Bus nach Montelepre. Bitte helfen Sie mir, Herr Ausl\u00e4nder.\u201c
\nDie Stimme klingt so kl\u00e4glich, da\u00df ich sofort in den Hauseingang trete und mir den Mann ansehe. Unter einem zerrissenen Regenmantel schauen tats\u00e4chlich zwei nackte Beine hervor, mit roten Socken, an denen die schwarzen, auf Hochglanz geputzten und \u00fcberaus spitzen Halbschuhe grotesk wirken. \u00dcber einem unrasierten Gesicht und Augen, denen der Schlaf seit Tagen zu fehlen scheint, steht eine Schirmm\u00fctze.
\n\u201eSind Sie Chauffeur\u201c, frage ich.
\n\u201eNein, mein Herr, ich bin Taschendieb.\u201c
\n\u201eUnd das sagen Sie mir so ins Gesicht?\u201c
\n\u201eIch kenne die Ausl\u00e4nder\u201c, sagt er stolz. \u201eWenn ich Ihnen die Wahrheit sage, helfen Sie mir vielleicht eher, als wenn ich Sie anl\u00fcge.\u201c
\nIrgendwie hat er recht, besonders in meinem Fall, denn ich werde mir nat\u00fcrlich nicht die Gelegenheit entgehen lassen, einen der hunderttausend Diebe und Verbrecher Palermos anzuh\u00f6ren, der durch die Umst\u00e4nde gezwungen scheint, sich mir anzuvertrauen. Ich schlage ihm deshalb vor, hier zu warten, bis ich mit dem Auto vorfahre.
\n\u201eAber nicht mit der Polizei,\u201c sagt er, und unwillk\u00fcrlich f\u00e4hrt seine Hand in die Manteltasche, wo wahrscheinlich das Messer steckt, das hier jeder seiner Art bei sich tr\u00e4gt. \u201eSie wissen \u2026\u201c, beginnt er, unterbricht sich dann aber, um mich nur still anzusehen<\/p>\n
\nMan stiehlt selten \u2013 wenn man einen Erwerb hat wie diese siebzigj\u00e4hriger Mann aus Palermo. Ununterbrochen, seit seinem sechsten Lebensjahr verkauft Vincenzo Paladino Sicherheitsnadeln zwischen der Stra\u00dfe des Heiligen Augustins und den Platz der Vierzig M\u00e4rtyrer. Zwei Mark Verdienst pro <\/em>Tag w\u00e4hrend des ganzen Lebens<\/em><\/p>\n
\nEin Mord ist verzeihbar, weil er seinen Grund hat; die Blutrache ist es, weil Ehre und Blut es fordern; der Diebstahl, weil die Not dazu zwingt; ein Bruch des Schweigens darf jedoch nie verziehen werden, weil es keinen Grund daf\u00fcr geben kann: Denn es ist f\u00fcr den Sizilianer das einzig wirkliche, das absolute Verbrechen.
\nAuch wir w\u00fcrden es uns zweimal \u00fcberlegen, bevor wir einen Freund anzeigen, jedoch die Polizei sofort rufen, wenn wir die Zeugen eines Diebstahls w\u00fcrden oder s\u00e4hen, da\u00df ein Mensch ermordet wird. Ein richtiger Sizilianer w\u00fcrde stumm vor\u00fcbergehen und nicht einmal seiner Frau davon erz\u00e4hlen. Keiner w\u00fcrde je erfahren, was er gesehen oder geh\u00f6rt hat. Das ist Omert\u00e0.
\nSie bezieht sich nicht nur auf wichtige Dinge, denn im Laufe der Zeit ist sie zu einer Art Geisteskrankheit geworden, einem bedingten Reflex, der durch jede, selbst die unbedeutendste Frage automatisch ausgel\u00f6st werden kann.
\nEinige Tage vor meiner Begegnung mit dem Taschendieb erlebten wir einen typischen Fall dieser Art. Wir fuhren nach Corleone, einem der Hauptst\u00fctzpunkte der Mafia, und ein Bekannter hatte uns gebeten, dort seinem Neffen \u201cguten Tag\u201c zu sagen. In den D\u00f6rfern und kleinen St\u00e4dten Siziliens braucht man dazu keine Adresse, es gen\u00fcgt auf den Platz zu gehen, um zu fragen. Meistens ist der Gesuchte selber dort. Wir fragten also nach Giuseppe Motta.
\n\u201eKenne ich nicht\u201c, sagte der erste. \u201eNie geh\u00f6rt\u201c, antwortete der zweite. \u201eKeine Ahnung\u201c, der dritte. Nachdem wir zwanzig \u00e4hnliche Antworten erhalten hatten, und auch keiner der achtzig oder hundert M\u00e4nner, die alle mittlerweile wu\u00dften, was wir wollten, Anstalten machte, uns zu helfen, gingen wir entt\u00e4uscht in die Wirtschaft, die zu jedem Platz geh\u00f6rt, und bestellten einen Kaffee. Einer der Befragten, ich glaube der zweite, stand pl\u00f6tzlich wie zuf\u00e4llig neben mir und fragte so ganz nebenbei, was wir denn von Giuseppe Motta wollten.
\n\u201eUns schickt sein Onkel aus Palermo.\u201c
\n\u201eAch so\u201c, sagte er ohne jede Verlegenheit. \u201eGiuseppe Motta, das bin ich.\u201c
\nAm st\u00e4rksten spielt die Omert\u00e0, wenn man selber der Betroffene eines Verbrechens ist, und ganz besonders, wenn Blut flie\u00dft. Man wird nie sagen, wer der T\u00e4ter ist, selbst wenn man dabei stirbt, und keine Verwandter des Toten wird die Namen der Schuldigen preisgeben, auch wenn sie alle dabeigewesen sind; nicht einmal seine Mutter. Denn es ist nicht die Sache der Polizei, sondern ausschlie\u00dflich der Familie, Blut mit Blut zu s\u00fchnen. F\u00fcr einen Sizilianer hat der M\u00f6rder n\u00e4mlich kein Verbrechen gegen die Gesellschaft begangen, sondern nur gegen die betroffene Familie. W\u00fcrde es jemand wagen, die M\u00f6rder zu \u00fcberf\u00fchren, dann h\u00e4tte er zu dem Verlust eines Menschen noch den Verlust der Ehre gef\u00fcgt und dadurch eine schwereres Verbrechen begangen als der M\u00f6rder. Er h\u00e4tte gezeigt, da\u00df er Vater und Br\u00fcder des Toten f\u00fcr unf\u00e4hig h\u00e4lt, die Ehre ihrer Familie zu sch\u00fctzen und zu r\u00e4chen. Diese m\u00fc\u00dften dann warten, bis der \u00dcberf\u00fchrte seine Strafe abgesessen hat, um ihn beim Verlassen des Zuchthauses niederzuschie\u00dfen oder, falls sie zu alt werden, die j\u00fcngeren Geschwister t\u00e4glich ermahnen: den m\u00fc\u00dft ihr t\u00f6ten.
\nEin Beispiel f\u00fcr Omert\u00e0, welches in diese Richtung geht, erlebte ich vor einigen Jahren, als ich mit dem Wagen durch Sizilien fuhr. Auf einem Feldweg fand ich einen jungen Sch\u00e4fer, der aus tiefen Wunden an Kopf und Hals blutete. Ich ri\u00df die T\u00fcr auf und rief ihm zu, schnell einzusteigen, aber er sch\u00fcttelte nur stumm den Kopf. \u201eSie m\u00fcssen sofort zum Arzt, das sind gef\u00e4hrliche Messerstiche\u201c, schrie ich au\u00dfer mir. Er antwortete immer noch nicht. Als ich ausstieg, auf ihn einredete und ihn angesichts seines Schweigens kurzerhand zum Wagen zog, schlug er mir mit seinem Hirtenstab \u00fcber den Arm und rannte davon. Auch unter seinem zerrissenen Hemd klafften Wunden.
\nIm n\u00e4chsten Dorf hielt ich auf dem Platz und fragte nach der Polizei, um sie zu bitten, den Jungen vor dem Verbluten zu retten. Die M\u00e4nner blickten nur stumm auf die Blutspitzer an meinem Wagen, und keiner gab mir die gew\u00fcnschte Antwort.
\nIch mu\u00dfte wieder vor den Ort fahren, weil ich vergessen hatte, auf das gro\u00dfe Schild zu schauen, auf dem die Adresse der Carabinieri angeschrieben stand. Endlich begriff ich, warum vor allen Orten Siziliens nicht etwa die Einwohnerzahl oder die Sehensw\u00fcrdigkeiten aufgef\u00fchrt sind, sondern wie eine Mahnung an den Reisenden die Anschrift der Polizei steht. Ich habe oft gefragt, warum die sch\u00f6nsten Stra\u00dfenschilder Siziliens den Carabinieris gewidmet sind, jedoch nie eine zufriedenstellende Antwort erhalten. Ich glaube, es ist eine Ma\u00dfnahme gegen die Omert\u00e0.
\nDiese Omert\u00e0, dieses f\u00fcr uns sinnwidrige Taubstummdummtun ist der Grundzug der sizilianischen Lebenshaltung. Sie ist die oft blutige Spielregel einer Gesellschaft, f\u00fcr die der Versto\u00df gegen das offizielle Gesetz nicht etwa ein Vergehen ist, sondern ganz im Gegenteil zum einzigen Ausdruck der inneren Unabh\u00e4ngigkeit wurde, zum Beweis der Ehre, M\u00e4nnlichkeit und W\u00fcrde. Sie ist auch das oberste Gesetz der Mafia , das Gesetz, das es ihr erlaubt hat, die gr\u00f6\u00dfte Verbrecherorganisation der Welt zu werden<\/p>\n
\nSo ist es auch mit meinem fl\u00fcchtigen Taschendieb. Wenn ich mit der Polizei zur\u00fcckk\u00e4me, w\u00fcrde er wahrscheinlich stolz auf mich zugehen und mir sein Messer in den Leib rennen. Er, der zitternd in der T\u00fcr steht, weil er vielleicht einige Wochen Gef\u00e4ngnis abzusitzen hat, und ohne Hose nicht fliehen kann, w\u00fcrde ohne Z\u00f6gern zwanzig Jahre Zuchthaus auf sich nehmen. Denn wenn ich gegen die Omert\u00e0 versto\u00dfe, wenn ich ihn dem offiziellen Gesetz ausliefere und mich unter dessen Schutz stelle, begebe ich mich in das Reich seiner Gesetze. Dann ist er nicht mehr Dieb oder M\u00f6rder, sondern der Vollstrecker eines Urteils, und hierf\u00fcr, f\u00fcr \u201eVerbrechen an der Ehre\u201c, ginge er stolz ins Zuchthaus.
\nIch wei\u00df dies. Ich wei\u00df aber auch, da\u00df, wenn ich, ein Ausl\u00e4nder, seine Gesetze respektiere, er mein Besch\u00fctzer werden mu\u00df. Das geh\u00f6rt auch zu den strengen Spielregeln seiner Welt. Und da ich Ausl\u00e4nder bin, wird er mit mehr vertrauen als einem seiner Freunde; es ist n\u00e4mlich ganz ausgeschlossen, da\u00df unsere Interessen sich irgendwie \u00fcberschneiden. Im \u00fcbrigen habe ich selten Menschen getroffen, die so frei und offen \u00fcber sich und ihr Leben reden wie die Sizilianer. Das scheint zun\u00e4chst im Widerspruch zur Omert\u00e0 zu stehen, ist es aber keinesfalls. Im Gegenteil: Gerade weil die Omert\u00e0 ein derartiger Zwang ist, f\u00fchlt der Sizilianer den unwiderstehlichen Drang, dann zu sprechen, wenn er sich sicher f\u00fchlt.
\nUnd wenn ich noch einen letzten Grund brauche, um mich zu \u00fcberzeugen, den Mann nicht anzuzeigen, dann brauchte ich mir nur zu sagen, da\u00df achtzig Prozent aller Sizilianer im Gef\u00e4ngnis sitzen m\u00fc\u00dften, wenn man nach unseren Ma\u00dfst\u00e4ben rechten wollte, und der Baron aus Trapani, mit dem ich heute zu Mittag gegessen habe, und sein Freund, der Abgeordnete, tausendmal mehr auf dem Gewissen haben \u2013 und nicht aus Not \u2013 als dieser kleine Taschendieb.<\/p>\n
\nSobald er neben mir im Auto sitzt, dreht er das Fenster herunter, nicht etwa um nach m\u00f6glichen Verfolgern Ausschau zu halten, sondern um seinen Arm bequem auflegen zu k\u00f6nnen, und es sich gem\u00fctlich zu machen. Er lehnt sich zur\u00fcck, kreuzt die nackten Beine und bittet mich um eine Zigarette.
\n\u201eMeine Zigaretten sind in der Hose\u201c, sagt er l\u00e4chelnd, dies ist die erste seit vierundzwanzig Stunden. Danke.\u201c
\nDieses \u201eDanke\u201c gilt eindeutig nur der Zigarette. \u00dcber das Auto und meine Bereitschaft zur Hilfe wird weder jetzt noch sp\u00e4ter je gesprochen. Nachdem wir einige Minuten durch die n\u00e4chtlichen Stra\u00dfen gefahren sind und das Schweigen nur durch kurze Zurufe unterbrochen wird, mit denen er mir die Richtung andeutet, beginnt er zu erz\u00e4hlen:
\nGestern nacht war die Polizei auf die ausgefallene Idee gekommen, eine der vielen Armenstadtteile Palermos zu umstellen, um systematisch nach all denen zu fahnden, die wegen irgendwelcher Vergehen zu Geldstrafen verurteilt waren, aber noch nicht bezahlt hatten.
\nEr, Carmelo, war vor sieben Monaten geschnappt worden, als er einem amerikanischen Seemann die Ges\u00e4\u00dftasche mit einer Rasierklinge aufschnitt und die herausfallende Brieftasche etwas ungeschickt auffing. Eine vorbeigehende Frau hatte ihn im entscheidenden Augenblick gesto\u00dfen, f\u00fcgt er erkl\u00e4rend hinzu. Er war nat\u00fcrlich verurteilt worden und zwar zu einer Geldstrafe von vierzigtausend Lire (268 DM), die, falls er sie schuldig blieb, mit hundert Tagen Gef\u00e4ngnis bezahlt werden mu\u00dfte (vierhundert Lire pro Tag). Er hatte selbstverst\u00e4ndlich nicht bezahlt, und gestern wollte die Polizei nun endlich kassieren, entweder das Geld oder ihn. All die Polizisten waren nat\u00fcrlich nicht nur seinetwegen in der Nacht losgeschickt worden. In seinem Stadtteil hatte viele andere \u00e4hnliche Schulden an den Staat.
\nDiesmal hatte die Polizei mehr Gl\u00fcck als sonst, weil ausnahmsweise mal keiner von der Razzia unterrichtet worden war. Sie fand zweiundzwanzig schlafende Schuldner. Seine Freunde Salvatore Mazzaro und Francesco Lo Presti sowie f\u00fcnfzehn andere zahlten an Ort und Stelle und konnten ruhig weiterschlafen. Sie hatten Geld. Nur Vito Camaretta, der 10 400 Lire (70 DM) wegen Schmuggels bezahlen mu\u00dfte, wurde f\u00fcr sechsundzwanzig Tage mitgenommen und Giuseppe Camella, der dem Staat noch 145 000 Lire wegen Diebstahls schuldete, mu\u00dfte der Polizei f\u00fcr ein ganzes Jahr folgen. Viele konnten davonlaufen. Die anderen, die verhaftet wurden, waren kleine Fische. Es ist eben Pech, wenn man ohne Geld in der Tasche geschnappt wird.<\/p>\n
\nCarmelo nimmt meine Unterbrechung geduldig hin und erkl\u00e4rt: \u201cWir sind arm und froh, wenn wir gen\u00fcgend Geld f\u00fcr die Zigaretten haben, an die wir uns schon als Kinder gew\u00f6hnen, wenn wir Stummel sammeln. Aber das schlie\u00dft nicht aus, da\u00df wir hin und wieder gr\u00f6\u00dfere Betr\u00e4ge in der Tasche haben, nat\u00fcrlich nur wir Diebe und Schmuggler\u201c, sagt er arrogant. \u201eWenn wir einen gro\u00dfen Fisch an Land ziehen, k\u00f6nnen wir uns pl\u00f6tzlich an der Spitze von 50 000 Lire (335 DM) befinden, die uns \u00fcber die mageren Wochen und Monate hinweghelfen. Die \u00c4lteren sind gescheiter als wir. Sie haben Erfahrung. Sie haben oft genug gesessen, um zu wissen, da\u00df sie etwas Geld auf die Seite legen m\u00fcssen, weil es zu ihrem Beruf geh\u00f6rt, sich hin und wieder freizukaufen.
\nCarmelo lacht aus vollem Halse, als er mein ungl\u00e4ubiges Gesicht sieht und merkt, da\u00df ich in Gedanken versunken angehalten habe und automatisch die Handbremse ziehe.
\n\u201eWovon leben Sie\u201c, fragt er.
\n\u201eIch schreibe und fotografiere.\u201c
\n\u201eNa sehen Sie, Sie haben auch einen Beruf\u201c, ruft er begeistert, als habe er das Ei des Kolumbus entdeckte und mir die logischste Beweisf\u00fchrung seines Lebens serviert.
\n\u201eIch sehe gar nichts\u201c, mu\u00df ich gestehen.
\nMitleidig schaut er mich an: \u201eSie sind auch kein Herr, denn Sie m\u00fcssen arbeiten, um Ihr Geld zu verdienen. Genau wie wir. \u201eUnd wenn Sie einmal ein schlechtes Bild machen oder Ihre Schreibmaschine kaputtgeht, dann werden Sie auch nicht gleich Ihren Beruf an den Nagel h\u00e4ngen und verhungern. Genau wie wir. Keiner wird seinen Beruf aufgeben, weil er mal Pech gehabt hat. Wie sollte er sonst essen?\u201c<\/p>\n
\n<\/em>ist man schon, wenn man s<\/em>ich <\/em>Luftballons anfertigen kann und sie gegen leere Flaschen eintauscht, die man gewinnbringend verkauft. Marcello C. hat aber noch einen anderen Verdienst: Auf seinen langen Wanderungen durch die Stra\u00dfen Palermos liest er Apfelsinenschalen auf, die seine Frau zu Hause w\u00e4scht und dann verkauft. Was wir als Abfall werten und achtlos fortwerfen, was bei uns die M\u00fcllabfuhr holt, wird hier noch zu Handelsware, mit der man Gesch\u00e4fte machen kann.<\/em><\/p>\n
\n<\/em>wird man, wenn man das Geld hat, die Traummahlzeit einer Familie zu kaufen: ein Kilo Spaghetti, ein Kilo Hammelfleisch, einen Liter \u00d6l, vier Tomaten, eine Flasche Wein und die n\u00f6tige Holzkohle, um alles zu kochen. Hiermit zieht man schreiend durch die Stra\u00dfen und verlost es. 1000 Lose zu 10 Lire (7 Pfennig) das St\u00fcck. Selbst die \u00c4rmsten k\u00f6nnen der Versuchung nicht widerstehen, vielleicht einmal richtig zu essen f\u00fcr nur sieben Pfennig eine Mahlzeit, die 14 \u00a0Mark kostet. Die Lose sind schnell verkauft. Ausgaben: 14 Mark, Einnahmen 70 Mark. Gewinn: 56\u00a0Mark\u00a0\u2013 aus 999 verhungerten Tr\u00e4umen<\/em><\/p>\n
\nCarmelo spricht mit einer gewissen R\u00fchrung von diesen \u201ekleinen Gewerben\u201c, wie er sie nennt. Sein Vater ist Lumpensammler. Jahraus, jahrein m\u00fcssen seine Mutter und seine Schwestern die schmutzigen Lumpen waschen, weil die Grossisten nur f\u00fcr saubere Lumpen zahlen.
\n\u201eDie armen Leute, die \u201akleinen Gewerbe\u2019 sind am schlimmsten dran\u201c, sagt er nachdenklich. \u201eAuch bei den Razzien der Polizei schneiden sie immer am schlechtesten ab. Wir, die Berufsdiebe, wir retten uns meistens. Wir haben gen\u00fcgend Geld in der Tasche, oder wir sind rechtzeitig benachrichtigt worden. Der Mann der kleinen Gewerbe wandert ins Kittchen, weil er hin und wieder stiehlt und wegen mangelnder Praxis \u2013 ohne den Schutz, der hinter uns steht \u2013 leichter geschnappt wird als wir. Auch weil er mit seiner Arbeit und den winzigen Gelegenheitsdiebst\u00e4hlen nie das Geld zusammenbringt, die Strafe zu zahlen. Man mu\u00df sich eben spezialisieren, um wenigstens mit dem Kopf \u00fcber dem Dreck zu schwimmen.\u201c<\/p>\n
\nEr richtet sich auf. Die etwas nonchalante Haltung ist vollkommen gewichen. Seine Augen starren auf die Kathedrale von Palermo, vor der ich gerade gehalten hatte und hinter deren Mauern die Elendsviertel beginnen.
\n\u201eHat Gott ein schlechtes Gewissen, wenn er zul\u00e4\u00dft, da\u00df wir verhungern? Haben es die Reichen in Palermo und Rom? Verhungern lassen ist schlimmer als stehlen, ja, morden ist schlimmer als stehlen.\u201c Er wiederholt es immer wieder \u201eRubare \u00e8 vivere \u2013 stehlen ist leben, stehlen ist leben \u2026\u201c
\nIch habe selten soviel arrogante Traurigkeit im Gesicht eines Menschen gesehen, soviel tote Hoffnung.
\nUm das Thema zu wechseln frage ich ihn, wie er ohne Hose in den Hausflur gekommen ist, und er erz\u00e4hlt diesmal ohne Pathos, da\u00df er eigentlich meistens angezogen schlafe, da es unziemlich sei, sich als erwachsener Mann vor Frauen auszuziehen. Aus einem Grunde, den er nicht angibt, hatte er diese Nacht die Hose ausgezogen. Als die Polizei an die T\u00fcr klopfte, hatte er gerade noch Zeit gehabt, Mantel und Schuhe zu ergreifen und durch die Dachluke zu verschwinden. In der Hose war sein Geld. Er schien besorgt darum, denn er wohnte zwar bei seinen Eltern, aber es lebten auch entfernte Verwandt in deren Zimmer.
\nGestern war gerade sein Geburtstag gewesen. Der f\u00fcnfundzwanzigste. Mit sechs Jahren hatte er angefangen zu arbeiten. Zun\u00e4chst als Handlanger auf dem Gem\u00fcsemarkt, dann als Laufjunge in einer Wirtschaft. dort hatte ihn eine eleganter Herr angesprochen und sich von ihm zu seinem Vater f\u00fchren lassen. Der Vater war gl\u00fccklich, als der Herr ihm anbot, Carmelo auf die Taschendiebschule zu schicken. Es war eine Auszeichnung, auf die der ganze Stadtteil neidisch war, denn Taschendiebe werden meistens im Viertel Kalsa ausgew\u00e4hlt.<\/p>\n
\nVon nun an hatte Carmelo ein gutes Leben.
\nDer Meister schickte ihn zur Hochsaison nach Taormina und Messina, wo er viele Ausl\u00e4nder kennenlernte, besonders Engl\u00e4nder und Deutsche, denen er das Geld nicht nur auf der Stra\u00dfe aus der Tasche zog. Was bequemer und eintr\u00e4glicher war.
\nAm Gewinn war er mit zwanzig Prozent beteiligt. Den Rest mu\u00dfte er bei der Gilde abliefern, sonst w\u00e4re ihm die Arbeitsgenehmigung entzogen worden. Selbstst\u00e4ndige Taschendiebe gibt es nicht. Wer allein arbeiten will, wandert ins Gef\u00e4ngnis oder wird erstochen. Viele Taschendiebe sind Zuh\u00e4lter. Das ist ein Nebenberuf, der nicht so streng kontrolliert wird, und wo man wenig oder nichts abzugeben hat.
\nOb Stra\u00dfenm\u00e4dchen mich interessieren, will er wissen. Und ohne meine Antwort abzuwarten, bittet er mich, weiterzufahren und in die zweite Querstra\u00dfe einzubiegen.
\nIm Scheinwerferlicht tauchen Gestalten auf, die sich an die Wand dr\u00fccken m\u00fcssen oder in den T\u00fcren verschwinden, um den Wagen vorbeizulassen. Vor einem Haus mu\u00df ich halten. Carmelo steigt aus und klopft an die T\u00fcr. Nach kurzer Zeit erscheint ein Mann, mit dem er einige Minuten spricht, dann ruft er mir zu: \u201eKommen Sie, ich mu\u00df Sie vorstellen. Es ist gut f\u00fcr Sie, wenn man Sie hier kennt.\u201c
\nIch reiche dem fremden Mann die Hand, h\u00f6re aber kaum, was er mir sagt, denn mein Blick ist unwiderstehlich angezogen von diesem dunklen Zimmer, das hinter der offenen T\u00fcr atmet und lebt. Ich erkenne Menschen, viele Menschen. Als meine Augen sich an die Dunkelheit gew\u00f6hnt haben, sehe ich elf Gestalten, die sich unter Decken, M\u00e4nteln und T\u00fcchern abzeichnen wie geb\u00fcndelte Lumpen. Kleine und gro\u00dfe, auf der Erde, kreuz und quer. Ein kleiner Platz ist frei, das mu\u00df das Bett des Hausherrn sein, der hier vor der T\u00fcr steht. Ein S\u00e4ugling liegt neben der Mutter. Hinter deren Kopf zwei halbw\u00fcchsige Jungen und ein M\u00e4dchen. Zwischen zwei St\u00fchlen ein Knabe mit einem Hund in den Armen. Ganz hinten, zwischen der Wand und einem Eimer, vier eng aneinandergeschmiegte K\u00f6rper, die ich nicht erkennen kann. Auf einem winzigen Bett eine alte Frau.
\nIch sehe mich pl\u00f6tzlich wieder in der Kirche von Palma di Montechiaro, wo wir den Priester um eine Unterredung gebeten hatten. \u2013 \u201eEs gibt viel Unmoral\u201c, hatte er auf meine Frage nach der unglaublichen Enge geantwortet, \u201eaber in der Unmoral sind all diese Menschen moralisch, denn sie tun nichts, um die Empf\u00e4ngnis zu verh\u00fcten. Durch diesen Gehorsam vor Gottes Gesetz wird die unmoralische Tat aufgehoben.\u201c
\nIch glaubte meine Ohren nicht zu trauen und fragte ihn, ob er der Ansicht sei, da\u00df Einzimmerwohnungen \u2013 mit verhungerten Familien \u00fcberf\u00fcllt \u2013 eine gute Voraussetzung f\u00fcr christliche Erziehung und Ethik seien.
\n\u201eDie Verantwortung f\u00fcr das Elend liegt bei der zivilen Verwaltung. \u00dcber die Ethik m\u00fcssen wir wachen. Sie verlangt, da\u00df der Akt der Zeugung ein neues Leben schafft.\u201c
\nIch schaue in diesen Stall von Menschen. Wenn diese Treibhausluft menschlicher W\u00e4rme im Halbschlaf Sinne erweckt, denken sie nicht mehr an Gott und seine Gesetze, sondern handeln ganz einfach wie die Tiere, wenn sie noch mehr Leben zwingen, in dieser Enge zur Welt zu kommen.
\nWie hatte ein Kommunistenf\u00fchrer mir erkl\u00e4rt: \u201eDie Kirche ist unser bester Verb\u00fcndeter. Wenn die Zimmer platzen vor Kindern, dann platzt auch endliche diese Gesellschaft. Wenn es so viele leere M\u00e4gen gib, da\u00df auch das Gras nicht mehr ausreicht, sie zu f\u00fcllen, dann werden sie endlich k\u00e4mpfen.\u201c
\nDer Hausherr hat bemerkt, wie mein Blick im Zimmer umherirrt. \u201eDas ist meine Familie\u201c, erkl\u00e4rt er stolz, \u201ezehn Kinder, sechs davon Knaben.\u201c
\nIm Zimmer wird es lebendig. Die Greisin auf dem Bett st\u00f6hnt. Die Frau richtet sich auf und schreit: \u201eKann man denn gar nicht schlafen? Geh auf den Platz, wenn du unbedingt reden mu\u00dft!\u201c Der S\u00e4ugling f\u00e4ngt an zu weinen; ein kleiner Junge antwortet ihm. Im Hintergrund richtet sich ein junges M\u00e4dchen auf und fragt verschlafen, was los ist. Unter den tief herunterfallenden Haaren sieht man ihre Br\u00fcste. Ein sechzehnj\u00e4hrige Junge st\u00f6\u00dft sie lachend zur\u00fcck und wickelt sich eilig aus den Lumpen, um in der T\u00fcr zu erscheinen. Alles fragt, st\u00f6hnt, schreit und weint.
\n\u201eAuf Wiedersehen\u201c, sagt der Hausherr pl\u00f6tzlich. \u201ePiacere, es war mir ein Vergn\u00fcgen\u201c, und schlie\u00dft die T\u00fcr.
\nOhne ein Wort zu sagen, setzen Carmelo und ich uns in den Wagen und fahren weiter. Auf einem kleinen Platz sto\u00dfen wir auf vier Frauen, die auf Schemeln um ein Feuer hocken, das in einer Waschsch\u00fcssel brennt. Ein kleiner, vielleicht achtj\u00e4hriger Junge serviert Kaffee und verschwindet lautlos um die Ecke. Sechs oder sieben Meter hinter den Frauen lungern M\u00e4nner herum, deren Schatten \u00fcbergro\u00df auf den fleckigen schwitzenden Mauern der H\u00e4user spielen, wo erb\u00e4rmliche W\u00e4sche aus dunklen Fenstern tropft. Vier Ratten zerren an einem St\u00fcck Fell, das unter einer Drehorgel h\u00e4ngt. In einer T\u00fcr steht eine hochschwangere Frau und wartet, in einer anderen ein M\u00e4dchen von f\u00fcnfzehn Jahren.
\n\u201eVittoria\u201c, ruft mein Begleiter, \u201eVittoria, ich bin\u2019s, Carmelo.\u201c Eine der Frauen springt auf und st\u00fcrzt ans Auto. \u201eMama mia, Carmelo, du bist\u2019s.\u201c Sie ergreift seine Hand. \u201eIch habe den ganzen Tag gebetet. Siehst du, die Madonna hat mich erh\u00f6rt. Hier bist du wieder, heil und gesund. Danke Madonna, danke Santa Rosalia.\u201c
\nCarmelo zieht seine Hand zur\u00fcck. \u201eDanke dem Ausl\u00e4nder\u201c, sagt er kurz, \u201eder hat mir geholfen.\u201c
\nVittoria schaut mich an, Sie z\u00f6gert, schaut noch einmal. \u201eDen kenn ich\u201c, meint sie, \u201eder hat mich heute morgen fotografiert.\u201c
\nAuch ich schaue genauer hin und erkenne in Vittoria die Witwe, die unbedingt mit ihren Kindern fotografiert werden wollte, als ich in ihrer Stra\u00dfe einige Aufnahmen machte. Sie hatte mir erz\u00e4hlt, da\u00df sie seit dem Tod ihres Mannes gezwungen sei, ihr Geld mit Reinemachen zu verdienen, denn sie erhalte ja \u2013 wie alle Witwen der Armen \u2013 keine Rente.
\n\u201eSch\u00f6nes M\u00e4dchen, was?\u201c fragt Carmelo.
\n\u201eSie ist h\u00fcbsch.\u201c
\n\u201eAlso gut, geht los, ich warte hier. Die \u00fcblichen 500 Lire kommen nat\u00fcrlich nicht in Frage. Sie sind mein Gast.\u201c
\n\u201eNicht jetzt\u201c, sagte ich, um \u00fcberhaupt etwas zu sagen.
\n\u201eNa sch\u00f6n, wann Sie wollen. Ihr kennt euch ja schon. \u201eGeh meine Hose holen, Vittoria\u201c, befiehlt er. \u201eUnd la\u00df ja das Geld stecken.\u201c
\nNach wenigen Minuten ist sie wieder da. Carmelo z\u00e4hlt sein Geld, 2 870 Lire (19 DM). \u201eStimmt\u201c, murmelt er und zieht die Hose an.
\nAls er sich von mir verabschiedet, kommt eine schwarze gebrechliche Gestalt auf mich zu. Sie erhebt die Arme und nimmt Carmelos Gesicht zwischen ihre offenen H\u00e4nde. \u201eMein Sohn\u201c, fl\u00fcstert sie, \u201emein Sohn, mein Sohn.\u201c Carmelo umarmt sie und f\u00fchrt sie wortlos davon.<\/p>\n
\nIch kann, ich will nicht glauben, da\u00df ich hier im Herzen von Palermo bin. Nur zweihundert Meter hinter dem gro\u00dfen majest\u00e4tischen Dom. Am Tag hatten wir das Elend gesehen und jede Stra\u00dfe der Not ausgemessen, um sie gewissenhaft mit Tusche auf unserem Stadtplan einzutragen. Dieses \u201eschwarze Palermo\u201c, wie wir es nannten, bedeckt die H\u00e4lfte der Stadt. Wir wu\u00dften, wie die Menschen dort lebten, wir hatten ihre Gesichter gesehen, freundliche, oft l\u00e4chelnde Gesichter mit traurig anklagenden Augen: die Gesichter des Tages.
\nDieses absto\u00dfende Gesicht der Nacht war jedoch mehr als eine Anklage. Es verurteilte. Uns, mich und Sie, die wir hier gem\u00fctlich in unseren Sesseln sitzen und \u00fcber diese eigenartigen Menschen im sonnigen S\u00fcden den Kopf sch\u00fctteln. Ja, uns, denn es gibt keine Niemandsland der Schuld.
\n\u201eGott kann nicht schuldig sein\u201c, hatte mir ein Fischer in Siculiana stammelnd gesagt, \u201enur Menschen sind schuldig. F\u00fcr unser Leben hier sind wir schuldig, weil wir unwissend sind \u2013 aber das ist nicht unsere Schuld. Wir sind auch schuldig, weil wir nicht k\u00e4mpfen, um die Reichen zu verjagen, aber das k\u00f6nnen wir nicht, solange wir unwissend bleiben. Wieso sind wir schuldig, wenn St\u00e4rkere nicht wollen, da\u00df wir wissend werden? Wir sind schuldig \u2013 aber sie haben Schuld an uns.\u201c<\/p>\n