{"id":54039,"date":"2017-03-11T14:08:55","date_gmt":"2017-03-11T13:08:55","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=54039"},"modified":"2020-03-29T21:32:47","modified_gmt":"2020-03-29T19:32:47","slug":"die-mafia-regiert-sizilien","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/sizilien\/die-mafia-regiert-sizilien\/","title":{"rendered":"Die Mafia regiert Sizilien"},"content":{"rendered":"

\u00a0Stern, Heft 16, 16. April 1960
\n<\/em><\/p>\n

Durch die Weltpresse ging vor kurzem die Meldung, da\u00df vier M\u00f6nche eines sizilianischen Kapuzinerklosters wegen Erpressung, Mithilfe bei Morden und Brandstiftung verhaftet worden sind. Die Stern-Reporter Gordian Troeller und Claude Deffarge besuchten diese M\u00f6nche zehn Tage vor ihrer Verhaftung. Dieser Besuch unserer Reporter mag mit dazu beigetragen haben, da\u00df viele seit Jahren bekannte Verbrechen nicht mehr l\u00e4nger vertuscht werden konnten.<\/strong><\/p>\n

Als die Sonne hinter den Bergen unterging und Mazzarino, die kleine malerische Stadt im Herzen Siziliens in Gold und Purpur tauchte, schritt Angelo Cannada eiligst in sein Haus und verriegelte T\u00fcren und Fenster. \u201eDu zahlst zwei Millionen oder du stirbst\u201c, stand in den Briefen, die er seit einer Woche erhielt, und der Satz war zum lebensbestimmenden Albtraum geworden.
\nEr wollte nicht sterben. Aber er wollte auch nicht zahlen. Wenigstens nicht alles und nicht auf einmal. Er wu\u00dfte, da\u00df es eines Tages zur Abrechnung kommen mu\u00dfte, denn die Maffia l\u00e4\u00dft nie locker, wenn sie einmal ein Opfer ausgesucht hat; vielleicht konnte er mit ihr verhandeln und den Preis dr\u00fccken. F\u00fcr eine Million weniger lohnte es sich schon, etwas \u201aAngst zu haben. Zur Polizei zu gehen, w\u00e4re Irrsinn gewesen, damit h\u00e4tte er sein Todesurteil unwiderruflich selber unterschrieben. Es war besser zu schweigen, zu warten und zu hoffen.
\nEr hatte gen\u00fcgend Geld, viel Geld. Das wu\u00dfte auch die Maffia. Seine L\u00e4ndereien, das sch\u00f6ne Landhaus und die Villa in der Stadt konnten nicht l\u00fcgen. Und doch hatte Angelo Cannada sich entschlossen, um jeden Pfennig zu k\u00e4mpfen.
\nAls er nachdenklich auf seinen Sohn blickt, der einmal all dies erben soll, klopft es an die T\u00fcr. \u201eIch bin\u2019s, Padre Carmelo.\u201c
\nCannada atmet erleichtert auf, als er die vertraute Stimme des M\u00f6nchs vernimmt, der seit f\u00fcnfzig Jahren die Messe in seiner Privatkapppelle liest und der Seelsorger seiner Familie ist. \u201eWillkommen Pater\u201c, ruft er freudig. \u201eGott sei mit dir, mein Sohn.\u201c
\nDer alte M\u00f6nch l\u00e4\u00dft sich ersch\u00f6pft auf einen Stuhl fallen. \u201eDu hast schon vier Briefe erhalten und nicht geantwortet\u201c, sagt er vorwurfsvoll. \u201eDu mu\u00dft zahlen, mein Sohn, und zwar sofort. Man will das Geld sp\u00e4testens morgen haben.\u201c \u2013 \u201eWer, man?\u201c m\u00f6chte Cannada wissen. \u2013 \u201eLeute, die ich nicht kenne\u201c, antwortet der M\u00f6nch ausweichend.
\nBeide M\u00e4nner diskutieren bis sp\u00e4t in die Nacht. Trotz der Beredsamkeit des greisen M\u00f6nchs bleibt Cannadas Geiz gr\u00f6\u00dfer als seine Angst. \u201eIch bin bereit, 250 000 Lire zu zahlen\u201c, ruft er zum Schlu\u00df. Er ergreift die Hand seines Seelsorgers. \u201eIch stelle mich unter Ihren Schutz, Padre. Unter den Schutz Gottes.\u201c Der M\u00f6nch erhebt sich m\u00fchsam. \u201eGott ist Gott\u201c, sagt er, \u201eaber nur wir selber k\u00f6nnen daf\u00fcr sorgen, da\u00df wir nicht get\u00f6tet werden.\u201c
\nIn den folgenden Tagen versuchen noch drei weitere M\u00f6nche des Kapuzinerklosters von Mazzarino, den Bauern Cannada zur Vernunft zu bringen, aber jedesmal bittet er um Bedenkzeit oder versucht, den Preis zu dr\u00fccken.
\nAm 28. Mai 1958 wird er vor den Augen seiner Frau und seines Sohnes von drei maskierten M\u00e4nnern erschossen. Die Lupara rei\u00dft ihm ein gro\u00dfes Loch in den Leib.<\/p>\n

\"\"Opfer der Maffia<\/strong> fallen gew\u00f6hnlich unter den Kugeln der \u201eLupara\u201c, einem Jagdgewehr, dessen Lauf auf halber L\u00e4nge abges\u00e4gt wird, um die Streuung zu vergr\u00f6\u00dfern. Mit einer solchen Waffe k\u00f6nnen hausgemachte Patronen mit zehn bis zw\u00f6lf erbsengro\u00dfen Schrotk\u00f6rnern ihre Opfer schwerlich verfehlen<\/em><\/p>\n

Eine Lupara ist ein Jagdgewehr, dessen Lauf auf halber L\u00e4nge abges\u00e4gt ist, was die Streuung bedeutend verbreitert. Ein Schu\u00df mit zw\u00f6lf erbsengro\u00dfen Schrotk\u00f6rnern kann mit einer solchen Waffe das Opfer nicht verfehlen. Die Lupara ist die typische Waffe der Mafia, sie ist handlich und kann leicht unter den weiten M\u00e4nteln der Bauern versteckt werden.<\/p>\n

\"\"<\/p>\n

Obwohl Angelo Cannada mit dem Leben bezahlt hat, verlangt die Maffia ihr Geld. Im Hause der Hinterbliebenen liest Padre Carmelo die Totenmesse. Anschlie\u00dfend beschw\u00f6rt er die Witwe: \u201eNun mu\u00dft du zahlen. Man will jetzt zehn Millionen oder das Leben deines Sohnes.\u201c Frau Cannada ist nicht erschrocken, sie ist echte Sizilianerin und kennt die Spielregeln. Auch sie will handeln, und man einigt sich auf drei Millionen, zahlbar in sechs monatlichen Raten von 500 000 Lire, die der achtzigj\u00e4hrige M\u00f6nch selber kassiert. \u201eAber ja nicht die Nummern der Banknoten notieren\u201c, warnt er, \u201esonst wei\u00dft du, was passiert.\u201c
\nEr und seine Br\u00fcder kassieren auch bei anderen. Die wohlhabenden B\u00fcrger von Mazzarino haben mittlerweile so viele Drohbriefe erhalten, da\u00df selbst die Polizei davon erf\u00e4hrt. Alle Briefe sind mit der gleichen Maschine geschrieben. In einer kleinen Stadt wie Mazzarino gibt es nicht viele Schreibmaschinen. Es ist deshalb auch nicht schwer, festzustellen, da\u00df die Drohbriefe auf der Maschine des Kapuzinerklosters geschrieben wurden. Dort findet man auch eine Lupara und einige schwarze Seidenstr\u00fcmpfe, wie Banditen sie zur Maskierung \u00fcber den Kopf ziehen.
\n\u201eWir handelten unter Zwang, unter Drohung unseres G\u00e4rtners\u201c, erkl\u00e4ren die M\u00f6nche.
\nDieser G\u00e4rtner ist Analphabet, er kann also keine Briefe tippen. Als man ihn dennoch verhaften will, ist er verschwunden. In Genua kommt man ihm wieder auf die Spur, als er sich anschickt, eine Villa zu kaufen. Er wird in das Gef\u00e4ngnis von Caltanissetta \u00fcbergef\u00fchrt und verh\u00f6rt.
\n\u201eIch bin nur ein Werkzeug in den H\u00e4nden m\u00e4chtiger Herren\u201c, beteuert er. Er hat noch keine Namen genannt, aber am n\u00e4chsten Morgen schon wird er erh\u00e4ngt in seiner Zelle aufgefunden. Selbstmord, sagt die Polizei. Und in Mazzarino geht das Erpressen weiter.
\nPl\u00f6tzlich ist die Lupara der M\u00f6nche nicht mehr im Kloster, sondern man entdeckt sie im Hause eines Landarbeiters. Also mu\u00df er der M\u00f6rder sein. Man entdeckt auch zwei seiner Komplicen, aber keiner nennt die Namen der Auftraggeber. Die drei kleinen Fische werden verhaftet, aber nie verurteilt. Gro\u00dfe Fische sind mittlerweile nach Mazzarino gekommen, der Landeschef der Mafia mit bekannten Abgeordneten, und alles wird vergessen, keiner spricht mehr von den M\u00f6nchen und ihren mysteri\u00f6sen Verbindungen zu ungenannten Mafiaf\u00fcrsten. Im Kloster wird weiter die Messe gelesen, und die M\u00f6nche halten Gottesdienst in den Kirchen der Stadt.<\/p>\n

\"\"
\nVerspielt<\/strong> empfing uns Padre Vittorio da Gela, als er noch glaubte, wir seien Touristen.<\/em> Als er jedoch erfahren hatte, da\u00df wir als Journalisten hierhergekommen waren, mu\u00dften wir ohne Gru\u00df gehen<\/em><\/p>\n

Bis hierher hatten wir die Geschichte verfolgt. Als wir dann am 7. Februar im Kapuzinerkloster von Mazzarino vorsprechen, finden wir Padre Vittorio da Gela, den Besitzer der Schreibmaschine, wie er mit den Kindern des Ortes ein Theaterst\u00fcck f\u00fcr den Karneval ein\u00fcbt. Er empf\u00e4ngt uns mit offenen Armen. Touristen kommen selten nach Mazzerino, und er ist froh, die kleinen Kunstsch\u00e4tze des Klosters aus dem achtzehnten Jahrhundert zeigen zu k\u00f6nnen, auf die sein Orden stolz ist.
\nWir haben kaum Zeit, einige Aufnahmen zu machen, da h\u00f6ren wir das Geknatter eines Motorrades, und der Brigadiere Noviello, Chef der Polizei von Mazzarino, st\u00fcrzt auf Padre Noviello zu.
\n\u201eDas sind keine Touristen\u201c, fl\u00fcstert er, \u201edas sind Journalisten.\u201c Der M\u00f6nch wird f\u00f6rmlich gr\u00fcn im Gesicht. Er reicht uns nicht die Hand zum Abschied, er gr\u00fc\u00dft uns nicht. Wir m\u00fcssen gehen.
\nJetzt will der Polizeichef auch noch wissen, wie lange wir in Mazzarino bleiben wollen, ob und wo wir essen werden, wen wir hier kennen. Zwei uniformierte Polizisten begleiten uns von nun ab auf Schritt und Tritt. W\u00e4hrend wir in der einzigen Wirtschaft des Ortes einen Kaffee trinken, erscheint der Polizeichef wieder und fordert uns auf, ihm in die Kaserne der Carabinieri zu folgen.
\n\u201eWarum?\u201c will ich wissen.
\n\u201eIdentifikation\u201c, sagt er, \u201ePa\u00dfkontrolle.\u201c
\n\u201eDas k\u00f6nnen Sie auch hier machen.\u201c
\n\u201eNein, in der Kaserne.\u201c
\n\u201eNur wenn Sie uns verhaften\u201c, antworte ich, \u201eder Besuch eines Klosters scheint mir kein triftiger Grund zum Abf\u00fchren.\u201c
\nWir diskutieren. Er wird b\u00f6se, rennt davon, telefoniert, kommt zur\u00fcck und befiehlt uns wieder in die Kaserne. Aber wir bleiben fest. Nur unter Anwendung von Gewalt. Er wird unsicher.
\n\u201eIch werde Ihr Konsulat anrufen\u201c, br\u00fcllt er, \u201edie m\u00fcssen Sie verhaften.\u201c
\n\u201eWarum?\u201c
\nSein Unterkiefer klappt herunter und bleibt dort bewegungslos w\u00e4hrend eine Minute stehen. Er denkt sehr angestrengt, kommt aber zu keinem Entschlu\u00df und zieht sich zur\u00fcck. Zwei seiner Leute bleiben uns auf den Fersen.
\nAls wir endlich im Wagen den Ort verlassen, geht der Tanz wieder los. Ich wei\u00df nicht, wer ihm Anweisungen gibt, ob es seine Vorgesetzten in Caltanissetta sind, die M\u00f6nche oder die Maffia; auf alle F\u00e4lle ist der Kerl diensteifrig und z\u00e4h. Aber auch wir geben nicht nach. Wir bestehen auf Anwendung physischer Gewalt, wenn er uns in die Kaserne bringen will. Nach langem Hin und Her einigen wir uns auf einen Kompromi\u00df. Im Auto wird er unsere Papiere kontrollieren. Er tut es und schreibt gewissenhaft jedes Wort ab.
\nUnsere sizilianischen Kollegen in Caltanissetta sind emp\u00f6rt, als sie von dem Zwischenfall erfahren. Artikel werden geschrieben und die F\u00f6deration der Journalisten macht einen Protestbesuch bei dem Polizeichef der Provinz.
\nEine Woche sp\u00e4ter werden die M\u00f6nche endlich der Justiz \u00fcbergeben. In den Banken entdeckt man dicke Konten auf die weltlichen Namen dieser M\u00e4nner, die, als sie die Kutte anzogen, das Gel\u00fcbde der Armut ablegten. Nur ein alter Kapuziner darf im Kloster bleiben. Als seine Br\u00fcder abgef\u00fchrt werden, stehen Tr\u00e4nen in seinen Augen; aber Padre Vittorio tr\u00f6stet ihn. Er erhebt die Arme zum Himmel und ruft: \u201eVergi\u00df nicht Bruder, die Wege des Herrn sind unerme\u00dflich \u2026\u201c<\/p>\n

\"\"Verhaftet<\/strong> wurde der Kapuziner M\u00f6nch Vittorio da Gela, weil er mit drei seiner Ordensbr\u00fcder ein Werkzeug der Maffia geworden war. In Mazzarino, einem malerischen St\u00e4dtchen im Herzen Siziliens, erpressten sie die wohlhabenden B\u00fcrger. Widerspenstige wurden erschossen. Obwohl die M\u00f6nche das Gel\u00fcbde der Armut abgelegt hatten, entdeckte die Polizei dicke Bankkonten auf die weltlichen Namen der vier Kapuziner<\/em><\/p>\n

Ich erz\u00e4hle diese Geschichte nur deshalb, weil sie zu unseren st\u00e4rksten sizilianischen Erlebnissen geh\u00f6rt und man beim besten Willen kein besseres Beispiel finden kann, das in so zusammenfassender Form das psychologische, politische und grotesk kriminelle Klima Siziliens beschreibt. Da\u00df es sich hier um M\u00f6nche handelt, hat nichts mit christlichem Glauben und Kirche zu tun, es zeigt nur wie allgemein und stark die \u201eMentalit\u00e4t der Maffia\u201c im sizilianischen Menschen verankert sein mu\u00df, wenn selbst Kutte und Gel\u00fcbde sie nicht zum Schweigen bringen k\u00f6nnen. Maffia ist n\u00e4mlich nicht nur eine verbrecherische Organisation, Maffia ist ein Geisteszustand, der kriminelles Handeln zum Ausdruck innerer Unabh\u00e4ngigkeit erhoben hat.
\nDer Ursprung dieser Haltung liegt Tausende von Jahren zur\u00fcck. In geschichtlichen Zeiten ist Sizilien nie von Sizilianern regiert worden, sondern immer nur von fremden Eroberern. Heer, Polizei und Gesetz, diese sichtbaren Verk\u00f6rperungen der Macht, wurden geha\u00dft und abgelehnt: besonders im letzten Jahrtausend, in dem Araber, Normannen, Deutsche, Spanier, Franzosen und Italiener als Herren der Insel sich abl\u00f6sten. Wer zur Polizei ging, stellte sich auf die Seite des Eroberers, gegen das Volk. Er beging Verrat. Hier liegt der Ursprung der Omert\u00e0, der Pflicht des Schweigens, die die Grundlage der maffiesken Mentalit\u00e4t ist. Sie war zun\u00e4chst der passive Widerstand gegen die fremden Machthaber.<\/p>\n

Es war unvermeidlich, da\u00df in einer Welt, deren oberstes Gesetz es ist, das Gesetz zu brechen, die Maffia geboren wurde. Zun\u00e4chst war ihre Rolle recht ehrenvoll: Sie hatte die Aufgabe, in geheimen Gerichten \u00fcber die Interessen der Sizilianer zu wachen. Man nannte sie die \u201eEhrw\u00fcrdige Gesellschaft\u201c. Aber sie blieb es nicht lange. Sie wurde m\u00e4chtig, weil das Volk ihr h\u00f6rig war: Menschen, f\u00fcr die ein Verbrechen kein Verbrechen ist, weil fremde Gesetze das Handeln bestimmen wollen, \u2013 besonders dann, wenn Not und Armut zum Verbrechen zwingen.
\nSo entwickelte sich die Maffia von einer patriotischen Widerstandsbewegung zur gr\u00f6\u00dften Verbrecherorganisation aller Zeiten. Sie kontrolliert heute den Viehhandel und die Kl\u00f6ster, die M\u00e4rkte und die Prinzen, die Fischerei und die gesamt sizilianische Politik. Auch au\u00dferhalb Siziliens hat sie ein Reich aufgebaut, das seinesgleichen sucht. Der Rauschgifthandel der ganzen Welt geh\u00f6rt ihr. Ihre Agenten fahren unter jeder Flagge, auf allen Meeren. Die Unterwelt von Chicago, New York und San Francisco wird von ihr regiert. Las Vegas ist ihre vollendetste Sch\u00f6pfung. Und im Heimatland Sizilien hat sie einen unersch\u00f6pflichen Vorrat an Menschen, arme, verhungerte Kerle, die leben wollen und seit ihrer Geburt nur die Gesetze der Maffia kennen.<\/p>\n

\"\"Die aufrechten M\u00e4nner<\/strong> nennen sich die Kleinen der Maffia, weil sie glauben, den sizilianischen Ehrbegriff am reinsten zu verk\u00f6rpern. Zu Pferde, in den rauhen Bergen ihrer Insel f\u00fchlen sie sich wie die berufenen H\u00fcter Siziliens<\/em><\/p>\n

Um offiziell zur Mafia zu geh\u00f6ren, mu\u00df man ein Verbrechen begangen haben. Wir haben junge Menschen gesehen, fast noch Kinder, die nicht nur aus Not zum Messer gegriffen hatten, sondern auch um endlich die Taufe des Blutes zu empfangen, ohne die sie vielleicht mentalit\u00e4tsm\u00e4\u00dfig \u201eMaffiosi\u201c sind, aber nicht das Recht beanspruchen k\u00f6nnen, zur Maffia zu geh\u00f6ren. F\u00fcr sie, f\u00fcr die meisten Sizilianer, ist die Maffia immer noch die \u201eEhrw\u00fcrdige Gesellschaft\u201c. F\u00fcr die Reichen verk\u00f6rpert sie am reinsten die hochm\u00fctige Auffassung des Sizilianers, das Recht in sich zu tragen. F\u00fcr die Armen bedeutet sie eine \u201ew\u00fcrdevolle\u201c Entschuldigung f\u00fcr den Zwang zum Stehlen.
\n\u201eMaffioso\u201c ist deshalb kein Schimpfwort wie bei uns etwa \u201eDieb\u201c oder \u201eM\u00f6rder\u201c. Arme M\u00fctter nennen ihre Kinder stolz und liebevoll \u201eMaffioso\u201c, wenn sie st\u00fcrmisch, eigenwillig und h\u00fcbsch sind. Und die Reichen nennen ein Pferd \u201eMaffioso\u201c oder einen Stier, wenn sie Rasse und Temperament zeigen.
\nDie Maffia ist die reinste Verk\u00f6rperung der sizilianischen Mentalit\u00e4t: der selbstherrlich asoziale Stolz, der sich im Laufe der Jahrhunderte abnutzt und zu eigenn\u00fctziger, antisozialer Willk\u00fcr wird: das Gesetz, das fordert, zu brechen, und somit erlaubt, zu leben.<\/p>\n

\"\"Verkaufen<\/strong> kann man den Armen Siziliens am leichtesten magische Kr\u00e4fte und Kr\u00e4uter. Da es ihnen in ihrer Unwissenheit schwerf\u00e4llt, die politischen oder sozialen Ursachen ihrer Not zu erkennen, geben sie die Schuld f\u00fcr jedes pers\u00f6nliche Elend okkulten Kr\u00e4ften, von denen nur Hexen und Magier sie befreien k\u00f6nnen<\/em><\/p>\n

\"\"<\/strong><\/em><\/p>\n

Verhexen<\/strong> geh\u00f6rt zur selbstverst\u00e4ndlichsten Schicksalssteuerung vieler Sizilianer. Wenn sie geliebt sein wollen, gehen sie zum Magier und lassen die Geliebte verzaubern. Wenn eine Frau nicht betrogen sein will, k\u00f6nnen Spr\u00fcche ihren Mann zur Untreue unf\u00e4hig machen. Wenn man jemand ha\u00dft, kann die Hexe ihn verfluchen<\/em><\/p>\n

\"\"<\/strong><\/em><\/p>\n

Verdienen<\/strong> mu\u00df diese alte Frau ihr Leben manchmal mit Kartenlegen und Wahrsagen. Sie ist keine Hexe. Sie ist ein deutsches Mutterchen, das seit 1921 in Sizilien lebt und sich recht und schlecht durchschl\u00e4gt, seit ihr Mann sie verlassen hat. Wenn es ihr ganz schlecht geht, verdient sie ihr Brot mit Kartenlegen, wof\u00fcr man in Sizilien immer Kunden findet. Ihr gr\u00f6\u00dfter Wunsch: Noch einmal m\u00f6chte sie ihre Heimat W\u00fcrzburg wiedersehen<\/em><\/p>\n

Aber das ist unm\u00f6glich, wird man mir zurufen, da\u00df die Mehrheit eines ganzen Volkes so denkt und lebt. Ein Raub, ein Mord sind doch mehr als ein Verbrechen gegen eine, wenn auch geha\u00dfte, weil fremde, Ordnung. Das sind S\u00fcnden, denn \u201eDu sollst nicht stehlen\u201c \u2013 \u201eDu sollst nicht t\u00f6ten\u201c.
\nUnd doch ist es so. Am Sizilianer ist die christliche Ethik ebenso spurlos vor\u00fcbergegangen wie die moderne Technik. Erstarrt in einem uralten Widerstand und ohnm\u00e4chtig unwissend aus Not, kennt er nur ichbezogene, mit falscher Ehre, M\u00e4nnlichkeit und W\u00fcrde verbundene Begriffe, die er als einzigen Beweis seiner Eigent\u00fcmlichkeit wie verst\u00fcmmelte Gliedma\u00dfe zum Himmel streckt. Im eigentlichen Sinne ist der sizilianische Mensch weder Christ noch italienischer B\u00fcrger, weil er seit 2500 Jahre versucht, sich gegen das st\u00e4rkere Fremde und die materielle Not zu behaupten.
\nAn diesem Versuch sind die Sizilianer zerschellt. Wenn sie heute zu den erb\u00e4rmlichsten Europ\u00e4ern geh\u00f6ren, weil Schweigen, L\u00fcgen, Rauben und Morden die einzigen Adelstitel ihrer Gesellschaft sind, wenn sie nicht nur in Unwissenheit und Aberglauben ersticken, sondern in unbeschreiblichem Elend fast widerstandslos zugrunde gehen, wenn sie zeitlos primitiv geblieben sind und verbrecherisch verschlossen, dann nur deshalb, weil es kaum ein Volk auf der Erde gibt, das so lange unterdr\u00fcckt worden ist.
\nSizilien ist in der Tat die \u00e4lteste Kolonie der Welt.
\n\u201eMan mu\u00df Au\u00dfenstehender sein, um uns so zu beurteilen, und die Zusammenh\u00e4nge erkennen\u201c, sagt Ernesto R., ein sizilianischer Rechtanwalt, mit dem ich seit Stunden diskutiere. \u201eDu hast ja recht. Aber selbst wenn wir historisch begr\u00fcndbare Entschuldigungen haben, was n\u00fctzt es uns? Wir m\u00fcssen mit unserem Alltag fertig werden, und belastet, wie wir nun einmal sind, k\u00f6nnen wir es nur auf unsere Art tun. Das versperrt uns jede Aussicht auf die Zukunft.\u201c
\nWir sitzen im Caf\u00e9 \u201eMokka\u201c, einem der vielen Treffpunkte der Maffia. Eine moderne Espresso-Bar auf der Via Maquedo, der elegantesten Gesch\u00e4ftsstra\u00dfe Palermos. Man sagt mir, da\u00df jeder Ober mindestens einmal im Gef\u00e4ngnis gesessen haben mu\u00df, um \u00fcberhaupt angestellt zu werden. Der Kellner, der uns bedient, war elf Jahre wegen Totschlags im Zuchthaus.<\/p>\n

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\nVerschlagen<\/strong> begegneten uns die Leibw\u00e4chter im Landhaus des Maffia F\u00fcrsten Mazzaresi. Sie wollten uns zun\u00e4chst den Zugang zur Farm verwehren, doch die sizilianische Eitelkeit vor der Kamera siegte bald \u00fcber die mi\u00dftrauische Zur\u00fcckhaltung, die jedem Mitglied der Maffia eigen ist<\/em><\/p>\n

Ernesto hat mich nach langem Z\u00f6gern hierher gebracht und mich ein wenig eingeweiht. \u201eDiese Herren\u201c, sagt er, indem er auf die G\u00e4ste des Caf\u00e9s zeigt, \u201esind m\u00e4chtiger als die kleinen Gruppen von Intellektuellen, die verzweifelt versuchen, Sizilien aus dem Dreck zu ziehen. Was k\u00f6nnen wir armen Kerle gegen Geld, Einflu\u00df und r\u00fccksichtsloses Morden tun? Sizilien, das sind sie. Schau sie an. Brav aussehende B\u00fcrger mit gut geschnittenen Anz\u00fcgen und biederen Gesichtern. Die Gro\u00dfen der Maffia sehen nicht aus, wie die Gangster der amerikanischen Filme. Sie k\u00f6nnten Bankiers sein oder Politiker, \u00c4rzte oder angesehene Kaufleute. Meistens sind sie es auch. Diese Herren k\u00fcmmern sich nicht pers\u00f6nlich um \u00dcberf\u00e4lle oder Erpressungen, obwohl ihre Karriere meistens damit begonnen hat. Das \u00fcberlassen sie den kleinen Verbrechern. Sie machen die gro\u00dfen Gesch\u00e4fte: das Rauschgift, die Politik, den Schmuggel, die M\u00e4rkte und die Finanzen, und wachen \u00fcber ihre Interessen, indem sie zu Gericht sitzen und Widerspenstige oder Verr\u00e4ter zum Tode verurteilen. Sie bilden die Spitzengruppe einer Art Loge, in der es Handlanger gibt, Gesellen, Meister und Gro\u00dfmeister.
\n\u201eWer ist eigentlich der gro\u00dfe Chef?\u201c will ich wissen.
\nErnesto entdeckt wie durch Zufall einen Bekannten, st\u00fcrzt auf ihn zu und l\u00e4\u00dft mich allein.<\/p>\n

\"\"Versteckt<\/strong> in den wilden Bergen Siziliens liegt dieses Landhaus des Maffiaf\u00fcrsten Mazzaresi. Er war der Leibw\u00e4chter des 1954 verstorbenen Landeschefs der Maffia und ist heute schon zum Nachfolger des augenblicklichen Gro\u00dfmeisters bestimmt.<\/em> Mazzaresi verk\u00f6rpert am reinsten die Machtposition der Maffia: Er verwaltet unumschr\u00e4nkt die G\u00fcter und Schwefelmine eines sizilianischen Prinzen, die er von dieser Farm auskontrolliert<\/em><\/p>\n

Wieder einmal ist diese Frage unbeantwortet geblieben. Seit unserer Ankunft stellen wir sie allen Bekannten und Freunden, in der Hoffnung so zu diesem m\u00e4chtigen Mann vorzudringen, aber immer erhalten wir ausweichende Antworten. Es scheint zur Lebensregel selbst der aufgekl\u00e4rtesten und modernsten Sizilianer zu geh\u00f6ren, von der Maffia nur allgemein zu sprechen. Namen werden nie genannt. Nur wenn ein Maffiaf\u00fcrst stirbt oder von ehrgeizigen Kollegen erschossen wird, erf\u00e4hrt man etwas \u00fcber sein Leben, denn jetzt kann man ohne Gefahr sprechen. Und dann entdeckt man pl\u00f6tzlich, da\u00df diese Herren, die hier herumsitzen wie die gelangweilte Prominenz eine Provinzstadt, und deren Strafregister leer sind wie die Kladde eines Analphabeten, neben Schieben und Verschieben von Waren, Menschen und Rauschgiften eine erstaunlich Reihe von Morden und \u00dcberf\u00e4llen auf dem Gewissen haben. Zu Lebzeiten sind sie brave B\u00fcrger, weil selbst dann, wenn sie mit der Mordwaffe in der Hand auf frischer Tat ertappt werden, eine Verurteilung selten erfolgen kann. \u201eMangelnde Beweise\u201c ist der ewig wiederkehrende Satz im Lebenslauf der Maffiaf\u00fcrsten, weil keiner spricht, weil nie jemand es wagt, aufzustehen und zu sagen: \u201eDer hat gemordet, ich habe es gesehen.\u201c Das w\u00e4re n\u00e4mlich das Letzte, das er von der Welt gesehen h\u00e4tte.<\/p>\n

\"\"Sizilien 1960:<\/strong> Es gibt nichts, was nicht von der Maffia kontrolliert wird. Oberster Chef der Maffia ist der verschlossene Genco Russo (Bild). Als ihn die Sternreporter Gordian Troeller und Claude Deffarge endlich aufgest\u00f6bert hatten, gab ihnen das ungekr\u00f6nte Haupt der Insel ein Interview<\/em><\/p>\n

Ernesto ist wieder an meinem Tisch. \u201eDas war der Leibw\u00e4chter eines ber\u00fchmten Chefs\u201c, sagt er, er war lange in Amerika.\u201c
\n\u201eStell mich vor\u201c, bitte ich ihn.
\n\u201eNein, man mu\u00df sich nicht um die Maffia k\u00fcmmern, dann kann man sicher sein, auch von ihr in Ruhe gelassen zu werden. Du bist zu neugierig. Sie wissen schon alle, da\u00df ihr im Kloster von Mazzarino gewesen seid. Man hat mich bereits vor euch gewarnt. Erinnere dich daran, da\u00df die amerikanische Geheimpolizei zur Zeit der gro\u00dfen Gangsterkriege in Chicago einen ihrer besten M\u00e4nner nach Sizilien schickte, um hier, an der Quelle, nachzuforschen. Nur einige M\u00e4nner in Washington wu\u00dften von der geheimen Mission dieses G-Man. Als er hier in Palermo das Schiff verlie\u00df, wurde er erschossen. Du fragst zu aufdringlich nach dem gro\u00dfen Chef.\u201c
\nWir haben w\u00e4hrend unseres Aufenthaltes in Sizilien so laut und so oft nach dem allm\u00e4chtigen Maffiaf\u00fcrsten gesucht, da\u00df die Maffia ebenso neugierig auf uns wurde, wie wir auf sie.
\nEines Tages, als wir gerade von der Kirche San Domenico in Palermo die Beerdigung eines gro\u00dfen sizilianischen Politikers fotografierten, stellte sich eine kleine Frau neben Marie-Claude und gab ihr unaufgefordert Auskunft \u00fcber alle Prominenten, die dem Sarg folgten. Sie trug einen \u00e4rmlichen blauen Regenmantel und redete wahrscheinlich nur deshalb so schnell, weil sie das gro\u00dfe schwarze Loch, das drei fehlende Oberz\u00e4hne in ihrem Mund rissen, verstecken wollte.
\n\u201eDas ist der Minister soundso\u201c, sagte sie. \u201eHier kommt der Sohn des Verstorbenen, dahinter der Chef der Maffia aus Caltanissetta. Dort zwei gro\u00dfe Maffiosi aus Palermo. Das ist der Chef der Regierung\u2026\u201c
\nClaude versteht \u00fcberhaupt nichts mehr. Hier, im Geleitzug des gro\u00dfen Sizilianers, den die gesamte Regierung und alles, was Rang und Namen hat, zur letzten Ruhe geleitet, soll jeder dritte ein bedeutendes Mitglied der Maffia sein, und man zeigt sie uns mit dem Finger. Das darf doch nicht wahr sein. Sie ruft mich heran. Die kleine Frau wird noch redelustiger. Sie streckt ihren Kopf.
\n\u201eDer gro\u00dfe Chef ist nicht da\u201c, sagt sie pl\u00f6tzlich ganz entt\u00e4uscht, \u201eich versteh\u00b4 gar nicht, seit der Regierungskrise ist er in Palermo.\u201c
\nIch glaube nicht recht geh\u00f6rt zu haben.
\n\u201eWer?\u201c frage ich.
\n\u201eGenco Russo, nat\u00fcrlich. Es gibt nur einen Chef der Mafia. Genco Russo aus Mussomeli, der 1954 mit Einverst\u00e4ndnis der amerikanischen Maffia zum Nachfolger des verstorbenen Don Calogero Vizzini gew\u00e4hlt wurde.\u201c
\nDer Regierungschef geht gerade vorbei. Ich vergesse ihn zu fotografieren. Genco Russo ist viel wichtiger.
\n\u201eWenn er in Palermo ist, mu\u00df man ihn doch sehen k\u00f6nnen?\u201c
\n\u201eNat\u00fcrlich\u201c, sagt die kleine Frau wieder, als spr\u00e4che sie vom Wetter, \u201eer i\u00dft meistens in der Conca d\u2019Oro und wohnt immer im Hotel Centrale. Wenn Sie wollen, k\u00f6nnen wir in die Conca d\u2019Oro essen gehen.\u201c
\nDort sieht es nun doch so aus wie in amerikanischen Gangsterfilmen. Die Conca d\u2019Oro ist eines der besten Restaurants Palermos. Adresse: Via F. Fausto 1, erste Etage. Am Fu\u00dfe der Treppe steht ein unscheinbarer Mann und verkauft sizilianische Andenken. Im Vorbeigehen fragt unsere Begleiterin schnell: \u201eC\u2019e \u2013 ist er da?\u201c Der Mann hebt nur kurz den Kopf, was hier unserem verneinenden Kopfsch\u00fctteln entspricht.
\nIm Restaurant sind fast alle Tische besetzt. Gemischtes Publikum, w\u00fcrden wir sagen: elegante Herren und b\u00e4uerlich gekleidete M\u00e4nner mit tief \u00fcber die Augen gezogenen M\u00fctzen und H\u00fcten: Chefs und Leibw\u00e4chter. Unsere Begleiterin wird mit gro\u00dfer Ehrerbietung von den Kellnern empfangen. Sie stellt uns einige davon vor: das Patenkind Don Calogeros, des fr\u00fcheren Chefs der Maffia, der Leibw\u00e4chter des vor kurzem verstorbenen Chefs aus Palermo usw. Am Ende des Essens ist Genco Russo immer noch nicht da. Die kleine Frau schleppt uns resolut ins Hotel Centrale.
\nIn der Halle gehen einige M\u00e4nner, Hut auf dem Kopf und H\u00e4nde in den Taschen, besch\u00e4ftigungslos auf und ab. Einer von ihnen macht ein kurzes Zeichen und unsere Begleiterin f\u00fchrt uns in die Bar des Hotels. Dort sitzt ein Herr ganz allein. Hut auf dem Kopf, eine Pfeife im Mund, ein typischer sizilianischer Bauer mit malizi\u00f6s intelligenten Augen.
\n\u201eHier sind sie\u201c, sagt die kleine Frau nur. Der Herr steht auf, \u201eGenco Russo\u201c, stellt er sich vor. \u201eBitte nehmen Sie Platz. Zwei Kaffee\u201c, ruft er befehlend.
\nWir nennen unsere Namen und setzen uns. Wenn ein Mann der Maffia jemanden zum Kaffee einl\u00e4dt, so bedeutet das dasselbe, als wenn ein Araber Brot anbietet: Wir sind unter Freunden.
\nGenco Russo k\u00fcmmert sich fast ausschlie\u00dflich um Claude. Er ist sehr galant, hilft ihr aus dem Mantel und scheint froh, eine Ausl\u00e4nderin an seinem Tisch zu haben.
\n\u201eIch bin froh\u201c, sagt Claude, \u201eendlich den m\u00e4chtigsten Mann der Insel zu kennen, den Chef der Maffia.\u201c
\nMir bleibt der Kaffee im Halse stecken. Das Wort darf nie ausgesprochen werden, unser Interview ist hin. Aber Genco Russo l\u00e4chelt nur bescheiden.<\/p>\n

\"\"Verschlossen<\/strong> blieb Genau Russo, der oberste Chef der Maffia, als wir ihn endlich aufgest\u00f6bert hatten und er uns ein Interview gab. Mit Sternreporterin Claude Deffarge war er besonders galant, behielt aber immer seinen Hut auf, selbst im Restaurant des Hotels<\/em><\/p>\n

\u201eEs ist eine Ehre f\u00fcr mich, Sie kennenzulernen\u201c, antwortet er h\u00f6flich.
\nDas Eis ist gebrochen. Er ist zwar recht wortkarg, erz\u00e4hlt uns aber, da\u00df die \u201eEhrw\u00fcrdige Gesellschaft\u201c entschlossen sei, die Regierung zu st\u00fcrzen, weil dieselbe von Kommunisten unterst\u00fctzt wird, und nur die westlichen Ideale der Freiheit und des christlichen Glaubens zukunftsbestimmend f\u00fcr Sizilien sein d\u00fcrfen.
\n\u201eW\u00e4hrend des Krieges haben wir den Amerikanern geholfen, die Faschisten aus Sizilien zu verjagen\u201c, sagt er, \u201esollen wir jetzt tatenlos zusehen, wie sich die Kommunisten breitmachen?\u201c
\nDie Maffia hat tats\u00e4chlich eine entscheidende Rolle w\u00e4hrend der Landung der Alliierten in Sizilien gespielt. Der amerikanische Geheimdienst hatte M\u00e4nner der amerikanischen Maffia, das hei\u00dft Sizilianer aus New York und Chicago, nach Sizilien geschickt, um mit dem Vorg\u00e4nger Genco Russos, dem ber\u00fchmten Don Calogero Vizzini, Verbindung aufzunehmen und seinen Beistand zu erbitten. Don Calogero hatte daraufhin selber die Landungspl\u00e4ne ausgearbeitet, und am entscheidenden Tag verstopften riesige Schafherden die Verbindungswege der deutsch-italienischen Streitkr\u00e4fte. An strategisch wichtigen Punkten weideten kleine Herden, die mit ihren hellen Fellen leicht erkennbare Zielscheiben abgaben. Als die Insel genommen war, wurde Don Calogero Vizzini von den Amerikanern wie ein Held gefeiert und zum B\u00fcrgermeister seiner Stadt ernannt.
\nAls ich Genco Russo zum Schlu\u00df unseres Besuches frage, ob ich ihn fotografieren darf, bittet er uns auf sein Zimmer. \u201eHier nicht\u201c, sagt er, \u201edie brauchen das nicht zu sehen.\u201c Er meint seine Leibw\u00e4chter, denen er kurz befiehlt auf ihn zu warten. Wir haben genau eine Minute, dann mu\u00df Genco Russo wieder seinen Gesch\u00e4ften nachgehen.
\nDiese Gesch\u00e4fte sind haupts\u00e4chlich die sizilianische Politik und die Beilegung von Rivalit\u00e4ten und Streitigkeiten zwischen den Maffiachefs der verschiedenen Provinzen.
\nDie Maffia hat mit gesagt und Politiker haben es mir best\u00e4tigt, da\u00df man nicht Abgeordneter des sizilianischen Parlaments werden kann, wenn die Maffia es nicht will. Selbst nicht die Kommunisten. Daf\u00fcr brauchen diese Herren nicht zur Maffia zu geh\u00f6ren oder ihr zu gehorchen. Sie d\u00fcrfen sich nur nicht widersetzen, wenn ihnen daran liegt, wieder gew\u00e4hlt zu werden. Siebzig Prozent der Stimmen, besonders in D\u00f6rfern und kleinen St\u00e4dten, werden von der Maffia kontrolliert.
\nWoher kommt dieser Einflu\u00df? Die Maffia ist die gr\u00f6\u00dfte wirtschaftliche Macht Siziliens,jeder zweite Sizilianer h\u00e4ngt f\u00fcr sein t\u00e4gliches Brot von ihr ab. Die Prinzen, Barone und Gro\u00dfgrundbesitzer haben der Maffia die Verwaltung ihrer G\u00fcter abgetreten. Diese Verwalter, die man \u201eGabelloti\u201c nennt, sind immer \u201emaffiosi\u201c, die f\u00fcnfzig Prozent der Eink\u00fcnfte f\u00fcr sich beanspruchen und wirtschaften k\u00f6nnen, wie sie wollen. Da sie die Arbeit vergeben, die Kleinbauern betreuen und Viehhandel, Viehdiebstahl und alle Schlachth\u00e4user kontrollieren, h\u00e4ngt die gesamte Landbev\u00f6lkerung Siziliens von ihnen ab. Wer da noch gegen die Parole der Maffia w\u00e4hlt, begeht wirtschaftlichen Selbstmord. \u2013 Die M\u00e4rkte ganz Siziliens sind in ihrer Hand. Sie kontrolliert die Ware, die Preise, sie bestimmt, wer wo was verkauft. Sie \u201esch\u00fctzt\u201c die Gesch\u00e4fte und l\u00e4\u00dft sich daf\u00fcr bezahlen. Sie bestimmt sogar in den Elendsvierteln, wann und wo man betteln, hausieren oder stehlen darf. Die meisten Arbeiten, die von der Verwaltung vergeben werden, gehen an bekannte \u201emaffiosi\u201c, die wiederum nur solche Arbeiter anstellen, die widerspruchslos deren Bedingungen annehmen: Bezahlung unter dem offiziellen Tarif. Das gleiche gilt f\u00fcr die Industrie.<\/p>\n

Ein Beispiel: Cola d\u2019Alessandro, der vom kleinen Totschl\u00e4ger zu einem der gef\u00fcrchtetsten Chefs von Palermo avancierte, hatte von der Schiffswerft \u201ePioggio\u201c ein St\u00fcck Land zur Verwaltung erhalten und damit auch das Recht, seine Interessen zu verteidigen. Als die Arbeiter der Werft streiken und h\u00f6here L\u00f6hne verlangen, erscheint Alessandro mit einem Dutzend bewaffneter \u201emaffiosi\u201c und er\u00f6ffnet das Feuer. Vier Verletzte, ein Toter, Schlu\u00df des Streiks. Und Cola d\u2019Alessandro wird hiermit ein \u201egro\u00dfes Kaliber\u201c, ein Mann, den man respektieren mu\u00df, weil er versteht, sich Respekt zu verschaffen.<\/p>\n

Ein uns n\u00e4her ber\u00fchrendes Beispiel: In Catania hatte sich eine deutsche Brauerei niedergelassen, deren Bier so allgemein boykottiert wurde, da\u00df sie sich gezwungen sah, ihre Aktien an die einzige sizilianische Brauerei zu verkaufen. \u2013 Das ist die Maffia: Wer die Wirtschaft und die M\u00e4nner eines ganzen Landes davon abhalten kann, frei ihr Bier zu w\u00e4hlen, der kann sicher bestimmen, wer ins Parlament gew\u00e4hlt werden soll.<\/p>\n

\"\"<\/strong><\/em><\/p>\n

Die schiefen M\u00fctzen<\/strong> nennt man die weniger bedeutenden Mitglieder der Maffia, weil sie eine besondere Art haben, die M\u00fctze tief ins Gesicht zu ziehen. Es ist eine Art Erkennungszeichen, das selten tr\u00fcgt. Hier, in Mussomeli, sind es zwar Bauern, die ihr Sonntagsgespr\u00e4ch f\u00fchren, da Mussomeli jedoch die Stadt des Landeschefs der Maffia ist, d\u00fcrften die meisten von ihm abh\u00e4ngen<\/em><\/p>\n

Wenige haben es bis jetzt gewagt, sich gegen das wirtschaftliche und politische Monopol der Mafia zu erheben. Die Gewerkschaften waren bis heute die Mutigsten, besonders die Gewerkschaft der Landarbeiter: Aber die Maffia begriff sofort, da\u00df ein organisiertes Proletariat ihrem willk\u00fcrlichen Arbeitsmarkt eine Ende bereiten w\u00fcrde. Die schwachen Gewerkschaften wurden gekauft, die starken ihrer F\u00fchrung beraubt. Seit Ende des Krieges sind 38 Gewerkschaftsf\u00fchrer von der Mafia ermordet worden.
\nEin anderer wird sich in diesem Monat gegen die Mafia erheben: Daniello Dolci, der Ghandi Siziliens. Dieser Mann, ein Norditaliener hat sich vor acht Jahren in Sizilien niedergelassen, um hier der Apostel der Armen zu werden. In einem Land, in dem Morden, verbrecherische Verschlagenheit und fanatischer Aberglaube zur sinnlosen Vergeudung menschlicher und materieller Werte f\u00fchren, hat er vier Grundregeln aufgestellt, die er unerm\u00fcdlich predigt und selber lebt.
\nVier Weigerungen: Die Ablehnung der Gewalt, der L\u00fcge, des Fanatismus und der Vergeudung; die vier Haupt\u00fcbel Siziliens. Um den Armen helfen zu k\u00f6nnen, hat er zun\u00e4chst systematisch die Probleme ihrer Not studiert, wobei ihm freiwillige Helfer aus Deutschland, England, der Schweiz und anderen L\u00e4ndern zur Seite stehen. Er hatte sich vorgenommen, die Mafia einfach zu ignorieren, aber immer wieder mu\u00dfte er feststellen, da\u00df man kein einziges Problem Siziliens l\u00f6sen kann, ohne sie und die sie tragende Mentalit\u00e4t verantwortlich zu machen. Deshalb wird jetzt auch er, der Apostel der Gewaltlosigkeit, sich zum offenen Ankl\u00e4ger der Maffia erheben.
\nUnd nicht zuletzt gibt es die jungen Intellektuellen und Politiker, die von einem neuen modernen Sizilien tr\u00e4umen und verzweifelt darum k\u00e4mpfen. Ich habe viele von ihnen kennengelernt; intelligente, selbstlose, wundervolle Menschen. Sie werden mir b\u00f6se sein, weil ich ihre Heimat als das Armenhaus Europas darstelle, als das Opfer von Korruption und Maffia. Aber Sizilien ist heute nicht anderes. Von Redlichkeit, systematischer Industrialisierung oder modernem Elan zu sprechen, w\u00fcrde bedeuten, da\u00df ich die Tr\u00e4ume dieser mutigen M\u00e4nner f\u00fcr Wirklichkeit halte. Sie sind es nicht und k\u00f6nnen es nicht werden, solange diese M\u00e4nner allein bleiben.
\nUnd hier wird das Problem der Armut und der verbrecherischen Willk\u00fcr zu einem Politikum, das uns alle angeht. Diese M\u00e4nner k\u00f6nnen und werden nicht allein bleiben. Sie sind die Tr\u00e4ger jener revolution\u00e4ren Impulse, die von China bis Guinea zun\u00e4chst nicht anderes waren, als puritanische Reaktionen gegen Ausbeutung und korruptionsbedingte Not, und die aus reinem Selbsterhaltungstrieb dem einzigen Helfer in die Arme fallen mu\u00dften, der ihnen eine Zukunft verspricht: Ru\u00dfland. Die guten Sizilianer sind heute von den Kommunisten angezogen. Morgen m\u00fcssen sie selber Kommunisten werden, wenn sie \u00fcberleben wollen und keine andere helfende Hand sich ihnen bietet.<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

\u00a0Stern, Heft 16, 16. April 1960 Durch die Weltpresse ging vor kurzem die Meldung, da\u00df vier M\u00f6nche eines sizilianischen Kapuzinerklosters wegen Erpressung, Mithilfe bei Morden und Brandstiftung verhaftet worden sind. Die Stern-Reporter Gordian Troeller und Claude Deffarge besuchten diese M\u00f6nche zehn Tage vor ihrer Verhaftung. Dieser Besuch unserer Reporter mag mit dazu beigetragen haben, da\u00df…<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":61627,"parent":54035,"menu_order":3,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":{"_seopress_robots_primary_cat":"","_seopress_titles_title":"","_seopress_titles_desc":"","_seopress_robots_index":"","footnotes":""},"categories":[632],"tags":[],"class_list":["post-54039","page","type-page","status-publish","has-post-thumbnail","hentry","category-sizilien","entry","has-media"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54039"}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/types\/page"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/users\/1"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=54039"}],"version-history":[{"count":5,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54039\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":62016,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54039\/revisions\/62016"}],"up":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54035"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media\/61627"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=54039"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=54039"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=54039"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}