{"id":54041,"date":"2017-03-11T14:08:55","date_gmt":"2017-03-11T13:08:55","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=54041"},"modified":"2021-07-29T16:44:39","modified_gmt":"2021-07-29T14:44:39","slug":"morgen-stuermen-wir-rio","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/brasilien\/morgen-stuermen-wir-rio\/","title":{"rendered":"Morgen st\u00fcrmen wir Rio"},"content":{"rendered":"
Stern, Heft 6, 11. Februar 1962 [Anmerkung: Im Folgenden wird der Begriff Neger\/Negerin aus dem Originaltext beibehalten. Diese Bezeichnung war damals ohne Abwertung als Fremd- und Selbstzuschreibung gel\u00e4ufig.]<\/em><\/p>\n Siebzig Millionen Menschen wollen die Ketten sprengen, die sie zum \u00e4rmsten Volk im reichsten Teil der Erde machen. Das f\u00fcnftgr\u00f6\u00dfte Land der Welt, der Riese unter den Entwicklungsl\u00e4ndern bestimmt das Schicksal eines ganzen Erdteils –\u00a0Brasilien.<\/strong> <\/p>\n \u201eZyklus des Krebses\u201c<\/strong> nennen die brasilianischen Soziologen den billigsten aller Ern\u00e4hrungsprozesse \u2013 eine Art Perpetuum Mobile der Nahrung: Menschen wohnen in den Pfahlbauten \u00fcber dem Schlamm von Fl\u00fcssen. In diesem stecken Krebse, die von dem Kot leben, der auf sie herunterf\u00e4llt. Die Menschen essen diese Krebse, die wieder Kot werden, wieder herunterfallen und wieder Krebse f\u00fcttern, von denen Menschen leben, wieder Krebs n\u00e4hren \u2026 Der Kreis ist geschlossen. So leben Tausende von Bauer in Recife, der Hauptstadt des brasilianischen Nordostens. Sie suchen in der Stadt, was die Herren der L\u00e4ndereien ihnen verweigern: Arbeit und Brot. Und m\u00fcssen sich \u00fcber den Gew\u00e4ssern ansiedeln, weil nur dort der Boden keinem geh\u00f6rt und nichts kostet. Mehr als die H\u00e4lfte der 800.000 Einwohner von Recife haben keine feste Besch\u00e4ftigung. Die meisten sind \u2013 oder waren \u2013 Bauern. Viele leben von Krebsen \u2013 oder verkaufen sie.<\/em><\/p>\n Geboren werden<\/strong> bedeutet hier sehr oft, zum langsamen Sterben verurteilt zu sein. Zum Verhungern. Jedes Jahr w\u00e4chst die Zahl der Brasilianer um anderthalb Millionen<\/em>, w\u00e4hrend die Lebensmittelproduktion nicht steigt. So wird Brasilien, eines der gr\u00f6\u00dften Rohstoffl\u00e4nder der Erde, das Land der gro\u00dfen Hungersnot. Der Nordosten, sechsmal so gro\u00df wie die Bundesrepublik, ist das Zentrum des Elends. Hier sterben 30 Prozent aller Kinder, bevor sie das erste Lebensjahr erreicht haben und laufen k\u00f6nnen. Die \u00dcberlebenden sehen aus wie auf diesem Bild: die Frau ist 30, ihr Sohn ein Jahr alt.<\/em><\/p>\n Ein Gro\u00dfgrundbesitzer im Nordosten Brasiliens wurde unterrichtet, da\u00df einer seiner Bauern ein paar Nahrungsmittel gestohlen habe. Er lie\u00df ihn ausziehen, mit Honig bestreichen und auf einem Ameisenhaufen festbinden. Der Redner macht eine Pause. Ich halte den Atem an. Jetzt mu\u00df etwas passieren. Solche Anklagen kann man nur vorbringen, wenn sie stimmen. Wird die Polizei einschreiten? Es ist unheimlich still geworden. Neben mir zerdr\u00fcckt ein Offizier eine Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger. Es riecht nach verbrannter Haut. Und pl\u00f6tzlich geht ein Schrei durch den Saal. Tausende Studenten und Arbeiter \u2013 Bauern sind kaum welche hier \u2013 br\u00fcllen: \u201eReforma Agraria \u2013 Landreform \u2013 Landreform \u2013 \u00a0 Wir wollen Landreform.\u201c Und dann: \u201eJuli\u00e3o –\u00a0 Juli\u00e3o \u2013 Es lebe\u00a0 Juli\u00e3o …\u201c
\n<\/em><\/p>\n
\n Die Bauern r\u00fcsten zur Revolution. Sie wollen Arbeit, Nahrung, Freiheit \u2013 und Land in einem Land mit so viel Land. Sie wollen nicht mehr von Gro\u00dfgrundbesitzern verjagt werden und am Rand der St\u00e4dte nach Nahrung suchen, nach Krebsen.<\/strong><\/p>\n
\nEin anderer Herr gro\u00dfer L\u00e4ndereien bestrafte einen Landarbeiter, indem er ihn in eine Tonne mit Wasser stecken lie\u00df, das ihm genau bis zum Mund reichte. Einmal pro Tag erhielt der Mann ein St\u00fcck trockenes Brot, seinen Durst mu\u00dfte er mit dem Wasser stillen, in dem er stand und das er verschmutzte. Nach drei Tagen verlie\u00dfen ihn die Kr\u00e4fte. Er sank in die Knie und ertrank.
\nEin dritter ersann folgende Strafe f\u00fcr einen Bauern, der ein Zuckerrohr gestohlen hatte: Er lie\u00df ihn lebendig in St\u00fccke hacken und seinen Lieblingshunden vorwerfen. Um den anderen die Lust am Zuckerrohr lutschen auszutreiben, mu\u00dften sie zusehen, wie ihr Kamerad zum Hundefutter wurde.
\nDies geschah nicht zu ‚Gro\u00dfmutters Zeiten. Es geschieht heute. Ich kann hundert Beispiele nennen. Die Erfinder der beiden ersten Strafen \u2013 Ameisenhaufen und Wassertonnen \u2013 sitzen als Abgeordnete im Landtag von Pernambuco. Der dritte besitzt eine gro\u00dfe Zuckerrohrplantage. Nat\u00fcrlich wird keiner von ihnen ins Gef\u00e4ngnis geworfen oder auch nur verklagt. – In diesem Land steht das Recht im Dienste der Verbrecher. Die Gro\u00dfgrundbesitzer haben die Macht, besitzen sch\u00f6ne Autos, sie sprechen von Christus und hassen Fidel Castro.
\n\u201eEs sind diese und \u00e4hnliche Taten gleicher Grausamkeit, die mich dazu bewogen haben, die Bauernligen zu gr\u00fcnden und f\u00fcr die Erl\u00f6sung der Sklaven Brasiliens zu k\u00e4mpfen: die Bauern.\u201c<\/p>\n
\n\u201eL\u00fcgt er?\u201c frage ich den Offizier.
\n\u201eLeider nicht\u201c, murmelt er durch seine verbrannten Finder hindurch, die er mittlerweile in den Mund gesteckt hat.
\nDer Mann der mit seinen Worten diesen Sturm der Begeisterung ausgel\u00f6st hat, ist\u00a0 Francisco Juli\u00e3o, der F\u00fchrer der brasilianischen Bauern. Er ist klein, schm\u00e4chtig. Seine Gesten gleichen denen eines mystischen Tr\u00e4umers mit mond\u00e4nen All\u00fcren. Trotz allem, was ich \u00fcber ihn geh\u00f6rt habe, kann ich mir nicht vorstellen, da\u00df dieser zierliche Rechtsanwalt mit dem schmollenden Mund der m\u00e4chtigste Revolution\u00e4r S\u00fcdamerikas ist.
\nWir hatten viel von ihm geh\u00f6rt. In Europa schon. Aus B\u00fcchern und Artikeln. Der Fidel Castro Brasiliens, hie\u00df es da, der Mao-Tse-tung Lateinamerikas. Im Nordosten, der acht Bundesl\u00e4nder Brasiliens umfa\u00dft, ist er bereits der Messias der Bauern. Und dieser Nordosten ist sechsmal so gro\u00df wie die Bundesrepublik. Sechsundzwanzig Millionen Menschen \u2013 das ist ein Drittel der Bev\u00f6lkerung Brasiliens \u2013 leben dort erb\u00e4rmlicher als in den Hungergebieten Indiens.
\nIn allen Entwicklungsl\u00e4ndern werden die Revolutionen von den Bauern gemacht. So war es in Ru\u00dfland, Mexiko, China, Kuba. Der Aufstand des Industrieproletariats ist marxistischer Mythos. Immer waren es die Bauern. Eine feudale Gesellschaft platzte, weil die leeren B\u00e4uche sich bl\u00e4hten. In Lateinamerika sind achtzig Prozent der Bev\u00f6lkerung hungernde Bauern. Also ist das Ma\u00df erreicht? Wann?
\nEs kann jeden Moment losgehen, sagen die Kenner der Lage. Juli\u00e3o ist der Motor, der Schl\u00fcssel zur Zukunft Brasiliens und vielleicht ganz Lateinamerikas. Er kommandiert den Marsch der Bauern. Kann man ihn aufhalten?<\/p>\n