{"id":54041,"date":"2017-03-11T14:08:55","date_gmt":"2017-03-11T13:08:55","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=54041"},"modified":"2021-07-29T16:44:39","modified_gmt":"2021-07-29T14:44:39","slug":"morgen-stuermen-wir-rio","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/brasilien\/morgen-stuermen-wir-rio\/","title":{"rendered":"Morgen st\u00fcrmen wir Rio"},"content":{"rendered":"

Stern, Heft 6, 11. Februar 1962
\n<\/em><\/p>\n

[Anmerkung: Im Folgenden wird der Begriff Neger\/Negerin aus dem Originaltext beibehalten. Diese Bezeichnung war damals ohne Abwertung als Fremd- und Selbstzuschreibung gel\u00e4ufig.]<\/em><\/p>\n

Siebzig Millionen Menschen wollen die Ketten sprengen, die sie zum \u00e4rmsten Volk im reichsten Teil der Erde machen. Das f\u00fcnftgr\u00f6\u00dfte Land der Welt, der Riese unter den Entwicklungsl\u00e4ndern bestimmt das Schicksal eines ganzen Erdteils –\u00a0Brasilien.<\/strong>
\n Die Bauern r\u00fcsten zur Revolution. Sie wollen Arbeit, Nahrung, Freiheit \u2013 und Land in einem Land mit so viel Land. Sie wollen nicht mehr von Gro\u00dfgrundbesitzern verjagt werden und am Rand der St\u00e4dte nach Nahrung suchen, nach Krebsen.<\/strong><\/p>\n

\"\"<\/p>\n

\u201eZyklus des Krebses\u201c<\/strong> nennen die brasilianischen Soziologen den billigsten aller Ern\u00e4hrungsprozesse \u2013 eine Art Perpetuum Mobile der Nahrung: Menschen wohnen in den Pfahlbauten \u00fcber dem Schlamm von Fl\u00fcssen. In diesem stecken Krebse, die von dem Kot leben, der auf sie herunterf\u00e4llt. Die Menschen essen diese Krebse, die wieder Kot werden, wieder herunterfallen und wieder Krebse f\u00fcttern, von denen Menschen leben, wieder Krebs n\u00e4hren \u2026 Der Kreis ist geschlossen. So leben Tausende von Bauer in Recife, der Hauptstadt des brasilianischen Nordostens. Sie suchen in der Stadt, was die Herren der L\u00e4ndereien ihnen verweigern: Arbeit und Brot. Und m\u00fcssen sich \u00fcber den Gew\u00e4ssern ansiedeln, weil nur dort der Boden keinem geh\u00f6rt und nichts kostet. Mehr als die H\u00e4lfte der 800.000 Einwohner von Recife haben keine feste Besch\u00e4ftigung. Die meisten sind \u2013 oder waren \u2013 Bauern. Viele leben von Krebsen \u2013 oder verkaufen sie.<\/em><\/p>\n

\"\"Geboren werden<\/strong> bedeutet hier sehr oft, zum langsamen Sterben verurteilt zu sein. Zum Verhungern. Jedes Jahr w\u00e4chst die Zahl der Brasilianer um anderthalb Millionen<\/em>, w\u00e4hrend die Lebensmittelproduktion nicht steigt. So wird Brasilien, eines der gr\u00f6\u00dften Rohstoffl\u00e4nder der Erde, das Land der gro\u00dfen Hungersnot. Der Nordosten, sechsmal so gro\u00df wie die Bundesrepublik, ist das Zentrum des Elends. Hier sterben 30 Prozent aller Kinder, bevor sie das erste Lebensjahr erreicht haben und laufen k\u00f6nnen. Die \u00dcberlebenden sehen aus wie auf diesem Bild: die Frau ist 30, ihr Sohn ein Jahr alt.<\/em><\/p>\n

Ein Gro\u00dfgrundbesitzer im Nordosten Brasiliens wurde unterrichtet, da\u00df einer seiner Bauern ein paar Nahrungsmittel gestohlen habe. Er lie\u00df ihn ausziehen, mit Honig bestreichen und auf einem Ameisenhaufen festbinden.
\nEin anderer Herr gro\u00dfer L\u00e4ndereien bestrafte einen Landarbeiter, indem er ihn in eine Tonne mit Wasser stecken lie\u00df, das ihm genau bis zum Mund reichte. Einmal pro Tag erhielt der Mann ein St\u00fcck trockenes Brot, seinen Durst mu\u00dfte er mit dem Wasser stillen, in dem er stand und das er verschmutzte. Nach drei Tagen verlie\u00dfen ihn die Kr\u00e4fte. Er sank in die Knie und ertrank.
\nEin dritter ersann folgende Strafe f\u00fcr einen Bauern, der ein Zuckerrohr gestohlen hatte: Er lie\u00df ihn lebendig in St\u00fccke hacken und seinen Lieblingshunden vorwerfen. Um den anderen die Lust am Zuckerrohr lutschen auszutreiben, mu\u00dften sie zusehen, wie ihr Kamerad zum Hundefutter wurde.
\nDies geschah nicht zu ‚Gro\u00dfmutters Zeiten. Es geschieht heute. Ich kann hundert Beispiele nennen. Die Erfinder der beiden ersten Strafen \u2013 Ameisenhaufen und Wassertonnen \u2013 sitzen als Abgeordnete im Landtag von Pernambuco. Der dritte besitzt eine gro\u00dfe Zuckerrohrplantage. Nat\u00fcrlich wird keiner von ihnen ins Gef\u00e4ngnis geworfen oder auch nur verklagt. – In diesem Land steht das Recht im Dienste der Verbrecher. Die Gro\u00dfgrundbesitzer haben die Macht, besitzen sch\u00f6ne Autos, sie sprechen von Christus und hassen Fidel Castro.
\n\u201eEs sind diese und \u00e4hnliche Taten gleicher Grausamkeit, die mich dazu bewogen haben, die Bauernligen zu gr\u00fcnden und f\u00fcr die Erl\u00f6sung der Sklaven Brasiliens zu k\u00e4mpfen: die Bauern.\u201c<\/p>\n

Der Redner macht eine Pause. Ich halte den Atem an. Jetzt mu\u00df etwas passieren. Solche Anklagen kann man nur vorbringen, wenn sie stimmen. Wird die Polizei einschreiten? Es ist unheimlich still geworden. Neben mir zerdr\u00fcckt ein Offizier eine Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger. Es riecht nach verbrannter Haut. Und pl\u00f6tzlich geht ein Schrei durch den Saal. Tausende Studenten und Arbeiter \u2013 Bauern sind kaum welche hier \u2013 br\u00fcllen: \u201eReforma Agraria \u2013 Landreform \u2013 Landreform \u2013 \u00a0 Wir wollen Landreform.\u201c Und dann: \u201eJuli\u00e3o –\u00a0 Juli\u00e3o \u2013 Es lebe\u00a0 Juli\u00e3o …\u201c
\n\u201eL\u00fcgt er?\u201c frage ich den Offizier.
\n\u201eLeider nicht\u201c, murmelt er durch seine verbrannten Finder hindurch, die er mittlerweile in den Mund gesteckt hat.
\nDer Mann der mit seinen Worten diesen Sturm der Begeisterung ausgel\u00f6st hat, ist\u00a0 Francisco Juli\u00e3o, der F\u00fchrer der brasilianischen Bauern. Er ist klein, schm\u00e4chtig. Seine Gesten gleichen denen eines mystischen Tr\u00e4umers mit mond\u00e4nen All\u00fcren. Trotz allem, was ich \u00fcber ihn geh\u00f6rt habe, kann ich mir nicht vorstellen, da\u00df dieser zierliche Rechtsanwalt mit dem schmollenden Mund der m\u00e4chtigste Revolution\u00e4r S\u00fcdamerikas ist.
\nWir hatten viel von ihm geh\u00f6rt. In Europa schon. Aus B\u00fcchern und Artikeln. Der Fidel Castro Brasiliens, hie\u00df es da, der Mao-Tse-tung Lateinamerikas. Im Nordosten, der acht Bundesl\u00e4nder Brasiliens umfa\u00dft, ist er bereits der Messias der Bauern. Und dieser Nordosten ist sechsmal so gro\u00df wie die Bundesrepublik. Sechsundzwanzig Millionen Menschen \u2013 das ist ein Drittel der Bev\u00f6lkerung Brasiliens \u2013 leben dort erb\u00e4rmlicher als in den Hungergebieten Indiens.
\nIn allen Entwicklungsl\u00e4ndern werden die Revolutionen von den Bauern gemacht. So war es in Ru\u00dfland, Mexiko, China, Kuba. Der Aufstand des Industrieproletariats ist marxistischer Mythos. Immer waren es die Bauern. Eine feudale Gesellschaft platzte, weil die leeren B\u00e4uche sich bl\u00e4hten. In Lateinamerika sind achtzig Prozent der Bev\u00f6lkerung hungernde Bauern. Also ist das Ma\u00df erreicht? Wann?
\nEs kann jeden Moment losgehen, sagen die Kenner der Lage. Juli\u00e3o ist der Motor, der Schl\u00fcssel zur Zukunft Brasiliens und vielleicht ganz Lateinamerikas. Er kommandiert den Marsch der Bauern. Kann man ihn aufhalten?<\/p>\n

\"\"
In der brasilianischen Landschaft gibt es etwas Neues: Meere von H\u00fcten, die immer dorthin fluten, wo von Landreform gesprochen wird, vom Kampf gegen den Gro\u00dfgrundbesitz. Bauern scharen sich um den, der Land verspricht: Juli\u00e3o<\/strong> <\/em><\/figcaption><\/figure>\n

Die meisten, die so schreiben, haben\u00a0 Juli\u00e3o nie gesehen. Wenige haben ihn interviewt.
\nSelbst Pr\u00e4sident Kennedy hatte einen seiner Br\u00fcder geschickt, um dem Mann in die Karten zu schauen. Er mu\u00dfte unverrichteter Dinge wieder abziehen. Denn Juli\u00e3o war nicht in Recife, der Hauptstadt des Nordostens, wo er Landtagsabgeordneter ist und wo der Schwerpunkt seine Bauernbewegung liegt. Er ist selten dort, wo man ihn erwartet. Er ist das Urbild brasilianischer Improvisation. Er rennt von einem Dorf zum andren, von Norden nach S\u00fcden. In einem Land, das vierunddrei\u00dfigmal so gro\u00df ist wie die Bundesrepublik, bleibt da nur die W\u00fcnschelrute \u00fcbrig und ein verbissener Wille, Juli\u00e3o kennenzulernen.
\nWir k\u00f6nnen ein Lied davon singen, denn wir gingen nach Brasilien, um herauszufinden, wer dieser Mann ist, der vielleicht das Schicksal S\u00fcdamerikas bestimmen wird.
\nIn Rio de Janeiro fing es an. Man hatte uns gesagt, er l\u00e4ge dort im Krankenhaus: Nervenzusammenbruch.
\n\u201eDas pa\u00dft zu einem Bauernf\u00fchrer wie ein Cadillac zum Bettler\u201c, sage ich zu dem brasilianischen Journalisten, der mich in die Klinik begleitet. \u201eWenn die Bauern w\u00fc\u00dften, an welch zarten Nervenstr\u00e4ngen ihr Schicksal h\u00e4ngt, h\u00e4tten sie doch schon l\u00e4ngst einen anderen F\u00fchrer gew\u00e4hlt.\u201c
\n\u201eIm Gegenteil, bei der mystischen Veranlagung unserer Bauern kann ihr politischer F\u00fchrer gar nicht zerbrechlich genug sein. Ihr politischer Traum deckt sich mit der biblischen Vorstellung vom verhei\u00dfenen Land, in das nur ein Prophet sie f\u00fchren kann, in eine Welt, wo der Mensch gut ist, das Land allen geh\u00f6rt und Gottes Wort allein G\u00fcltigkeit hat. Kein Kraftprotz, kein General, kein Politiker herk\u00f6mmlicher Art k\u00f6nnte die Phantasie unserer Bauern ansprechen, wenigstens nicht im Norden, um den es haupts\u00e4chlich geht. Selbst Fidel Castro w\u00e4re ihnen zu dick und zu gro\u00df.\u201c
\n\u201eAber nicht zu radikal?
\n\u201eSpielen Sie nicht den Journalisten mit mir. Ich bin selber einer. Hier handelt es sich nicht um Politik. Davon haben die Bauern genug. Der joviale Stimmenaufk\u00e4ufer aus der Stadt, der kurz vor der Wahl ein paar Schuhe schenkt und einen Schnaps ausgibt, h\u00e4ngt ihnen zum Halse heraus. – Juli\u00e3o ist das genaue Gegenteil. Er trinkt nicht, raucht nicht, vergi\u00dft zu essen. Selbst wenn keine Wahlen bevorstehen, geht er zu den Bauern und h\u00f6rt ihr Leid an. So etwas hat es hier noch nie gegeben. Und dabei redet er wie ein Dichter und spricht vom irdischen Leben der Heiligen.\u201c
\n\u201eEin geschickter Demagoge.\u201c
\n\u201eAuf keinen Fall.\u201c
\n\u201eEine Art Gandhi?\u201c
\n\u201eWenn Sie unbedingt alles in Kategorien stecken m\u00fcssen: Ja. Aber: Er verzichtet nicht auf Gewalt. Das sollte man sich merken.\u201c\u00a0 \u00a0 \u00a0 \u00a0 \u00a0<\/em><\/strong><\/p>\n

\"\"<\/p>\n

Die Bauer\u00a0Brasiliens organisieren sich …<\/em><\/strong><\/p>\n

Achtzig Prozent aller Brasilianer sind Bauern. Dreiviertel davon haben kein Land oder so wenig Land, dass sie nicht satt werden k\u00f6nnen. Bis vor wenigen Jahren war ihr Trost der Schnaps, ihre Hoffnung das Spiel. Sie kannten keine Zuflucht au\u00dfer Gott und dem Grab. Wenn sie sich beklagten, wurden sie zusammengeschlagen oder davongejagt. Die Gro\u00dfgrundbesitzer sind die Herren des Landes und wollen es bleiben. Heute hat sich das Leben der Bauern noch nicht ge\u00e4ndert, aber sie haben eine Hoffnung: die Bauernliga. Eine Bewegung \u00fcberzieht das ganze Land, und zum ersten Mal wird nicht mehr gebettelt. Die Bauern fordern Reformen und drohen mit B\u00fcrgerkrieg. Auf ihren Versammlungen h\u00f6rten wir immer wieder ein Wort: Revolution. Das Vorbild: Kuba.<\/em><\/p>\n

\"\"<\/p>\n

… hinter einem kleinen Gro\u00dfgrundbesitzer<\/em><\/strong><\/p>\n

Er hei\u00dft Francisco Juli\u00e3o, hat eine Frau und vier Kinder. Man nennt ihn den Fiedel Castro Brasiliens, den Mao Tse-tung S\u00fcdamerikas. Vor sechs Jahren war er ein kleiner Rechtsanwalt, den die erste winzige Bauernliga um Beistand bat. Zum Dank f\u00fcr seine Bem\u00fchungen ernannten sie ihn zum Ehrenvorsitzenden. So begann seine politische Laufbahn. Heute ist er der unumstrittene Bauernf\u00fchrer Brasiliens, der m\u00e4chtigste Revolution\u00e4r S\u00fcdamerikas. Castro hatte nur achtzig Mann und eroberte ein Land von sechs Millionen, weil die Bauern ihm halfen. Juli\u00e3o kann jetzt schon Hunderttausende mobilisieren. Er ist nicht vermessen zu sagen, da\u00df dieser schm\u00e4chtige Mann eine internationale Schl\u00fcsselfigur geworden ist. Denn wo Brasilien hingeht, dahin rei\u00dft es ganz S\u00fcdamerika<\/em><\/p>\n

Unser Taxi h\u00e4lt. Oldsmobile, Modell 1949. 172 Reparaturen, 47 Ersatzteile fremder Marken, 22 Unf\u00e4lle. Zwei in Notwehr Erschlagene, ein regelrechter Meuchelmord. Der vierzehnte Besitzer ist ein Kolo\u00df, der stolz auf seine griechische Abstammung ist und uns all diese herunterleiert, w\u00e4hrend er den Kasten zum Halten bringt.
\n\u201eIch habe mitgeh\u00f6rt\u201c, sagt er, \u201ewie immer …\u201c Dabei verwandelt er sich in ein riesiges Grinsen, das von Ohr zu Ohr geht, vom Scheitel zum Nabel und in das man alles hineindeuten kann, denn es gibt nur noch Falten. Die meisten lachen durchs offene Hemd.
\n\u201eMir wird \u00fcbel, wenn ich an diesen Juli\u00e3o denke\u201c, seufzt er, w\u00e4hrend der Bauch uns wieder prall entgegensteht. \u201eWie kann man etwas vom Leben verstehen, wenn man nicht raucht, nicht trinkt, nicht i\u00dft und wom\u00f6glich auch noch die Liebe vergi\u00dft. Mir kann dieses Mauerbl\u00fcmchen nicht imponieren. Ohne Hoden hat noch keiner eine Revolution gemacht. Da wo meine Eltern herkommen, gibt es ganze Kerle. Aber man kann Griechen nicht mit Brasilianern vergleichen. Hier wird nur geredet. Wenn umgebracht wird, dann nur mit der Polizei im R\u00fccken. Geld und Macht ersetzen den Mut. Waschklappen, gemeine Waschlappen, wenn Sie es wissen wollen, denn sie t\u00f6ten nur, und dann mit Vergn\u00fcgen, wenn sie nichts dabei riskieren.\u201c
\n\u201eMan kann sie auch im Herzen haben\u201c, sagt mein Begleiter mit eine Mine zwischen Abscheu und Mitleid.
\n\u201eWas?\u201c
\n\u201eDie Hoden.\u201c
\nJetzt scheint der ganze Wagen Falten zu bekommen. Der Grieche sch\u00fcttelt sich, da\u00df die Lampen klappern. Nachdem er halbwegs zu sich gekommen ist, zieht er einen Revolver aus dem Handschuhfach des Wagens. Seine H\u00e4nde bewegen sich wie die eines Taschenspielers. Dann setzt er den Lauf auf seinen nackten Bauch und dr\u00fcckt los. Der kleine Klick ist kaum h\u00f6rbar.
\n\u201eWenn die Kugeln hier sitzen\u201c, grinst er und schl\u00e4gt sich auf die Brusttasche, in die er das Magazin gezaubert hatte, \u201edann ist die Revolution ein kalter Furz. Zeig mir einen Mann, einen richtigen, und ich mach‘ sofort mit. Aber das gibt es hier ja nicht. Sobald ein Kerl was drin hat, schmei\u00dft er sich aufs Geldverdienen. Das ist hier so. Es gibt hier so viele Arme, so viele Analphabeten, da\u00df jeder mit ein bi\u00dfchen Mumm sich schnell reich strampeln kann. Und dann ist er nicht mehr zu gebrauchen. Er f\u00fchlt sich wie ein Herr und verteidigt die alte Ordnung, als sei er darin geboren. Es ist zum Kotzen.\u201c
\nMeinem Freund steht der Schaum vor dem Mund. Ich zahle schnell und ziehe ihn aus dem Auto, bevor der Oldsmobile seinen vierzehnten Besitzer verliert.
\nDie Fahrt war umsonst. Juli\u00e3o hat die Klinik seit Tagen verlassen. Keiner wei\u00df wohin.
\nAm n\u00e4chsten Tag gehe ich zur deutschen Botschaft. Vielleicht kann ich dort etwas erfahren. –
\nDer Presseattach\u00e9 empf\u00e4ngt mich. Nach den \u00fcblichen H\u00f6flichkeiten stelle ich meine Frage. Die Antwort ist kurz und klingt tief durchdacht: \u201eJuli\u00e3o ist ein Kommunist. Er verdient kein Interesse. Dazu eine Handbewegung, die gleichzeitig ein paar Millionen Bauern mit unter den Tisch fegt.
\nIch versuche zu argumentieren: Wenn Juli\u00e3o Kommunist ist, dann sollte er uns doch erst recht interessieren. Die Leute aus dem eigenen Lager kennt man sowieso.
\nEs n\u00fctzt nichts, und man gibt mir deutsch zu verstehen\u00a0 w e r\u00a0 hier Fachmann ist,\u00a0 w e r \u00a0Brasilien kennt,\u00a0 w e m\u00a0 man nichts vormachen kann.
\nIch werde sauer und sage, da\u00df auch ich Portugiesisch spreche und Brasilien kenne. Das scheint noch weniger zu gefallen, denn pl\u00f6tzlich wird von der Unverantwortlichkeit der Journalisten gesprochen, die politisches Porzellan zerschlagen, ohne offenbar zu wissen, was sie anrichten. –
\nDas Zentralproblem ist und bleibt Berlin und die Wiedervereinigung, sagt man mir, und jede Berichterstattung habe sich danach zu richten. Zum Beispiel: Brasilien tritt f\u00fcr das Selbstbestimmungsrecht der V\u00f6lker ein. Auf diesem Recht fu\u00dft die Forderung nach Wiedervereinigung. Also darf man in Deutschland nur positiv \u00fcber Brasilien schreiben, damit es in der Berlin-Frage auf unserer Seite bleibt.
\nWas soll ich da noch sagen? \u00dcber den Sinn objektiver Berichterstattung zu diskutieren, erscheint mir hier sinnlos. Ich nehme also meinen Hut, oder vielmehr meine Kamera, und verabschiede mich.<\/p>\n

\"\"<\/p>\n

Die Analphabeten<\/strong> geh\u00f6ren zu den gro\u00dfen Sorgen Brasiliens. Selbst in D\u00f6rfern, wo sich deutsche Siedler vor Jahrzehnten niederlie\u00df<\/em>en, findet man bis zu f\u00fcnfzig Prozent Analphabeten! Fehlende Bild<\/em>ung ist nicht unbedingt nur der Makel der Farbigen. Es gibt nicht genug Schulen. Und dort wo welche gebaut werden, dienen sie nicht immer der Alphabetisierung, sondern oft lokalen Gr\u00f6\u00dfen zu politischen Zwecken und zur Stimmenf\u00e4n<\/em>gerei. \u00a0\u00a0\u00a0\u00a0\u00a0\u00a0\u00a0\u00a0\u00a0\u00a0\u00a0\u00a0\u00a0\u00a0\u00a0\u00a0\u00a0\u00a0\u00a0\u00a0\u00a0\u00a0\u00a0<\/em><\/p>\n

\u201eHey, junger Mann. Suchst du was?\u201c
\n\u201eJa\u201c
\n\u201eMich?“
\n„Nein, einen Mann.“
\nDie kleine Mulattin schiebt ihre Hand unter meinen Arm und pa\u00dft ihre Schritte den meinen an.
\n\u201eEin Mann wie du sollte Frauen suchen\u201c, fl\u00fcsterte sie. \u201eSchau mich an. Was siehst du?\u201c
\n\u201eEtwas sehr H\u00fcbsches.\u201c
\n\u201eNa. Dann.\u201c
\n\u201eIch suche einen bestimmten Mann. Er hei\u00dft Juli\u00e3o.\u201c
\n\u201eEin Heiliger\u201c, sagt sie schlicht. \u201eEin Mann Gottes. Um Himmels willen. Ich hatte schon geglaubt, du suchtest M\u00e4nner.\u201c
\n\u201eWoher kennst du ihn?\u201c
\n\u201eIch bin aus dem Norden. Mein Vater ist dort Landarbeiter. Dann lebte ich in Recife. Nachdem es passiert war.\u201c
\n\u201eWas?\u201c
\n\u201eDas \u00dcbliche. Du wei\u00dft doch, wann ein M\u00e4dchen sein Heim verlassen mu\u00df.\u201c
\n\u201eUnd was machst du?\u201c
\n\u201eDas \u00dcbliche. Um nicht zu verhungern.\u201c
\nIch ziehe 100 Cruzeiros aus der Tasche.
\n\u201eIch will nichts umsonst. Wenn du mir helfen willst, mu\u00dft du mit durch den Dreck.\u201c
\n\u201eDu hast viel gelernt.\u201c
\n\u201eDer Hafen von Recife ist eine gute Schule.\u201cSie dreht sich um. \u201eAdieu. Behalte dein Geld und dein schlechtes Gewissen. Gr\u00fc\u00dfe Juli\u00e3o. Er kennt mich nicht. Aber er wird alles \u00e4ndern. Nur Heilige k\u00f6nnen hier noch helfen.\u201c<\/p>\n

Sie lieben alles<\/strong>, den Tanz, die Musik, Sao Paulo, Brasilien. Sie sind stolz auf ihr modernes Brasilien, das futuristische H\u00e4user baut und St\u00e4dte ein\"\"er Zivilisation von morgen. Aber in diesem Brasilien von morgen lebt eine Gesellschaft von gestern: Gro\u00dfvaters Idee bestimmen Lebensstil und Politik. \u2013 Gro\u00dfmutters Vorteile diktieren die Beziehungen zwischen jungen Menschen. Sie d\u00fcrfen tanzen, studieren, ja sogar fortschrittlich denken \u2013 aber sie d\u00fcrfen nicht lieben.<\/em><\/p>\n

\"\"Sie liebte einmal<\/strong> und mu\u00df jetzt von der Liebe leben. So will es ein ehernes Gesetz. Ein M\u00e4dchen, das sich einmal vergi\u00dft, ist f\u00fcr immer vergessen. Es bekommt keinen Mann mehr und wird von den Eltern versto\u00dfen. Das ist die Moral der B\u00fcrger und der Bauer. Sao Paulo und Rio sind Ausnahmen. Aber schon in der drittgr\u00f6\u00dften Stadt Brasiliens, in Recife, gibt es 40.000 Prostituierte, die ihr Los nicht nur den Elend verdanken, sondern in vielen F\u00e4llen die Opfer dieser eisernen Moral sind<\/em><\/p>\n

Was wir seit einer Woche suchen, steht pl\u00f6tzlich in den Zeitungen: Juli\u00e3o ist in S\u00e3o Paulo.
\nWir fahren hin \u2013 aber er ist schon wieder abgereist, nach Porto Alegre, tausend Kilometer s\u00fcdlich. Als wir endlich dort ankommen, ist der schon wieder verschwunden.
\n\u201eIrgendwo im Innern. Er besucht Bauernligen\u201c, sagte man uns.
\nWir glaubten, dort g\u00e4be es noch keine.
\n\u201eDoch\u201c, sagt man uns. \u201eHier gibt es auch ein Landproblem; vielleicht schlimmer als im Norden. Die Gauchos essen besser und sind deshalb k\u00e4mpferischer. Es w\u00e4re nicht das erste Mal, da\u00df Gauchos auf Sao Paulo marschieren.\u201c
\nWir fahren in die D\u00f6rfer, die man uns genannt hat. Entweder ist Juli\u00e3o schon dort gewesen \u2013 oder wird \u201emorgen\u201c erwartet. Morgen \u2013 das bedeutet in ganz Brasilien: irgendwann einmal. Die Stra\u00dfen sind schlecht, meistens nur Feldwege, und wir verlieren zuviel Zeit. Uns bleibt nichts anderes \u00fcbrig, als ein Lufttaxi zu mieten und die D\u00f6rfer anzufliegen. Eine Piper braucht nur wenig Platz zum Landen.<\/p>\n

In Encruzilhada, einem Flecken zwischen Porto Alegre und der uruguayischen Grenze, kommen wir endlich Juli\u00e3o auf die Spur. Er ist nur wenige Kilometer entfernt, in Amaral Ferrador. Dort, am \u201eEnde der Welt\u201c, zwischen Karren, Pferden und siebzehn H\u00e4usern entdecken wir ein Meer von Gauchoh\u00fcten, \u00fcber denen ein kleiner Mann gestikuliert, dessen indianische Abstammung unverkennbar ist: Juli\u00e3o.
\n\u201eEs ist ein Verbrechen ‚mein‘ zu nennen, was der Mensch auf Erden vorfand, als er nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wurde. Wenn das Land nicht allen geh\u00f6ren kann, dann mu\u00df es wenigstens denen geh\u00f6ren, die es mit ihren eigenen H\u00e4nden bestellen und Brot schaffen im Schwei\u00dfe ihres Angesichts. So empfiehlt es die Heilige Schrift. Sie empfiehlt nicht, sein Brot mit dem Schwei\u00dfe des andern zu verdienen \u2013 wie das hier \u00fcblich ist.\u201c
\nDie M\u00e4nner unter den gro\u00dfen H\u00fcten l\u00e4cheln und nicken sich zu. Ja, das verstehen sie, das ist einfach und klar gesagt. Alle sind gl\u00e4ubige Christen. Obwohl viele Kleinbauern sind, Eigent\u00fcmer, leben sie miserabel und suchen nach neuen Wegen. Hier wird einer geboten.
\n\u201eWas schlagen Sie vor?\u201c fragt ein Bauer.
\n\u201eGenossenschaften\u201c, antwortet Juli\u00e3o. \u201eDer Gro\u00dfgrundbesitz mu\u00df enteignet werden. Auf diesen, vom Staate erworbenen L\u00e4ndereien werden Produktions- und Verkaufsgenossenschaften entstehen, die das Land endlich so bestellen, da\u00df alle davon leben k\u00f6nnen.\u201c
\n\u201eUnd wie wird enteignet?\u201c will ein etwas dickerer Bauer wissen.
\n\u201eDer brasilianische Staat ist zu arm, um allen Gro\u00dfgrundbesitz sofort bar zu bezahlen.\u00a0 Deshalb m\u00fcssen die Entsch\u00e4digungen in Staatspapieren gezahlt werden, die nach zehn bis f\u00fcnfzehn Jahren eingel\u00f6st werden k\u00f6nnen und die \u00fcblichen Zinsen tragen.\u201c
\n\u201eDas ist gegen die Verfassung.\u201c
\n\u201eDann mu\u00df sie eben ge\u00e4ndert werden.\u201c
\n\u201eGibt es schon offizielle Pl\u00e4ne f\u00fcr eine Landreform? Will noch einer wissen.
\n\u201e\u00dcber zweihundert Vorschl\u00e4ge liegen in den Schubladen des Bundesparlaments begraben. Jedesmal wenn es Unruhen gab, wurde schnell einer entworfen, damit die Presse davon schreiben konnte und die Bauern sich beruhigten. Aber sie werden schon in den Parlamentsaussch\u00fcssen erw\u00fcrgt. Warum? Weil siebzig Prozent aller Abgeordneten die Vertreter des Gro\u00dfgrundbesitzes sind. Wi\u00dft ihr, da\u00df keiner von euch Bauern im Bundesparlament vertreten ist? Achtzig Prozent des Volkes haben keine Stimme in Brasilien. Aber es mu\u00df anders werden, wenn wir \u00fcberleben wollen. Entweder die Regierung macht eine Landreform \u2013 oder das Land macht eine Revolution.\u201c
\n\u201eWir machen mit\u201c, rufen die Bauern. \u201eDu kannst mit uns rechnen.\u201c
\nJuli\u00e3o steigt von seiner improvisierten Rednertrib\u00fcne \u2013 einer Kiste \u2013 und verschwindet unter den H\u00fcten. Alle M\u00e4nner \u00fcberragen ihn. Sie sehen verwegen aus. Er hingegen gleicht einem Seminaristen, der sich in eine R\u00e4uberh\u00f6hle verirrt hat. Die meisten der Siedler sind polnischer Herkunft. Einige kamen aus Deutschland. Sie sind stundenlang geritten, um diesen Mann zu h\u00f6ren, mit dem sie im Grunde nichts zu tun haben. Er kommt aus dem Norden, der so weit weg ist wie Moskau von Hamburg, und wo Indianer, Portugiesen und Neger sich zu einem Menschenschlag verschmolzen haben, der nichts mit dem hiesigen gemein hat \u2013 au\u00dfer der portugiesischen Sprache. Und doch fasziniert Juli\u00e3o diese rauhen M\u00e4nner. Sie scharen sich um ihn, als wollten sie ihn besch\u00fctzen. Abseits stehen zwei Gro\u00dfgrundbesitzer mit ihren Leibw\u00e4chtern. Sie wagen sich nicht n\u00e4her. Ich h\u00f6re Gespr\u00e4chsbrocken: \u201eEin gro\u00dfer Mann \u2013 Apostel \u2013 ich mache mit \u2013 Kommunist \u2013 ach geh \u2013 der ist Christ wie du und ich …\u201c
\nEndlich stehen wir Juli\u00e3o gegen\u00fcber. Es bleiben uns genau f\u00fcnf Minuten Zeit, denn unser Lufttaxi darf nach sechs Uhr nicht mehr fliegen. Wir verabreden uns mit ihm. Treffpunkt: Recife. Dreitausend Kilometer n\u00f6rdlich.<\/p>\n

Recife: drittgr\u00f6\u00dfte Stadt Brasiliens. Hauptstadt des Bundesstaates Pernambuco. Zentrum des Nordostens. – Vierzig Wolkenkratzer \u2013 130 000 Menschenst\u00e4lle. 800 000 Einwohner, davon 500 000 ohne feste Arbeit. Einige hundert Kirchen. 40 000 Prostituierte \u2013 die H\u00e4lfte unter 16 Jahren.
\nEs gibt, glaube ich, keine gr\u00f6\u00dfere Anklage gegen ein System, eine Gesellschaftsordnung, eine Landverteilung als diese Stadt. Weder Industrie noch Handel rechtfertigen diese Anh\u00e4ufung von Menschen. Arbeit gibt es kaum. Selbst wenn s\u00e4mtliche Industrieprojekte verwirklicht w\u00fcrden, g\u00e4be es h\u00f6chstens Besch\u00e4ftigung f\u00fcr zehntausend Menschen, behauptet der B\u00fcrgermeister.
\nDie Bauern sind hierhergekommen, um einen Bissen zu ergattern, weil sie auf dem Land verhungern \u2013 buchst\u00e4blich, wirklich physisch verhungern. Die Lebenserwartung liegt bei 35 Jahren. Drei\u00dfig von hundert Kindern sterben bevor sie das vierte Lebensjahr erreicht haben, in manchen Orten sind es 56. Ja, Sie haben richtig gelesen: 56 von 100 Kindern, die geboren werden, verhungern. Es ist der h\u00f6chste Prozentsatz der Welt. Bald brauchen die toten Bauern mehr Erde zum letzten Schlaf, als die Lebenden, um nicht zu sterben.
\nSie fliehen nicht in die Stadt, weil die Erde unfruchtbar w\u00e4re. Auch nicht, weil es zu wenig Land g\u00e4be auf diesem Kontinent, der Brasilien hei\u00dft, und nur siebzig Millionen Einwohner hat. Sie kommen meistens auch nicht aus jenen Teilen des Inneren, die unter Trockenheit leiden und immer wieder als Stifter des Unheils genannt werden.
\nNein, sie verlassen den feuchten, fruchtbaren Boden der K\u00fcstengebiete, weil es dort Zucker gibt. Nur Zucker, Zucker. Weil die Gro\u00dfgrundbesitzer den Anbau von Lebensmitteln beschr\u00e4nken oder ganz verbieten. Weil sie Tausende von Quadratkilometern brach liegen lassen, \u201eum nicht von Bauern geplagt zu sein\u201c. – Weil man diesen Menschen kein St\u00fcck Land geben will, in einem Land mit so viel Land. Verantwortlich f\u00fcr den Hungertod von Millionen ist nicht die Natur \u2013 auch nicht \u00dcberbev\u00f6lkerung, Landnot, Faulheit, Dummheit, die Kommunisten, die Juden, die Amerikaner oder sonst einer der vom schlechten Gewissen vorgescho\"\"benen S\u00fcndenb\u00f6cke.
\nVerantwortlich sind wenige Menschen und ihre \u201eOrdnung\u201c, die sie aufrechterhalten durch Korruption und Bajonette.<\/p>\n

Wir haben Kinder gesehen, die Erde fressen. Wir haben M\u00fctter getroffen, die Stroh und Holz kochen. Wir haben mit \u00c4rzten gesprochen, die verstehen, da\u00df so viele sterben, aber nicht erkl\u00e4ren k\u00f6nnen, warum so viele am Leben bleiben.<\/em><\/strong><\/p>\n

Wir sind Tausende von Kilometern gefahren. Wir haben mit den Bauern gelebt, mit den Fischern, den Stallbewohnern von Recife, den Landarbeitern der Plantagen \u2013 und wir haben geweint. Ja, ich sch\u00e4me mich gar nicht, es zu sagen. Denn hier kann man nur Amok laufen \u00a0– oder weinen.<\/p>\n

Selbst nackt vergi\u00dft man nicht<\/strong><\/p>\n

Ich habe ihn an der Bar von \u201eLeite\u201c kennengelernt. Dem besten Restaurant von Recife. Hummer ist dort Spezialit\u00e4t. Und sehr billig. Wilberto, der perfekteste Barmann, der mir je begegnet ist, mixt Daiqueries, Rumcocktails, wie man sie fr\u00fcher nur im \u201eFloridita\u201c in Havanna bekommen konnte, dem Stammlokal Hemingways.
\n\u201eJa, das waren Zeiten\u201c, meint mein Nachbar, \u201eals man noch nach Havanna fliegen konnte, um sich zu am\u00fcsieren. Kennen Sie Havanna?“
\n\u201eZiemlich gut.“
\n\u201eFrauen gibt\u2019s da. Castro sollte mal ein paar ‚r\u00fcberschicken, um uns zu alphabetisieren. Haha.\u201c
\n\u201eKennen Sie Paris?\u201c frage ich, um \u00fcberhaupt etwas zu sagen.
\n\u201eEin Dreck gegen Kuba. Alles Legende. Nur wer Paris nicht kennt, kann von seinen Frauen schw\u00e4rmen. Woher kommen Sie?\u201c
\n\u201eHamburg.\u201c
\n\u201eDas ist eine Stadt. Man bekommt, was man will. Wie auf der Speisekarte. Man braucht nur zu w\u00e4hlen. Wollen Sie meine Theorie kennen: Es ist die Meeresluft, die dort so liebeshungrig macht. Wir essen Mango, um uns anzuregen. M\u00f6gen Sie Mango? – Was machen Sie eigentlich hier?“
\nIch sage es ihm.
\n\u201eWo waren Sie schon? Was haben Sie gesehen?\u201c<\/p>\n

Ich erz\u00e4hle es ihm, und da ich nichts anderes zu tun habe, werde ich recht ausf\u00fchrlich. Er unterbricht mich nur selten. Als ich fertig bin, haben wir f\u00fcnf Daiqueries getrunken, und er blickt mich durch tr\u00fcbe Augen an, als sei ich das bedauernsw\u00fcrdigste Gesch\u00f6pf der Welt.
\n\u201eMein Lieber \u2013 ich mu\u00df du zu Ihnen sagen, denn du bist mir sympathisch, wissen Sie. Mein Lieber, du hast vollkommen recht. Es ist eine riesige, gr\u00fcne, gelbe, dreckige \u2013 na du wei\u00dft ja schon \u2013 die zum Himmel stinkt und nach Gerechtigkeit schreit. Jawohl. Gerechtigkeit. Aber kannst du was \u00e4ndern? Kann ich? – So what? Also wozu? Wozu? Trink einen Daiquerie, nimm dir ein M\u00e4dchen. Kauf dir ’ne rosa Brille. Es gibt so viele sch\u00f6ne Dinge. Suche sie. Genie\u00dfe sie. Systematisch, fanatisch. Schluck f\u00fcr Schluck, bis du berauscht bist und nichts anderes mehr siehst als das, was dir Freude macht.\u201c
\n\u201eIch bin Journalist. Ich kann meinen Lesern nicht meine Traumwelt als Wirklichkeit verkaufen.\u201c
\n\u201eMoment \u2013 wie hei\u00dft du \u2013 Gordian \u2013 sch\u00f6n. Moment, du l\u00fcgst doch gar nicht, wenn du sagst, da\u00df es hier sch\u00f6ne Dinge gibt. Denn es gibt sie wirklich. Das wei\u00dft du.\u201c
\n\u201eUnd ob. Wenn es ein Land gibt, in dem ich leben m\u00f6chte, dann ist es Brasilien. Ich habe noch nie so wundervolle Menschen getroffen. Wirklich und wahrhaftig.“
\n\u201eSiehst du. Nimm noch einen Daiquerie. Du wirst schon vern\u00fcnftig.\u201c
\n\u201eMoment \u2013 wie hei\u00dft du \u2013 Daniel \u2013 sch\u00f6n, Daniel; h\u00f6r mich noch eine Minute an, bevor wir vollkommen betrunken sind. Wenn ich nur das Sch\u00f6ne und Angenehme beschreiben w\u00fcrde, die zehn Prozent Positives, dann k\u00e4me ich mir vor wie ein Arzt, der einer krebskranken Frau erz\u00e4hlt, sie habe sch\u00f6ne Beine \u2013 und sich nur um diese k\u00fcmmert. Und daf\u00fcr sein Honorar einsteckt. Verstehst du? Ich bin kein Kabarettist, kein Unterhaltungsk\u00fcnstler. Ich bin Journalist.\u201c
\nEr schaut mich lange an. Dann bestellt er zwei Daiqueries und sagt noch l\u00e4nger gar nichts.
\n\u201eZuviel Eis\u201c, meint er pl\u00f6tzlich. \u201eIn Havanna sind die Daiqueries besser.\u201c Und dann: \u201eIch wei\u00df gar nicht, wie du leben kannst, wenn du die Welt so siehst, wie sie ist. Ich w\u00e4re schon krepiert, wenn ich nicht Vergessen spielen w\u00fcrde. Komm morgen zu mir. Ich will dir zeigen, wie man Vergessen spielt.\u201c
\nAm n\u00e4chsten Tag bin ich p\u00fcnktlich um vier Uhr in seinem Haus, das sich in jedem Hollywoodfilm sehen lassen k\u00f6nnte. Zwei livrierte Diener \u2013 Schwarze \u2013 f\u00fchren mich durch vier R\u00e4ume, in denen alte portugiesische Barockm\u00f6bel Daniels guten Geschmack verraten. Heiligenstatuen aus dem 16. Jahrhundert. Bildhauerarbeiten von Mario Gravo und Agnaudo. Ein Braque, zwei Kokoschka. Ein wundervoller Betstuhl aus den ersten Tagen der Eroberung.
\nAls ich in dem letzten Raum angekommen bin und meine Blicke von den W\u00e4nden rei\u00dfe, steht Daniel vor mir. Er ist nackt.
\nIch habe mir vorgenommen, das Vergessenspielen in keiner Weise zu st\u00f6ren und gebe ihm die Hand, als h\u00e4tte ich ihn nie anders gesehen. Er f\u00fchrt mich in den Garten: Swimmingpool, Liegest\u00fchle aus schwarzem Leder, Sonnenblenden, Plattenspieler, Fernsehger\u00e4t, ein Mann, rollende Bars, sechs Frauen. Sie sind nackt.
\n\u201eIch werde dich erst vorstellen, wenn du es dir bequem gemacht hast\u201c, sagt Daniel und f\u00fchrt mich in ein kleines Zimmer. \u201eZieh dich aus, und komm dann zu uns.\u201c
\nIch ziehe meine Badehose an, die ich in Brasilien immer bei mir habe – 4000 Kilometer Strand \u2013 und erscheine im Garten.<\/p>\n

\u201eSiehst du\u201c, sagt Daniel gelassen, \u201edu kannst nicht vergessen. Was dir Eltern, Kinderm\u00e4dchen, Lehrer und Moralisten \u00fcber Sexualit\u00e4t und Anstand gesagt haben, kannst du nicht vergessen. Du wei\u00dft vielleicht, da\u00df alles L\u00fcge ist, aber es bestimmt dein Handeln. Zieh die Hose aus. Bei euch gibt es doch ganze Badeorte, wo man nackt heruml\u00e4uft. – So, jetzt kann ich dich vorstellen.\u201c
\nDie M\u00e4dchen sind bildh\u00fcbsch, keine ist \u00fcber zwanzig. Auch Daniel und sein Freund haben Athletenfiguren, die sich sehen lassen k\u00f6nnen.
\n\u201eSo, jetzt leg dich hin und entspanne dich. Willst du einen Daiquerie?\u201c
\n\u201eBitte.\u201c<\/p>\n

\"\"\u00a0\u00a0\u00a0<\/strong><\/em><\/p>\n

Toleranz \u2013 eines der gr\u00f6\u00dften Wunder Brasiliens.<\/strong> Die Mischung der Rassen und Kulturen hat hier die menschlichsten Menschen geschaffen \u2013 und die fraulichsten Frauen. Weil sich Wei\u00dfe, Indianer und Neger mischten, gibt es keine Rassenvorurteile.<\/em><\/p>\n

Zwei livrierte Diener mischen neun Daiqueries. Wir trinken und plaudern. Am meisten kommt das Wort Sch\u00f6nheit vor. Manchmal auch Gl\u00fcck. Die M\u00e4dchen sagen, Daniel sei sch\u00f6n. Sie finden sich auch sch\u00f6n, sehr sch\u00f6n. Auch das Haus, das Leben, die Blumen, das Meer, die Liebe, gr\u00fcne Pullover, die Delphine, den Spiritismus, Jackie Kennedy, die Kokosn\u00fcsse, das Jagdspringen, eine k\u00fchle Brise unter Palmen, Tony Perkins, meine Beine, die Autobahn, Weihnachten, die Daiqueries und ich wei\u00df nicht, was sonst alles noch genannt wird. Dann springen sie ins Wasser. Daniel und ich bleiben allein.
\n\u201eSiehst du, wir sind die Beine deiner krebskranken Frau\u201c, sagt er. \u201eEs ist gar nicht unangenehm, sich um sie zu k\u00fcmmern. Drau\u00dfen ist der Krebs. Aber hier, in diesen Mauern, wird nur Sch\u00f6nes geduldet. Du mu\u00dft dar\u00fcber schreiben.\u201c
\n\u201eIch verspreche es dir.\u201c
\n\u201eBist du Marxist?\u201c
\n\u201eNein, das w\u00e4re zu einfach.\u201c
\n\u201eIst der Kapitalismus besser?\u201c
\n\u201eJe nachdem …\u201c
\n\u201eNa sch\u00f6n, ich habe eine Definition gefunden, die dir Spa\u00df machen wird. Aber zun\u00e4chst: Findest du die M\u00e4dchen sch\u00f6n?\u201c
\n\u201eSehr.\u201c
\n\u201eDann wirst du verstehen: Das Sch\u00f6nste, was der Kapitalismus geschaffen hat, sind solche M\u00e4dchen. Sie tr\u00e4umen von Seide, Sonne, Sch\u00f6nheit, Erfolg und Autos und k\u00f6nnen ihre Tr\u00e4ume nur durch einen Mann verwirklichen.\u201c
\nIch sage nichts.
\n\u201eSoll ich es \u00f6konomisch ausdr\u00fccken? Nun gut: Werbung ist einer der Hauptmotoren des Kapitalismus. Sie schafft jeden Tag neue Bed\u00fcrfnisse. W\u00fcnsche, die wir nie hatten, die wir nicht haben konnten, werden zu Zwangsvorstellungen. Man mu\u00df einfach Dinge w\u00fcnschen und besitzen, die man nicht braucht. Besonders die Frauen. Deshalb werden wir M\u00e4nner unentbehrlicher denn ja. Die Werbung erspart uns das Werben.\u201c
\n\u201eAber Geld mu\u00df man haben.\u201c
\n\u201eSelbstverst\u00e4ndlich. Ach, noch was: Hast du dir schon einmal vorgestellt, du w\u00fcrdest in ein Gesch\u00e4ft gehen, und der Eisschrank oder das Fernsehger\u00e4t k\u00f6nnten verlangen, dein Haus zu besichtigen, bevor sie entscheiden, ob sie bei dir stehen wollen?\u201c
\n\u201eNein. Warum?\u201c
\n\u201eAch nur so im Zusammenhang mit den M\u00e4dchen …\u201c
\nAls die Sonne untergeht, brechen wir auf. Zwei M\u00e4dchen fahren mit mir in die Stadt. Die eine ist Sekret\u00e4rin, die andere Lehrerin.<\/p>\n

Mittlerweile m\u00fc\u00dfte Juli\u00e3o angekommen sein. Wir gehen zu der Adresse, die er uns gegeben hat.
\n\u201eEr ist noch nicht da. Vielleicht in einer Woche …\u201c
\n\u201eK\u00f6nnen wir mit seinem Sekret\u00e4r sprechen?\u201c
\n\u201eHat er nicht.\u201c
\n\u201eWo ist der Sitz seiner Bewegung?\u201c
\n\u201eGibt es nicht. Oh, doch. Warten Sie …\u201c
\nMan gibt uns eine neue Adresse, und wir finden ein kleines bauf\u00e4lliges Haus mit der Aufschrift: PSB. Im ersten Stock: ein Raum, ein Tisch, wenige St\u00fchle und ein alter Mann, der uns erkl\u00e4rt, da\u00df hier der Sitz der Sozialistischen Partei Brasiliens, der PSB, ist, zu der auch Juli\u00e3o geh\u00f6rt.
\n\u201eUnd die Bauernligen?\u201c
\nBauern k\u00e4men auch manchmal her, meint er, aber mehr wisse er nicht.
\nEs bleibt uns eine letzte Adresse: ein Freund Juli\u00e3os. Er ist sympathisch, freundlich, wie es nur Brasilianer sein k\u00f6nnen. Schnell sitzen wir beim Kaffee und fragen ihn aus.
\nEr ist eine Art Briefkasten f\u00fcr Juli\u00e3o. Man k\u00f6nnte ihn fast einen Sekret\u00e4r nennen, wenn er nicht tags\u00fcber Ingenieur der Stadtverwaltung w\u00e4re. Abends werden ein paar Briefe beantwortet, das schon, aber haupts\u00e4chlich wird auf der Veranda gesessen. Dann weht ein k\u00fchler Wind vom Meer her\u00fcber, der den K\u00f6pfen die n\u00f6tige K\u00fchle gibt, um von Politik zu sprechen. Es kommen vielleicht noch ein paar Freunde hinzu, die sich auch f\u00fcrs Landproblem interessieren. Ja, man hilft Juli\u00e3o so gut es geht. Oft sitzt er n\u00e4chtelang hier herum und schreibt an Bisch\u00f6fe und Minister seine bissigen Briefe, die ihn als Schriftsteller ber\u00fchmt gemacht haben.<\/p>\n

Wir begreifen: Hier gibt es gar keine Organisation, keine Massenbewegung in unserem Sinne, mit Leitern, Funktion\u00e4ren, Sekret\u00e4ren, mit Gruppen, Fahnen, Pauken und Trompeten. Hier gibt es nicht einmal ein Programm. Es gibt nur viele Millionen Bauern im tiefsten Elend. Und es gibt einen Mann, der sich f\u00fcr sie einsetzt und der das Symbol ihrer Hoffnungen geworden ist. Einer, der lesen, schreiben und reden kann und liest, schreibt und spricht, was die Millionen Analphabeten des Landes nur ahnen, f\u00fchlen und wollen.<\/p>\n

Bis jetzt sind einige hundert Bauernligen gegr\u00fcndet worden. Nicht etwa zentral organisiert. Nein. Spontan oder durch H\u00f6rensagen. Und Juli\u00e3o wurde jedesmal Ehrenpr\u00e4sident, das hei\u00dft: neben dem Elend der einzige Bindestrich zwischen weit zerstreuten Gruppen.<\/p>\n

Die Toten haben den Weg gezeigt<\/strong><\/p>\n

Wie die erste Bauernliga entstanden ist, erfahren wir an Ort und Stelle, sechzig Kilometer von Recife entfernt, auf einem St\u00fcck Land, das sich verhei\u00dfungsvoll Galileia nennt.<\/p>\n

Es geh\u00f6rte der Familie Beltr\u00e3o, die dort Zuckerrohr anbaute und Schnaps brannte. Wie \u00fcblich hatte sie einigen hundert Bauern kleine Felder verpachtet, wo diese ihre H\u00fctten errichten und Obst und Gem\u00fcse f\u00fcr den Eigenbedarf anbauen durften. Auf diese Weise kassierte der Besitzer jedes Jahr eine ansehnliche Summe Pachtgeld und verf\u00fcgte \u00fcber billige Arbeitskr\u00e4fte, die ihm vollkommen ausgeliefert waren, weil sie in seiner Schuld standen und auf seinen L\u00e4ndereien wohnten.<\/p>\n

Im Nordosten gibt es in solchen F\u00e4llen keinen Pachtvertrag. Alles ist m\u00fcndliche Absprache. Das hei\u00dft, der Besitzer spricht und der Bauer mu\u00df ja sagen, wenn er arbeiten will.<\/p>\n

Wenn es dem Herrn gef\u00e4llt, schmei\u00dft er den Bauern raus. Eigentlich m\u00fc\u00dfte er den Bauern f\u00fcr alles entsch\u00e4digen, was dieser angepflanzt hat. Aber der Weg zum Gericht ist weit \u2013 und auch Richter sind k\u00e4uflich. Sogar ohne schlechtes Gewissen, denn \u201eein Bauer ist kein Mensch. Man braucht ihn wie Kuh und Esel\u201c. Das haben wir oft geh\u00f6rt und auf jedem Gut erlebt.<\/p>\n

Die Bauern haben keinen Status, keine rechte Handhabe, um sich gegen die Willk\u00fcr des Herrn zu sch\u00fctzen. Die meisten von ihnen d\u00fcrfen nicht einmal w\u00e4hlen, denn sie sind Analphabeten und haben daher kein Wahlrecht. In vielen F\u00e4llen m\u00fcssen sie sogar den \u201eCamb\u00e3o\u201c leisten, das hei\u00dft, sich verdingen.<\/p>\n

Ein Beispiel unter Hunderttausenden: Manuel Guimar\u00e3es aus Arcoverde hat einen Hektar Land gepachtet, mit dem er seine Frau und f\u00fcnf Kinder ern\u00e4hrt. Der Besitzer will kein Pachtgeld. Er fordert als Gegenleistung vier Tage kostenlose Arbeit pro Woche. Das sind 208 Tage im Jahr. Diese Absprache besteht seit 1950. Mithin arbeitet Manuel bereits 2500 Tage, um die Pacht f\u00fcr einen Hektar Land zu zahlen. Nun kostet ein Hektar Land in jener Gegend rund 20 000 Cruzeiros (300 Mark). Wenn Manuel den gesetzlich festgesetzten Mindestlohn von 200 Cruzeiros (3 Mark) pro Tag erhalten h\u00e4tte, w\u00fcrde sein Einkommen in diesen zw\u00f6lf Jahren 500 000 Cruzeiros betragen haben (7500 Mark), f\u00fcnfundzwanzigmal den Wert des Ackers, von dem er jeden Tag davongejagt werden kann. Das ist der \u201eCamb\u00e3o\u201c in der Praxis.<\/p>\n

Ach ja, es gibt den Mindestlohn f\u00fcr Landarbeiter. Dies ist der einzige Punkt, in dem die brasilianische Gesetzgebung die Landbev\u00f6lkerung nicht vergessen hat. Der Tageslohn schwankt je nach der Gegend und betr\u00e4gt im Durchschnitt 200 Cruzeiros (3 Mark). Aber er steht nur auf dem Papier und wird bel\u00e4chelt, als sei er das Hirngespinst sozialer Tr\u00e4umer. Wer ihn fordert, wird davongejagt oder von der Capanga, der Privatpolizei des Eigent\u00fcmers, eines Besseren belehrt. Das Dach wird abgerissen, die Tochter vergewaltigt, das Haus angez\u00fcndet oder der Sch\u00e4del eingeschlagen. Bauern sind ja nur bessere Tiere. Wenn sie Gl\u00fcck haben, bekommen sie eine Mark f\u00fcr zehn Stunden Arbeit unter tropischer Sonne.
\nSo leben Millionen. –\u00a0So lebten auch die Bauern von Galileia. Sie mu\u00dften sogar oft ihre Toten in Zeitungspapier begraben, weil ihnen das Geld f\u00fcr den Sarg fehlte. Schlimmeres kann einem Bauern gar nicht passieren. Es bringt Unheil und Schande. Manchmal lagen die Toten mehrere Tage bei 35 Grad unbeerdigt im Schatten, weil man verzweifelt versuchte, etwas Holz zu bekommen, um einen Kasten zu zimmern.<\/p>\n

Da kam einer auf die Idee, eine Begr\u00e4bnisgenossenschaft zu gr\u00fcnden. Jede Familie sollte 10 Cruzeiros (15 Pfennig) im Monat zahlen und erstand damit das Recht auf einen Sarg f\u00fcr ihre Toten. Da meistens Kinder starben, waren die S\u00e4rge klein und billig. Es klappte. Keiner brauchte mehr seine letzte Reise in einem Kleid aus Schlagzeilen anzutreten, die er nicht lesen konnte.<\/p>\n

Nach einiger Zeit war die Pacht so erh\u00f6ht worden, da\u00df viele Bauern sie nicht mehr zahlen konnten. Und wieder machte die Not erfinderisch. Die Toten hatten den Weg gezeigt. Man brauchte nur eine Gesellschaft zu gr\u00fcnden und einen Fonds zu schaffen, mit dem man denen beistehen konnte, die krank oder im R\u00fcckstand waren.<\/p>\n

So entstand am 1. Januar 1955 die Sociedade Agricola e Pecuaria dos Plantadores de Pernambuco (Land- und Viehwirtschaftliche Gesellschaft der Pflanzer von Pernambuco). Die erste Bauernliga.<\/p>\n

Der alte Beltr\u00e3o, Besitzer von Galileia, fand die Idee ausgezeichnet. \u201eDaran h\u00e4ttet ihr eher denken sollen\u201c, rief er begeistert, denn jetzt war sein Pachtgeld sicher. \u201eAlle Bauern meiner L\u00e4ndereien sollten sich euch anschlie\u00dfen.\u201c<\/p>\n

\u201eMein Vater ist ein Idiot\u201c, schrie Beltr\u00e3o junior, Zahnarzt seines Zeichens, der als Student ein wenig Marx gelesen hatte und sich in Volksmassen auskannte. \u201eDas ist Revolution. Die Masse der Armen darf sich nicht organisieren.\u201c\u00a0 Und er ging mit der Polizei nach Galileia, um die Bauern von seinem Land zu jagen.<\/p>\n

Er hatte recht, in seinem Sinne. \u201eArme d\u00fcrfen sich nicht organisieren.\u201c Die Polizei traf nicht mehr, wie fr\u00fcher einen hilflosen, ver\u00e4ngstigten Mann, mit dem sie machen konnte, was sie wollte. Eine ganze Gemeinde stand ihr gegen\u00fcber.
\n\u201eWir gehen\u201c, sagten sie, \u201eaber nur, wenn man uns entsch\u00e4digt, wie das Recht es verlangt.\u201c Zum erstenmal h\u00f6rten die H\u00fcter des Gesetzes, da\u00df auch Bauern Rechte haben. Das brachte Beltr\u00e3o junior zur Raserei. Er befahl, r\u00fccksichtslos vorzugehen.<\/p>\n

Die Bauern schickten einige M\u00e4nne nach Recife, um ihren Fall vors Gericht zu bringen. Dort trafen sie einen Rechtsanwalt: Francisco Juli\u00e3o. Er nahm sich ihrer Sache an und lie\u00df die Vereinigung von Galileia eintragen: Gesellschaft f\u00fcr wohlt\u00e4tige Zwecke mit Sitz in Recife. Aus Dankbarkeit ernannten sie ihn zum Ehrenvorsitzenden, und heute, nach sechs Jahren, ist er der unumstrittene F\u00fchrer der Bauern Brasiliens. Aus dem Wohlt\u00e4tigkeitsverein ist eine revolution\u00e4re Bewegung geworden, aus der Begr\u00e4bnisgesellschaft das Grab einer Gesellschaft.<\/p>\n

Im n\u00e4chsten Stern: Bauernmord mit Wirtschaftshilfe<\/strong><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Stern, Heft 6, 11. Februar 1962 [Anmerkung: Im Folgenden wird der Begriff Neger\/Negerin aus dem Originaltext beibehalten. Diese Bezeichnung war damals ohne Abwertung als Fremd- und Selbstzuschreibung gel\u00e4ufig.] Siebzig Millionen Menschen wollen die Ketten sprengen, die sie zum \u00e4rmsten Volk im reichsten Teil der Erde machen. Das f\u00fcnftgr\u00f6\u00dfte Land der Welt, der Riese unter den…<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":55853,"parent":54040,"menu_order":0,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":{"_seopress_robots_primary_cat":"","_seopress_titles_title":"","_seopress_titles_desc":"","_seopress_robots_index":"","footnotes":""},"categories":[592],"tags":[],"class_list":["post-54041","page","type-page","status-publish","has-post-thumbnail","hentry","category-brasilien","entry","has-media"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54041"}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/types\/page"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/users\/1"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=54041"}],"version-history":[{"count":3,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54041\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":64065,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54041\/revisions\/64065"}],"up":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54040"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media\/55853"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=54041"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=54041"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=54041"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}