{"id":54042,"date":"2017-03-11T14:08:55","date_gmt":"2017-03-11T13:08:55","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=54042"},"modified":"2021-07-29T16:43:34","modified_gmt":"2021-07-29T14:43:34","slug":"bauernmord-mit-wirtschaftshilfe","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/brasilien\/bauernmord-mit-wirtschaftshilfe\/","title":{"rendered":"Bauernmord mit Wirtschaftshilfe"},"content":{"rendered":"

Stern, Heft 7,\u00a0 18. Februar 1962<\/em><\/p>[Anmerkung: Im Folgenden wird der Begriff Neger\/Negerin aus dem Originaltext beibehalten. Diese Bezeichnung war damals ohne Abwertung als Fremd- und Selbstzuschreibung gel\u00e4ufig.]

Drei Milliarden Mark von den USA. Zweihundert Millionen von der Bundesrepublik. Hundert von Frankreich. Das ist Wirtschaftshilfe f\u00fcr Brasilien. Sie soll sozialen Wohlstand schaffen und das Land dem Westen erhalten. Die Schlacht um Lateinamerika hat begonnen. Viel Geld gegen Castro und seinen gro\u00dfen Verb\u00fcndeten: das Elend. Wer wird siegen? Kenner behaupten, die Wahl hei\u00dfe nicht mehr Kennedy oder Castro, sondern Kommunismus oder Fidelismus.<\/strong><\/p>

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W<\/strong><\/em>irtschaftshilfe kommt auch in solche Finger<\/strong> und bleibt daran kleben. Es ist die Hand eines Gro\u00dfgrundbesitzers, eine der zehntausend H\u00e4nde, in denen das Schicksal v<\/em>on Millionen Bauern liegt. Wir haben gesehen, wie Wirtschaftshilfe in solchen H\u00e4nden zur Mordwaffe werden kann. Es geschah in Cabo, im Nordosten Brasiliens: Die franz\u00f6sische Regier<\/em>ung hatte dort einer Gesellschaft 48 Millionen Mark zur Verf\u00fcgung gestellt, um eine Fabrik f\u00fcr synthetischen Gummi zu bauen. Obwohl nur zw\u00f6lf Hektar Industriege<\/em>l\u00e4nde ben\u00f6tigt wurden, kaufte die Gesellschaft 4500 Hektar Land und verjagte die Bauern. Um mit dem Land zu spekulieren, brauchten sie unbesiedelten Boden. F\u00fcnftausend Menschen sollten ihr Heim verlassen. Ohne Entsch\u00e4digung. Ohne Hoffnung auf Arbeit. Sie sollten verhungern<\/em><\/p>

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Flu\u00df der Einigkeit<\/strong> nennt man den Rio San Francisco, der Brasilien von S\u00fcden nach Norden auf 2000 Kilometer durchflie\u00dft. In einem Land das 34mal so gro\u00df ist wie die Bundesrepublik und wenige Stra\u00dfen hat, ist er das gro\u00dfe Band, das Symbol der Einheit. Er ist auch die Stra\u00dfe der Fl\u00fcchtlinge, die stromaufw\u00e4rts ziehen, um in reicheren S\u00fcden Arbeit zu finden Flu\u00df der Einigkeit nennt man den Rio San Francisco, der Brasilien von S\u00fcden nach Norden auf 2000 Kilometer durchflie\u00dft. In einem Land das 34mal so gro\u00df ist wie die Bundesrepublik und wenige Stra\u00dfen hat, ist er das gro\u00dfe Band, das Symbol der Einheit. Er ist auch die Stra\u00dfe der Fl\u00fcchtlinge, die stromaufw\u00e4rts ziehen, um in reicheren S\u00fcden Arbeit zu finden Flu\u00df der Einigkeit nennt man den Rio San Francisco, der Brasilien von S\u00fcden nach Norden auf 2000 Kilometer durchflie\u00dft. In einem Land das 34mal so gro\u00df ist wie die Bundesrepublik und wenige Stra\u00dfen hat, ist er das gro\u00dfe Band, das Symbol der Einheit. Er ist auch die Stra\u00dfe der Fl\u00fcchtlinge, die stromaufw\u00e4rts ziehen, um in reicheren S\u00fcden Arbeit zu finden Ein Haufen Hoffnung setzt auf diesem Boot, das den Rio S\u00e3o Francisco stromaufw\u00e4rts f\u00e4hrt: vertriebenen Bauern aus dem Norden. Sie werden drei Monate lang hier und so leben, bis sie den S\u00fcden erreichen und vielleicht Arbeit finden. Das Fahrgeld betr\u00e4gt 20 Cruzeiros (30 Pfennig). Sie kommen mittellos an, und oft m\u00fcssen die Frauen betteln, bis die M\u00e4nner Arbeit haben<\/em>.<\/p>

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Ein Haufen Hoffnung<\/strong> sitzt auf diesem Boot, das den Rio S\u00e3o Francisco stromaufw\u00e4rts f\u00e4hrt: vertriebenen Bauern aus dem Norden. Sie werden drei Monate lang hier und so leben, bis sie den S\u00fcden erreichen und vielleicht Arbeit finden. Das Fahrgeld betr\u00e4gt 20 Cruzeiros (30 Pfennig). Sie kommen mittellos an, und oft m\u00fcssen die Frauen betteln, bis die M\u00e4nner Arbeit haben<\/em><\/p>

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Stadt der Zukunft:<\/strong> S\u00e3o Paulo. Vier Millionen Einwohner. f\u00fcnfzigtausend Fabriken. Vierhundert Banken. F\u00fcnfhundert Milliard\u00e4re und mindestens ebenso viele, die vorgeben, es zu sein. Hier entsteht jede Stunde ein neues Haus, jeden Tag ein neues Verm\u00f6gen. Wie ein Magnet zieht diese Stadt die Fl\u00fcchtlinge aus dem Inneren des Landes. Die meisten finden Besch\u00e4ftigung, denn hier gibt es nur 2 Prozent Arbeitslose. Aber S\u00e3o Paulo wirkt wie ein Absze\u00df. Es zieht dauernd das beste Blut aus einem schon zu d\u00fcnn besiedelten Land: die Menschen  <\/em><\/p>

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\u201eEs gibt keine Kuh ohne Schwanz.“
\u201eDoch.“
\u201eWo?“
\u201eWei\u00df ich nicht. Aber es gibt alles.“
\u201eEs gibt keine Fliege ohne Fl\u00fcgel.“
\u201eDoch.“
\u201eWo?“
\u201eWei\u00df ich nicht. Es gibt eben alles.“
\u201eAber es gibt keinen Kommunisten, der an Gott glaubt.“
\u201eDoch.“
\u201eWo?“
\u201eHier.“
\u201eWer?“
\u201eIch.“
\u201eSchw\u00f6re es.“
\u201eBei Gott.“
Ich h\u00f6re nur die Stimmen. Sie klingen \u00fcber eine Mauer hinweg, vor der ich ein paar Kniebeugen mache, w\u00e4hrend man sich an der Tankstelle um unseren Wagen k\u00fcmmert. Vierhundert Kilometer auf Feldwegen machen Beine nicht gerade gelenkig.
Die erste Stimme spricht wieder:
\u201eWoher wei\u00dft du, da\u00df du an Gott glaubst?“
\u201eWeil ich glaube.“
\u201eWoher wei\u00dft du, da\u00df du Kommunist bist?“
\u201eDer Gutsverwalter hat es gesagt, als er mich davonjagte.“
\u201eWas hat er gesagt?“
\u201eIch sei Kommunist.“
\u201eWarum?“
\u201eWeil ich f\u00fcr die Landreform bin.“
\u201eUnd was hast du geantwortet?“
\u201eDa\u00df ich f\u00fcr die Landreform bin.“
\u201eUnd was hat er gesagt?“
\u201eDa\u00df ich Kommunist sei.“
\u201eUnd bist du Kommunist?“
\u201eWenn Landreform Kommunismus ist, dann mu\u00df ich einer sein.“
\u201eAha – Du bist also wirklich einer \u2026\u201c
Die grollende Stimme wird pl\u00f6tzlich von einem furchtbaren Krach \u00fcbert\u00f6nt. Hundert leere Benzinkanister scheinen beschlossen zu haben, gemeinsam Tanzunterricht zu nehmen. Ich ziehe mich an der Mauer hoch: Auf einem Stapel leerer \u00d6ldosen liegt ein Mann, der wie ein Bauer aussieht. Ein st\u00e4mmiger Kerl hat ihm den Fu\u00df auf die Brust gestellt und l\u00e4\u00dft \u00d6lreste aus einer B\u00fcchse auf sein Gesicht tr\u00e4ufeln. Der Bauer kr\u00fcmmt sich vor Lachen. Der andere schreit:
\u201eSo, mein Lieber – und jetzt behaupte noch mal, da\u00df du an Gott glaubst. Ein Kommunist hat keinen Gott. Gott geh\u00f6rt uns.“
Mittlerweile haben beide gemerkt, da\u00df sie einen  Zuschauer haben. Sie lassen voneinander ab. Der Bauer steht auf, ohne sein Lachen zu verlieren.
\u201eUnd wer sind Sie?“, fragt mich der andere.
\u201eDer liebe Gott.“
Ich habe gerade noch Zeit, mich von der Mauer gleiten zu lassen, bevor ein \u00d6ldose dort durch die Luft saust, wo vorher mein Kopf gewesen ist.
\u201eTausendzweihundert Cruzeiros“, sagt der Tankwart, ohne mit der Wimper zu zucken, obwohl die B\u00fcchse vor seinen F\u00fc\u00dfen landet. \u201eDie streiten schon seit zwei Tagen \u00fcber Politik.“
Wir fahren weiter. Wir, das sind meine Kollegin Claude Deffarge, Francisco Juli\u00e3o, der Bauernf\u00fchrer Brasiliens, ich und ein gemieteter Volkswagen brasilianischer Fabrikation.
Der Schutzengel der Reporter hat es diesmal besonders gut mit uns gemeint. Wir sind achttausend Kilometer hinter diesem Mann hergejagt, den man den gef\u00e4hrlichsten Revolution\u00e4r S\u00fcdamerikas nennt, und er scheint zu verstehen, da\u00df wir f\u00fcr unsere Ausdauer mehr verdienen als ein nichtssagendes Interview. Juli\u00e3os Wagen war im richtigen Augenblick zusammengebrochen, und wir wurden seine Fahrer und Begleiter auf einer langen Reise durchs Innere des brasilianischen Nordostens.
Zun\u00e4chst hatten wir den Eindruck, Dynamit zu transportieren. \u201eWenn es nach mir ginge, w\u00e4re dieser Kerl schon l\u00e4ngst Hundefutter geworden“, hatte uns ein Gutsbesitzer am Vorabend der Abreise gesagt. Bei uns l\u00e4chelt man \u00fcber einen solchen Satz. Im Nordosten Brasiliens steht der Ausf\u00fchrung solcher Drohung jedoch kaum etwas im Wege. Man nennt das: \u201eo servi\u00e7o, den Dienst“, den ein treuer Knecht seinem Herrn leistet. F\u00fcr ein Trinkgeld.
Sp\u00e4ter erfahren wir, wie Juli\u00e3o sich am Leben h\u00e4lt, ohne Leibw\u00e4chter und ohne Spesen. Er hat seinen Bauern zwanzig Gro\u00dfgrundbesitzer genannt, die sofort ermordet werden, falls ihm etwas zust\u00f6\u00dft. \u201eZwanzig f\u00fcr einen, das ist nicht fair“, meinen seine Gegner. Aber sie lassen die H\u00e4nde von ihm. Sie wissen, da\u00df die Bauern auf einen Vorwand zur Rache warten und Hunderte nicht zwanzig den Tod Juli\u00e3os mit ihrem Leben bezahlen m\u00fc\u00dften. Eine bessere Lebensversicherung gibt es hier gar nicht.<\/p>

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Francisco Juli\u00e3a, der Fidel Castro Brasiliens, empf\u00e4ngt die Vertreter einer Bauernliga in seinem Landhaus<\/em><\/strong><\/p>

Die ersten Tage fahren wir vorsichtig, weil wir Angst um Juli\u00e3o haben. Und jetzt, weil wir f\u00fcr uns und die Gro\u00dfgrundbesitzer f\u00fcrchten. Wenn wir einen Unfall haben, werden sie umgebracht – und wir auch. Denn welchen Bauern k\u00f6nnten wir glaubhaft machen, da\u00df ein Unfall andere Gr\u00fcnde haben kann als geheime Machenschaften, politische Intrigen und materielle Vorteile – wenn Juli\u00e3o das Opfer ist. Und mit uns hinge der bereits sehr verblichene Ruf der westlichen Welt am n\u00e4chsten Baum.
\u201eWarum hat man die Dose nach dir geworfen?“ will Juli\u00e3o wissen.
\u201eWeil ich der liebe Gott war.“
Er l\u00e4chelt, und ich erz\u00e4hle ihm mein kleines Abenteuer.
\u201eEs hat noch nie ein eintr\u00e4glicheres Gesch\u00e4ft gegeben als den Antikommunismus“, meint er. Sobald man anklagend ‚Kommunist\u2019 schreit, bekommt man Macht und Geld. Fr\u00fcher verschrie man alle Nationalisten als Kommunisten. Dann waren es die Gewerkschaften. Heute sind es die Bauern, weil sie nicht mehr getreten werden wollen. Und die Studenten nat\u00fcrlich, weil sie nachdenken k\u00f6nnen. Sobald man an den traditionellen Interessen r\u00fcttelt, wird man ‚Kommunist‘ , das hei\u00dft: Freiwild. ‚Sei Patriot, leg  deinen Kommunisten um‘, fl\u00fcstert man sich in der guten Gesellschaft zu. Da\u00df diese Art Antikommunismus, diese bewu\u00dft geschaffene Hysterie, nur die Tarnung eines neuen Faschismus ist, d\u00fcrfte dir bereits aufgefallen sein. In Europa, in den Vereinigten Staaten. Hier.
Andererseits bleibt uns kaum ein anderer Weg: Wir m\u00fcssen ja zu Kommunisten werden, wenn jeder Schrei nach sozialer Gerechtigkeit als kommunistischer Kriegsruf bezeichnet wird. Wenn man uns wie Auss\u00e4tzige behandelt, dann m\u00fcssen wir unter die Auss\u00e4tzigen gehen, um leben zu k\u00f6nnen.“
\u201eBist du Kommunist?“
\u201eIch geh\u00f6re zur sozialistischen Partei Brasiliens und habe viele kommunistische Freunde, ich kann mich aber nicht als Kommunist bezeichnen. China bewundere ich sehr, auch Russland hat mich beeindruckt. Beide L\u00e4nder habe ich als Gast besucht.“
\u201eMarxist?“
Juli\u00e3o l\u00e4chelt: „Ich mu\u00df dir gestehen, da\u00df ich nie Zeit hatte, mich in Marx zu vertiefen. – am liebsten lese ich Jules Verne und Proust. – Ich stehe zu keinem Dogma.“
\u201eBist du Christ?“
\u201eNein, ich glaube nicht an Gott. Ich verehre jedoch den Menschen Christus \u00fcber alles. Er war ein gr\u00f6\u00dferer Revolution\u00e4r als Mao Tse-tung, Gandhi oder Fidel Castro. Er predigte Liebe und Gerechtigkeit und umgab sich mit Armen: Fischern, Schreinern, Bettlern. Nenn mir einen Reichen unter seinen J\u00fcngern. Er war gegen Ha\u00df und Verfolgung. Wenn er heute wiederk\u00e4me, w\u00fcrde man ihn einen Kommunisten nennen. Er wurde von den Pharis\u00e4ern gekreuzigt, den Kapitalisten seiner Zeit.“
\u201eUnd wie w\u00fcrde man ihn in Ru\u00dfland nennen?“
\u201eEinen Revisionisten wahrscheinlich.“
Wir kommen in Santa Rita an, einer kleinen Stadt im Staate Paraibo. Die Bauern haben sich auf dem Hauptplatz versammelt, um Juli\u00e3o zu h\u00f6ren. Raketen steigen auf, als feiere man den Namenstag eines Heiligen.
Wir sind zwei Stunden zu sp\u00e4t. Wie immer. P\u00fcnktlichkeit und pr\u00e4zise Organisation geh\u00f6ren nicht zur brasilianischen Mentalit\u00e4t. Unterwegs hat Juli\u00e3o uns die Blumen erkl\u00e4rt, die K\u00e4fer, die tausend Fr\u00fcchte Brasiliens. Wir haben Kokosmilch getrunken und am Strand \u00fcber Politik diskutiert, als geh\u00f6re unser ganzes Leben nur diesen Momenten. Es wurde nie auf die Uhr geschaut. Und wie immer haben die Bauern geduldig gewartet.
Auch heute h\u00f6ren wir in der abendlichen Rede das Echo unserer t\u00e4glichen Gespr\u00e4che:
\u201eMeine beiden Freunde, die ausl\u00e4ndische Journalisten, die ihr hier seht, haben viele L\u00e4nder bereist, in denen das Volk ebenso arm und geknechtet ist wie hier. \u00dcberall sind es die gleichen drei Worte, welche die Massen aufr\u00fctteln, die gleichen drei M\u00e4chte, die sie in Armut halten, die gleichen drei Feinde, gegen die sie sich zusammenschlie\u00dfen. Diese drei Feinde hei\u00dfen: Imperialismus, Korruption, Gro\u00dfgrundbesitz \u2026“
\u201eNieder – nieder mit ihnen“, rufen die Bauern, und dann: \u201eEs leben die ausl\u00e4ndische Journalisten. \u201eWir m\u00fcssen ein paar Diener machen und f\u00fchlen uns gar nicht recht wohl in unserer Haut. Juli\u00e3o l\u00e4chelt uns zu, als habe er uns einen guten Streich gespielt, und f\u00e4hrt fort:
\u201eWir m\u00fcssen diese drei M\u00e4chte zerschlagen. Unser Kampf gilt ihnen, den Verantwortlichen eures Elends. Nur wenn wir sie besiegen, k\u00f6nnt ihr aus der totalen Misere, in der ihr heute lebt, wenigstens zu ehrbarer Armut aufsteigen. Ja – unsere Wahl hei\u00dft nicht Not oder Reichtum. Sie hei\u00dft Unterdr\u00fcckung, Ausbeutung, Erniedrigung – oder Gerechtigkeit. Und wenn diese drei M\u00e4chte nicht freiwillig Gerechtigkeit widerfahren lassen, dann werden Feuer und Schwert uns das Recht erzwingen, als freie Menschen auf dieser Erde zu leben.“
Deutlicher kann er sein Programm nicht verk\u00fcnden. Obwohl Juli\u00e3o noch manchmal von Reform spricht – aus taktischen Gr\u00fcnden wahrscheinlich -, ist er \u00fcberzeugt, da\u00df eine gewaltsame Revolution in Brasilien und ganz Lateinamerika unumg\u00e4nglich ist.
Seine Begr\u00fcndung ist einfach und logisch: Durchgreifende Reformen k\u00f6nnen nur auf Kosten der Interessen der herrschenden Schicht durchgef\u00fchrt werden. Wenn sie \u00fcberhaupt Sinn haben sollen, bedeuten sie sofortige materielle Opfer sowie Einbu\u00dfe an politischem Einflu\u00df – und auf lange Sicht den Verzicht auf die Macht. Nun kann man nicht erwarten, da\u00df jemand sich pl\u00f6tzlich aus sozialem Gerechtigkeitssinn ein paar Glieder abgehackt oder gar Selbstmord begeht.<\/p>

Lauter L\u00fcgen \u00fcber Juli\u00e3o<\/strong><\/p>

Mithin kann das heutige System bestenfalls Ref\u00f6rmchen versprechen, die keines der \u00dcbel beheben, sondern nur die Spannungen vor\u00fcbergehend abschw\u00e4chen.
Andererseits bleibt der demokratische Weg verschlossen, das hei\u00dft das Erringen einer Mehrheit, welche die notwendigen Reformen beschlie\u00dft und durchf\u00fchrt, weil die Mehrzahl der Menschen, um die es geht – die Bauern -, Analphabeten sind und als solche nicht w\u00e4hlen d\u00fcrfen. Es bleibt also nur die Revolution, der Kampf der Mehrheit gegen jene Minderheit, welche die ausschlie\u00dfliche Verantwortung f\u00fcr die katastrophale Lage des Landes tr\u00e4gt.
Aber Juli\u00e3o rechtfertigt die Revolution nicht durch eine geschichtliche Dialektik, die das Volk oder das Proletariat zur Herrschaft bestimmt. Er vertritt kein Dogma, das den Sieg des Sozialismus als unabwendbar voraussetzt. – Nie h\u00f6ren wir bei Juli\u00e3o einen Hinweis auf Marx oder Lenin.
Er geh\u00f6rt zur „Neuen Welle“ der lateinamerikanischen Rebellen, die nichts mehr mit den herk\u00f6mmlichen „Revolution\u00e4ren“ gemein haben. Diese wollten nie etwas verbessern, au\u00dfer ihr Schweizer Bankkonto. Sie sind das Abziehbild der herrschenden Schicht und nutzen unruhige Verh\u00e4ltnisse demagogisch aus, um sich pers\u00f6nlich zu bereichern. Die neuen M\u00e4nner hingegen sind der Ausdruck einer revolution\u00e4ren Situation.
Deshalb unterscheiden sie sich auch grunds\u00e4tzlich von den Kommunisten. W\u00e4hrend die Partei alles in Bezug auf den Sieg des Sozialismus im Weltma\u00dfstab bewertet und deshalb Elend, Unterdr\u00fcckung, Knechtschaft zun\u00e4chst als taktische Waffen ihres globalen Kampfes ausnutzt, fordern die neuen Revolution\u00e4re die sofortige und totale Ausrottung ihrer Ursachen. In diesem Falle die Ausrottung des Imperialismus, der politischen Korruption und des Gro\u00dfgrundbesitzes, wie sie sagen.
Sie sind daher bedeutend radikaler als die Kommunisten, deren internationale Bindungen jede Improvisation ausschlie\u00dfen, und die in ihrer dogmatischen Verkalkung unf\u00e4hig sind, sich um Menschen, wirkliche Menschen und ihre Probleme, zu k\u00fcmmern. Aber gerade das wollen die neuen M\u00e4nner, r\u00fccksichtslos.
Der reinste Ausdruck dieser neuen Welle ist Fidel Castro. Der Fidelismus bleibt – trotz gegenteiligen Anscheins – der Todfeind des orthodoxen Kommunismus. Denn Castro ist nicht „Kommunist geworden“: Er hat sich keiner Disziplin unterworfen, keine Regeln oder Normen angenommen. Er ist ins kommunistische Lager gedr\u00e4ngt worden und versucht jetzt, die Kommunisten seines Landes zu unterwerfen, die Partei zu zwingen, das Instrument des Fidelismus zu werden, eines radikalen, pragmatischen Gerechtigkeitsfanatismus, dessen Zentrum der einzelne Mensch ist – und nicht „die Menschheit“. Wenn ihm das gelingt, ist S\u00fcdamerika f\u00fcr die Kommunisten verloren. Sollte er jedoch scheitern, dann m\u00f6gen die anderen V\u00f6lker die Lehre daraus ziehen, da\u00df es auf ihrem Kontinent keinen anderen Weg geben kann au\u00dfer den Kapitalismus oder den Kommunismus. Diesen anderen Weg wollte der Fidelismus einschlagen. In Kuba scheint er gescheitert zu sein.
Auf dem Festland ist der Fidelismus noch nicht gezwungen worden, zwischen Kapitalismus und Kommunismus zu w\u00e4hlen. Er ist heute noch die herrschende revolution\u00e4re Bewegung S\u00fcdamerikas. Juli\u00e3o ist dort ihr bedeutendster Vertreter. Aber er hat kein Geld, keine Kader, keine andere Macht als die nahezu religi\u00f6se Verehrung der Bauern und die fanatische Unterst\u00fctzung der Studenten. Von den Bauern Beitr\u00e4ge zu verlangen, entspr\u00e4che ungef\u00e4hr der Aufforderung an eine tote Gans, goldene Eier zu legen. Au\u00dfer seinen Di\u00e4ten als Landtagsabgeordneter von Pernambuco hat Juli\u00e3o keinen Pfennig. Und auch wir sind nur deshalb seine Chauffeure geworden, weil er ohne unseren Mietwagen kaum die Mittel gehabt h\u00e4tte, eine solche Reise zu unternehmen. Unterwegs schlafen wir in kleinen billigen Hotels, in Zimmern ohne Fenster und mit durchgelegenen Betten – weil Juli\u00e3o sparen mu\u00df.<\/p>

Hier mu\u00df ich meinen Bericht unterbrechen. Im amerikanischen Nachrichtenmagazin „Newsweek“ lese ich in einem gro\u00dfen Kommentar \u00fcber Juli\u00e3o, er habe sich zum Kommunismus bekannt. – Alles was wir gesehen, geh\u00f6rt, erlebt haben, mu\u00df also falsch sein. Ich kann es einfach nicht glauben, da\u00df drei Monate Erfahrung umsonst gewesen sind und schreibe an Juli\u00e3o. Heute erhalte ich seine Antwort: „Meu caro Troeller“, schreibt er. „Acabo neste minuto … ich erhalte in diesem Moment Ihren Brief und den Ausschnitt aus Newsweek. Ich erkl\u00e4re kategorisch, da\u00df ich niemals und vor niemandem behauptet habe, Kommunist zu sein. Ich bin so geblieben, wie Sie und ihre Kollegin mich in Brasilien kennengelernt haben. Die Nachricht der Presse ist nichts als eines der \u00fcblichen Man\u00f6ver  \u2026“
<\/em>Bereichert durch die Erfahrung, da\u00df Nachrichtenmagazine nicht immer Nachrichten bringen, schreibe ich also weiter.<\/em><\/p>

Juli\u00e3o lehnt die Unterst\u00fctzung der Kommunisten nicht ab. Im Gegenteil, er ist auf ihre Hilfe angewiesen, denn sie haben, was er nicht besitzt: Geld und eine gut funktionierende Organisation. Und die Kommunistische Partei versucht seine Mittellosigkeit auszunutzen. Sie will ihn abh\u00e4ngig machen, sich in aller Augen mit seiner Bewegung identifizieren. Sie will ihn zwingen, sich der Disziplin der Partei zu unterwerfen, bevor er so stark geworden ist, da\u00df er sie aufschluckt.
Sie haben gedroht, ihre Hilfe verweigert, eigene Bauernf\u00fchrer auf die Beine zu stellen versucht. Es hat nichts geholfen. Juli\u00e3o hat sich geweigert, der Partei beizutreten. Daraufhin habe sie an Fidel Castro geschrieben, er solle seinen Einflu\u00df geltend machen und Juli\u00e3o zur Unterwerfung zwingen. Sie waren schlecht beraten oder hatten den Sinn des Kampfes zwischen Fidelismus und Kommunismus noch nicht verstanden: Castro schickte diesen Brief einfach an Juli\u00e3o weiter und unterrichtete ihn somit \u00fcber die Intrigen der kommunistischen Parteif\u00fchrung. Deutlicher konnte er ihm kaum zu verstehen geben, au\u00dferhalb der Partei zu bleiben.
Wir erfahren von diesem Briefwechsel – der ein neues Licht auf den Kampf in S\u00fcdamerika wirft – durch eine ungewollte Indiskretion. – Als wir mit einem der bedeutendsten brasilianischen Volkswirtschaftler dar\u00fcber sprechen, erkl\u00e4rte uns:
\u201eDie Frage, ob Brasilien in den n\u00e4chsten zehn Jahren kommunistisch wird oder an irgendeiner der vom Westen vertretenen Formen der Demokratie festh\u00e4lt, stellt sich gar nicht mehr. Die Alternative hei\u00dft: Kommunismus oder Fidelismus. Dabei meine ich nicht den kubanischen Fidelismus, der durch au\u00dfenpolitischen Druck auf Abwege gedr\u00e4ngt worden ist. Nein, ich meine den echten, unverf\u00e4lschten Fidelismus, wie ihn die meisten wollen: Ich meine eine Revolution ohne dogmatische Vorurteile.“
Meine ungl\u00e4ubige Miene mu\u00df ihm nicht passen, denn er f\u00fcgt schnell hinzu: \u201eDass eine Revolution hier geradezu \u00fcberf\u00e4llig ist, m\u00fcssen Sie zu geben.“
\u201eVielleicht. Aber soviel ich wei\u00df, gibt es gro\u00dfz\u00fcgige Pl\u00e4ne, um sie aufzufangen. Ich denke dabei an Kennedys ‚ B\u00fcndnis f\u00fcr den Fortschritt‘, wo doch sch\u00f6ne 800 Millionen Dollar f\u00fcr Brasilien herausspringen.“
Mitleidiger bin ich selten angesehen worden.
\u201eKennedy ist ein unerh\u00f6rter Kerl. Wenn einer begriffen hat, was hier los ist, dann er. Aber es ist zehn Stunden nach Mitternacht. Kennedy kommt leider um 10 Jahre zu sp\u00e4t. S\u00fcdamerika ist pleite. Wir sind pleite. Brasilien ist pleite.“
\u201eIhr habt 3,8 Milliarden Auslandsschulden und eine galoppierende Inflation, ja. Aber \u2026“
Er l\u00e4\u00dft mich nicht ausreden: Unsinn. Wenn ich pleite sage, meine ich nicht das Geld. Ich spreche vom ganzen System. Wollen Sie ein Beispiel? Gut. Nehmen wir ein Unternehmen, irgendeins. In Deutschland oder wo sie wollen. Es ist nur dann gesund, wenn es allen Beteiligten, Arbeitern, Angestellten, Direktoren ein anst\u00e4ndiges Leben erm\u00f6glicht. Das hei\u00dft, wenn es so viel einbringt, da\u00df alle davon leben k\u00f6nnen. – Wenn es das nicht tut, ist es unrentabel. Einverstanden? Gut. – in diesem Fall gibt es zwei Wege: den gesunden, den jeder Unternehmer der freien Marktwirtschaft einschlagen w\u00fcrde – und den fatalen.
Der gesunde besteht darin, da\u00df man die Fehler im System behebt, da\u00df man umorganisiert, neu verteilt usw. oder – wenn der Markt einer solchen Industrie keine Chancen mehr gibt, die Bude zumacht und sein Kapital, seine Arbeitskr\u00e4fte usw. in ein neues Unternehmen steckt, von dessen Gewinn alle Betroffenen leben k\u00f6nnen.
Auf den unheilvollen Weg begibt man sich, wenn man gar nicht daran denkt, neu zu organisieren, das System zu \u00e4ndern oder umzusetzen, solange die paar Herren an der Spitze sich die Taschen f\u00fcllen k\u00f6nnen. In einem Betrieb, der nicht genug f\u00fcr alle abwirft, k\u00f6nnen sie das nat\u00fcrlich nur auf Kosten der \u00fcbrigen Beteiligten tun. Das hei\u00dft, sie zahlen Hungerl\u00f6hne.
Nun sch\u00f6n. Was geschieht? Die Arbeiter sind keine ‚Beteiligten‘. Sie sind Sklaven, die am Leben erhalten werden, weil man sie braucht. Und eines Tages kommt ihnen die Idee, da\u00df der Betrieb doch rentabel sein k\u00f6nnte, wenn man ihn umorganisiert oder umstellt, und sie fordern das Recht, das zu tun, was die Verantwortlichen unterlassen haben: das System zu \u00e4ndern.
Nun m\u00fcssen Sie zugeben, da\u00df eine Nation nichts anderes ist als ein gro\u00dfes Unternehmen, dessen simpelste Aufgabe darin besteht, alle B\u00fcrger zu ern\u00e4hren. Wenn sie das auf eine Art nicht schafft, mu\u00df sie so lange neue Wege suchen, bis der ‚Betrieb f\u00fcr alle Beteiligten rentabel ist‘. – Sollten die Verantwortlichen dies jedoch ablehnen – weil es   i h n e n  ja nicht schlecht geht – und den unheilvollen Weg einschlagen, dann ist es unvermeidlich, da\u00df M\u00e4nner aufstehen und so lange schreien, schlagen und t\u00f6ten, bis das alte System kaputt ist und der gesunde Weg eingeschlagen wird. – Das ist Revolution. In S\u00fcdamerika ist sie schon lange \u00fcberf\u00e4llig. Denn hier haben die bis heute ge\u00fcbten Systeme den fatalen Weg gew\u00e4hlt. Sie haben deshalb, wie ich schon sagte, pleite gemacht. Sie sind v\u00f6llig unrentabel f\u00fcr die Mehrheit der Beteiligten.“
\u201eUnd die vielen Millionen, die jetzt von den Vereinigten Staaten in den Betrieb hineingepumpt werden, k\u00f6nnen die nicht helfen?“
\u201eSie k\u00f6nnten es, wenn sie zur Reorganisation des Systems benutzt w\u00fcrden, zur \u00c4nderung der Strukturen, wie Kennedy es sehr richtig verlangt. Wirtschaftliche Piraterie und politische Gaukelei m\u00f6chte er in einen gesunden, sozial denkenden Kapitalismus umformen. Das schafft keiner im Bunde mit Piraten und Gauklern. Sie werden ja selbst sehen, was mit der Wirtschaftshilfe passiert.“
\u201eUnd deshalb glauben Sie, da\u00df sich die Wahl nur noch zwischen Kommunismus und Fidelismus stellt?“
\u201eMit einigen faschistischen Intermezzos, ja.“
\u201eDarf ich Sie noch fragen, wen Sie pers\u00f6nlich vorziehen?“
\u201eDie Fidelisten nat\u00fcrlich. Ich hasse Kommunisten, weil man mit ihnen nicht reden kann. Ich mu\u00df hinzuf\u00fcgen, da\u00df ich selbst ein eingefleischter Anh\u00e4nger der freien Wirtschaft bin.“
\u201eAber die Fidelisten sind viel radikaler als die Kommunisten.“
\u201eMein lieber Freund – wie ich schon sagte: Mit den Kommunisten kann man nicht reden. Die sind verbohrt. Die wollen ihre ‚Wahrheit‘ verwirklichen, ob es geht oder nicht. Die Fidelisten hingegen wollen \u00e4ndern – mit Recht. Radikal \u00e4ndern – mit Recht. Aber sie wollen nicht die Genauigkeit eines Systems unter Beweis stellen, sondern den ‚Betrieb rentabel‘ machen f\u00fcr alle. Und da k\u00f6nnen wir ihnen ein paar gute Tipps geben – so im Laufe der Entwicklung. Der echte Fidelismus ist noch im Werden, vergessen Sie das nicht. Studieren Sie die Fidelisten, und Sie werden die Zukunft Amerikas deuten k\u00f6nnen.“
\u201eIch habe einen im Wagen“, sage ich l\u00e4chelnd. \u201eJuli\u00e3o.“
Seine Augen blitzen pl\u00f6tzlich voller Begeisterung.
\u201eSind Sie ein Spion.“
\u201eNein. – Warum?“
\u201eSchade. – Ich hatte pl\u00f6tzlich die Idee, da\u00df der Westen gescheit geworden w\u00e4re. Ich sah sie in der Rolle eines amerikanischen oder deutschen Agenten, mit dem Auftrag, Juli\u00e3o heimlich Geld zu geben. – Wenn ich Kennedy w\u00e4re, w\u00fcrde ich das ganze ‚B\u00fcndnis f\u00fcr den Fortschritt‘ zum Teufel jagen und diesen Kerlen mein Geld geben.“ Er blinzelt mir zu: \u201eNennen Sie meinen Namen nicht – aber schreiben Sie dies vor allem.“<\/p>

Pedro hatte einen Hund, mit dem er den ganzen Tag herumtollte. Er war sein einziger Kamerad, das einzige Spielzeug, das er besa\u00df. Eines Tages kam sein Vater und erscho\u00df das Tier.
\u201eWarum?\u201c, wollte Pedro wissen.
\u201eWir m\u00fcssen unser Heim verlassen\u201c, sagte der Vater, \u201eund unterwegs haben wir kein
Futter mehr f\u00fcr den Hund.\u201c
\u201eDann erschie\u00df mich auch\u201c, schluchzte Pedro.
\u201eBesser w\u00e4r\u2019s, denn auch du wirst wahrscheinlich verhungern.\u201c
Wir finden Pedro am Stra\u00dfenrand. Er liegt \u00fcber seinem toten Freund und weint. Es dauert lange, bis wir ihn beruhigt haben und er uns seine Geschichte erz\u00e4hlt. Mittlerweile kommen auch der Vater und die Mutter und die sieben Geschwister.
Der Vater versucht seine Tat zu rechtfertigen. Er erz\u00e4hlt uns, da\u00df die Zuckerplantage verkauft worden ist und alle Bauern das Land verlassen m\u00fcssen. Sie wissen nicht wohin. In dieser Gegend gibt es keine andere Arbeit. Sie wollen vielleicht nach Recife, oder in kleinen St\u00e4dten betteln gehen. Sie haben Angst. Ob man nicht seine Kinder verkaufen k\u00f6nnte, meint er, dann brauchten sie nicht zu verhungern. Die Mutter wendet sich ab und legt die H\u00e4nde auf ihren Leib, der schon wieder ein neues Leben tr\u00e4gt. Die T\u00f6chter weinen.
\u201eWie lange seid ihr schon auf diesem Boden?\u201c frage ich.
\u201eZwei Leben.\u201c
\u201eWie viele sind in eurer Lage?\u201c
\u201eViele \u2013 fast alle sind schon l\u00e4nger hier als ein Leben.\u201c
\u201eWie gro\u00df ist die Plantage?\u201c
\u201eGro\u00df. \u2013 Sehr gro\u00df. \u2013 Die halbe Welt.\u201c
\u201eUnd wenn ihr einfach hierbleibt?\u201c
Er blickt mich verst\u00e4ndnislos an. \u201eSie haben zuerst die Witwen davongejagt. Gestern Nacht haben sie zwei H\u00e4user angesteckt, um auch uns M\u00e4nnern Angst zu machen. Sie treiben Kuhherden durch unsere G\u00e4rten. So hungern sie uns aus. Denn wir haben nichts anderes mehr zu essen als das, was wir gepflanzt haben.\u201c
\u201eGibt es denn keinen Ausweg?\u201c
\u201ePadre Mello will uns helfen. Der ist ein guter Mann. Aber was soll er machen? Wir werden nie mehr Boden besitzen als den Dreck unter unseren Fingern\u00e4geln.\u201c<\/p>

\"\"<\/figure>


<\/strong>Gott und Gewehre beherrschen den Cert\u00e3o, das Reich der Cangaceiros, das Herz des Nordostens<\/em>.
<\/strong>Sie sind immer gegenw\u00e4rtig, genau wie der Tod, der \u00fcber jeder Landschaft schwebt und Teil des Lebens ist. Hier hei\u00dft er D\u00fcrre. Die Menschen fliehen. Sie verschwinden im Strom derer, die aus anderen Gegenden, von anderen N\u00f6ten getrieben, ihre Hoffnungen in die St\u00e4dte schleppen<\/em>
<\/strong><\/p>

Getarnter Massenmord<\/strong><\/p>

Padre Mello ist der Vikar der n\u00e4chsten Stadt: Cabo. Er ist 29 Jahr alt. \u201eIhr wollt wissen, was hier los ist?\u201c ruft er uns als Begr\u00fc\u00dfung entgegen. \u201eDer Teufel ist los \u2013 ja, der Teufel.\u201c Und er erkl\u00e4rt uns die Lage:
Die Coperbo, eine gemischte Gesellschaft (25 Prozent Staatsanteile, 75 Prozent Privatkapital) will in der N\u00e4he von Cabo eine Fabrik bauen zur Herstellung von synthetischem Gummi. Vor drei Monaten hat sie hier eine Zuckerplantage erworben. Insgesamt 4500 Hektar f\u00fcr 77 Millionen Cruzeiros (1 Million Mark). Am gleichen Tag erschien der Vizepr\u00e4sident der Gesellschaft, ein Herr Vega, und erkl\u00e4rte, da\u00df keine der 552 Landarbeiterfamilien mehr das Recht h\u00e4tte, ihren Garten zu bebauen, da\u00df alle innerhalb von sechs Monaten das Land r\u00e4umen m\u00fc\u00dften. Das gleiche gilt f\u00fcr 200 weitere Familien, die in Gemeinschaftsh\u00e4usern wohnen. Das sind insgesamt 5000 Menschen, die davongejagt werden, ohne Entsch\u00e4digung, ohne Hoffnung auf neue Arbeit, ohne zu wissen wohin.\u201eAber man braucht doch keine 4500 Hektar, um eine Fabrik zu bauen\u201c, werfe ich ein.
\u201eZw\u00f6lf Hektar, mein Lieber. \u2013 Genau zw\u00f6lf Hektar Industriegel\u00e4nde sind vorgesehen. Der Rest ist pure, gemeine Spekulation. Wenn einmal die Fabrik steht und der Staat Stra\u00dfen,Elektrizit\u00e4tswerk und was sonst noch alles gebaut hat, dann sind die 4500 Hektar Land zwanzigmal soviel wert wie heute. Dann werden sie wieder verkauft. Und wie Sie wissen, ist unbesiedeltes Land hier teurer als bewohntes. Deshalb m\u00fcssen die Bauern \u2019raus.\u201c
Der Vikar hat sich in Feuer geredet. Er sieht aus wie ein verkleideter Gewerkschaftsf\u00fchrer. \u201eAber ich k\u00e4mpfe bis zum Tode gegen diese Ma\u00dfnahmen, die getarnter Massenmord sind. Ich habe die Bauern aufgefordert, in ihren H\u00fctten zu bleiben. Selbst wenn es Kampf geben sollte. Ein Hirte mu\u00df bei seiner Herde bleiben und sie gegen die W\u00f6lfe sch\u00fctzen.\u201c<\/p>

Am gleichen Abend sind wir in Recife im deutschen Konsulat zum Cocktail eingeladen.
Die Bundesregierung hat 200 Millionen Mark Entwicklungshilfe zur Verf\u00fcgung gestellt, die hier im Nordosten ausgegeben werden sollen. Der Beauftragte, der die Millionen in der Tasche hat, ist der Ehrengast des Festes. Im Gedr\u00e4nge sto\u00dfe ich auf den franz\u00f6sischen Wirtschaftsattach\u00e9 aus Rio de Janeiro, der auch 12 Millionen Dollar in der Tasche hat (48 Millionen Mark).
\u201eWof\u00fcr?\u201c, frage ich ihn.
\u201eEntwicklungshilfe, nat\u00fcrlich. Die Amerikaner dr\u00e4ngen uns, Geld in dieses Pulverfa\u00df des Nordostens zu stecken, bevor es in die Luft geht. N\u00e4chste Woche kommen sie selber hierher mit vielen Millionen Dollar. Dann ist der Laden komplett.\u201c
\u201eDas gro\u00dfe, B\u00fcndnis f\u00fcr den Fortschritt\u2018 ist in vollem Schwung?\u201c
\u201eGenau. Wie Sie wissen, geht es darum, Projekte zu finanzieren, die in k\u00fcrzester Zeit soziale Besserungen bringen. Wir stecken unsere 12 Millionen Dollar in eine synthetische Gummifabrik.\u201c
\u201eIn Cabo?\u201c
\u201eJa, in Cabo. \u2013 Was haben Sie? \u2013 Warum schauen Sie mich so komisch an?\u201c
Ich erz\u00e4hle ihm, was wir in Cabo erlebt haben.
Er ist bla\u00df geworden: \u201eDas kann nicht wahr sein …\u201c
\u201eIch habe es gesehen und mit allen Beteiligten gesprochen. Selbst mit dem Gutsverwalter, der den Befehl hat, die Bauern \u2019rauszuschmei\u00dfen. Ihre 12 Millionen erlauben ein paar Leuten, eine fantastische Spekulation zu machen. Dabei gehen nur 5000 Menschen drauf: Das soziale Problem ist gel\u00f6st. Es lebe das \u201aB\u00fcndnis f\u00fcr den Fortschritt\u2018. Ich begreife immer besser, was Juli\u00e3o meinte, als er vom Gesch\u00e4ft des Antikommunismus sprach.\u201c
\u201e\u00c7a ne se passera pas comme \u00e7a. O nein. Der Vertrag soll morgen unterschrieben werden. Denen werd\u2019 ich\u2019s zeigen. Ich unterschreibe nur, wenn kein Bauer mehr vertrieben wird.\u201c
Als ich mich verabschiede, ruft er mir noch nach: \u201eUnd organisieren Sie mir ein Treffen mit Juli\u00e3o …\u201c
Zwei Tage sp\u00e4ter besuchen wir wieder Padre Mello.
\u201eWir haben gesiegt\u201c, schreit er uns schon von weitem zu. \u201eHerr Vega ist pers\u00f6nlich hier gewesen. Ganz aufgeregt. Die Bauern d\u00fcrfen bleiben. \u2013 Ich verstehe gar nichts mehr. Was ist passiert?\u201c
\u201eLieber Padre, zw\u00f6lf Millionen Dollar sind ein st\u00e4rkeres Argument als f\u00fcnftausend Menschen \u2026\u201c<\/p>

Im n\u00e4chsten stern<\/em> : Wer leben will, muss spielen<\/strong><\/p>","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Stern, Heft 7,\u00a0 18. Februar 1962 [Anmerkung: Im Folgenden wird der Begriff Neger\/Negerin aus dem Originaltext beibehalten. Diese Bezeichnung war damals ohne Abwertung als Fremd- und Selbstzuschreibung gel\u00e4ufig.] Drei Milliarden Mark von den USA. Zweihundert Millionen von der Bundesrepublik. Hundert von Frankreich. Das ist Wirtschaftshilfe f\u00fcr Brasilien. Sie soll sozialen Wohlstand schaffen und das Land…<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":61704,"parent":54040,"menu_order":1,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":{"_seopress_robots_primary_cat":"","_seopress_titles_title":"","_seopress_titles_desc":"","_seopress_robots_index":"","footnotes":""},"categories":[592],"tags":[],"class_list":["post-54042","page","type-page","status-publish","has-post-thumbnail","hentry","category-brasilien","entry","has-media"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54042"}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/types\/page"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/users\/1"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=54042"}],"version-history":[{"count":5,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54042\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":64064,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54042\/revisions\/64064"}],"up":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54040"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media\/61704"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=54042"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=54042"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=54042"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}