{"id":54043,"date":"2017-03-11T14:08:55","date_gmt":"2017-03-11T13:08:55","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=54043"},"modified":"2021-07-29T16:42:34","modified_gmt":"2021-07-29T14:42:34","slug":"wer-leben-will-muss-spielen","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/brasilien\/wer-leben-will-muss-spielen\/","title":{"rendered":"Wer leben will, mu\u00df spielen"},"content":{"rendered":"

Stern, Heft 8,  25. Februar 1962<\/em><\/p>

[Anmerkung: Im Folgenden wird der Begriff Neger\/Negerin aus dem Originaltext beibehalten. Diese Bezeichnung war damals ohne Abwertung als Fremd- und Selbstzuschreibung gel\u00e4ufig.]
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Er st\u00fcrmt aufgeregt in mein Zimmer: \u201eKannst du Cha-Cha-Cha tanzen?\u201c will er wissen. Schon wieder Antonio. Seit einer Woche sehe ich ihn jeden Tag. Ein gro\u00dfartiger Kerl. Junger Journalist. Kennt Gott und die Welt. Aber diesmal st\u00f6rte er mich wirklich. Noch nie hat mir Fotografieren soviel Spa\u00df gemacht. Ich liege in der Badehose auf dem Balkon meines Hotelzimmers. Unter mir die Avenida Atlantica. Links der Zuckerhut von Rio. Von mir sechs Kilometer Strand. Darauf tausend M\u00e4dchen. Mit dem soliden Wolkenkratzer von Copacabana im R\u00fccken hole ich sie mir auf dem Balkon. Eine nach der andern. Schwarze, wei\u00dfe, braune. Mal scharf, mal unscharf. Je nach Laune und Figur. Ich habe mich oft gefragt, weshalb wir Spiegelreflexkameras und lange Teleobjektive mit uns herumschleppen. Heute wei\u00df ich, warum. Und jetzt \u2013 mitten in der Arbeit \u2013 will Antonio wissen, ob ich Cha-Cha-Cha tanze.
\u201eJa \u2013 warum?\u201c
\u201eDann werden wir die K\u00f6nige von Copacabana. Lies.\u201c
Er h\u00e4lt mir die Gesellschaftskolumne der gr\u00f6\u00dften brasilianischen Illustrierten hin.
Ich lese, da\u00df es einen neuen revolution\u00e4ren Tanz gibt: den Cha-Cha-Cha. Zun\u00e4chst nur unter Polizeiaufsicht in der Apachenatmosph\u00e4re des avantgardistischen \u201aBlack Horse\u2018 getanzt, wird er auch jetzt von der guten Gesellschaft auf Partys ge\u00fcbt. Die eleganten Damen suchen verzweifelt nach Meistern der neuen Kunst, um ihren G\u00e4sten die komplizierten Schritte beizubringen. \u201eDenen, die diesen Tanz zun\u00e4chst verurteilten,\u201c \u2013 schreibt der Autor \u2013 \u201emu\u00df Folgendes gesagt werden: Es gibt weniger Anbiederungsm\u00f6glichkeiten als beim ruhigen \u201aFox Blue\u2019 in, diesem Verf\u00fchrer zum Ohrgefl\u00fcster, zum sinnlichkeitsgeladenen ‚cheek-to-cheek‘. W\u00e4hrend des Cha-Cha-Cha gibt es weniger K\u00f6rperf\u00fchlung. \u2013 Was vor und nach dem Cha-Cha-Cha passiert, kann ebenso gut vor und nach dem Walzer passieren. Und es ist zu allen Zeiten passiert.\u201c
Antonio schaut mich erwartungsvoll an.
\u201eWieviel brauchst Du?\u201c frage ich voller Bewunderung, denn ich wei\u00df, da\u00df man hier nie jemand direkt anpumpt. \u00dcberhaupt wird in Brasilien fast alles in Geheimsprache ausgedr\u00fcckt und selten deutlich ja oder nein gesagt. Aber so kompliziert hat Antonio mir noch nie zu verstehen gegeben, da\u00df er eine neue Freundin ausf\u00fchren m\u00f6chte und kein Geld hat.
\u201eIch wei\u00df nicht, wovon Du redest\u201c, sagt er beleidigt.
\u201eDann erkl\u00e4re mir bitte, wie ich es deuten mu\u00df, wenn du dir die M\u00fche gibst, einen alten Zeitungsartikel \u00fcbers Tanzen vorzutragen.\u201c
Jetzt wird der b\u00f6se, was bei Brasilianern eigentlich nie vorkommt. \u201eSchau doch hin. Die Zeitung ist von heute.\u201c
Er hat recht. \u2013 Und f\u00fcr mich bricht die Legende von Rio de Janeiro endg\u00fcltig zusammen. Ich wei\u00df, da\u00df man nicht \u201edazugeh\u00f6rt \u201c, nicht \u201edabei gewesen ist\u201c nichts \u201ebegriffen hat\u201c, wenn man nicht nachplappert, was \u201edoch alle wissen\u201c: Rom ist die Hochburg des s\u00fc\u00dfen Lebens, Persien, das Land aus 1001 Nacht, Nehru ein verlogener Pazifist, de Gaulle der Retter Frankreichs, Castro ein blutr\u00fcnstiger Massenm\u00f6rder, und die Neger sind gl\u00fccklich, die Spanier feurig, die Deutschen treu, die Italiener faul und die Engl\u00e4nder langweilig. Das wei\u00df doch jeder. Man ist eben unterrichtet. \u2013 Es fragt sich nur, von wem.
So war ich unterrichtet worden, was sich in Rio und Copacabana zu finden hatte: die sch\u00f6nste Stadt der Welt, den elegantesten Strand, den gr\u00f6\u00dften Luxus, die sch\u00f6nsten Frauen, die gewagtesten Bauten, die erotischste Erotik, das Tollste vom Tollen.
Trotz aller M\u00fche fand ich wenig von alledem. Die Wolkenkratzer mit den hellen Fassaden sind pomp\u00f6se Mietskasernen, in denen sch\u00e4bige Wohnungen mit viel schlechtem Geschmack Europa imitieren. Wo ist das K\u00fchne, \u00dcberw\u00e4ltigende, Futuristische? Wenn es ganz toll ist, haben die Diener vergoldete Kn\u00f6pfe und der Hausherr einen geschmuggelten Cadillac. (Die Einfuhr von amerikanischen Wagen ist seit Jahren verboten.)
Der Strand ist wundervoll. Aber die meisten Frauen, die ich mir mit der Telelinse auf dem Balkon hole, sind nicht h\u00fcbscher als die Frauen in Europa. Auf der Stra\u00dfe ist man entt\u00e4uscht. Manchmal gibt es nat\u00fcrlich eine Farbmischung, die den Atem verschl\u00e4gt: gr\u00fcne Augen, dunkelbraune Haut, schwarze Haare und Blicke, in denen es alles gibt, selbst Handschellen und Beichtst\u00fchle. \u2013 Wer m\u00f6chte da nicht an alle Legenden glauben. Besonders an die \u201eerotischste Erotik\u201c.<\/p>

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Gr\u00fcne A<\/strong><\/em>ugen, <\/strong>braune Haut, schwarze Haare und Blicke, in denen es alles gibt, selbst Urwald trommeln, du und Gebetb\u00fccher, selbst Handschellen und Beichtst\u00fchle. Sie blitzen unerwartet auf: am Strand, auf der Stra\u00dfe, in den Armenvierteln, auf den Rennpl\u00e4tzen. Ein Tropfen Blut vom Amazonas, etwas Afrika, ein Schuss aus Portugal oder Italien. Christus und Ogun, der afrikanischen Gott des Feuers, Maria und Jemanja, die G\u00f6ttin des Wassers \u2013 alle Kr\u00e4fte, die Brasilien schufen, kristallisieren sich in die<\/em>sen Frauen. Nicht umsonst sind die Brasilianer stolz auf sie. Tausendmal stolzer als auf Brasilia, Rio de Janeiro, S\u0101o Paulo und sogar den Carneval. Sie sind das Wappen, der Talisman, das Inbild \u2013 die beherrschende Leidenschaft Brasiliens. Sie sind das gro\u00dfe Los im Spiel der M\u00e4nner, die hier um alle spielen, t\u00e4glich spielen und selbst ums Leben spielen<\/em><\/p>

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Aber die M\u00e4rchenfeen gehen um sieben nach Hause. Was dann noch in Copacabana \u00fcbrig bleibt, sind kleine Mulattinnen. Sie versperren den Weg, und man erkennt sie wieder, weil sie zum Mittagessen die Suppe servierten. Bei Freunden, nebenan.<\/p>

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Die Frau<\/strong> aus dem Volke kann zur Dame werden, wenn sie sch\u00f6ne Beine hat und lange Haare. Sie mu\u00df dann ganz besonders auf Stand und Ehre achten. Sie mu\u00df mehr Dame sein als eine Dame. Denn ihre Farbe zieht unwiderstehlich die Blicke der M\u00e4nner an. Nicht erniedrigend, nicht geringsch\u00e4tzig. Nein,. Der Blick gilt ihr, der Mulattin, der Frau mit der \u201erichtigen Farbe\u201c, denn in Brasilien ist die Farbe der Liebe braun<\/em><\/p>

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Die Dame in der Gesellschaft warten auf die gro\u00dfen Ereignisse der Saison, um ihre Toiletten aus Paris und Rom zu zeigen. Hier: das Pferderennen des Jahres, der Gro\u00dfe Preis von Brasilien. Jedes Alter, jede Klasse, jede Farbe haben ihre eigene Art nach Anerkennung zu betteln: die Backfische mit ihrem K\u00f6rper, die Negerinnen mit glatten Haaren, die gute Gesellschaft mit Kleidern und H\u00fcten \u2013 mit Geld <\/em><\/p>

\u201eBrasilianisch\u201c gelebt und geliebt wird nur in den Favelas, den aus Kisten, B\u00fcchsen, Wellblech und Draht gebastelten Armenvierteln. Sie besetzen alle die unz\u00e4hligen H\u00fcgel, die das Panorama von Rio bestimmen. Wie Schutthalden liegen sie hinter den Wolkenkratzern von Copacabana. Mehr als eine Million Menschen leben hier. Fast alle Neger. \u2013Und hier wird getanzt, gelacht, geliebt mit jenem Rhythmus, den man brasilianisch nennt. Eine Mischung von Urwald, mittelalterlichem Christentum und lyrischem Zirkus.
Wie k\u00f6nnte die Jungfr\u00e4ulichkeit hier ein Kapital sein? Man ist selten verheiratet. Man ist arm und trinkt deshalb gierig alle Freuden des Lebens, f\u00fcr die man kein Geld braucht. Die Zuschauer sind nicht \u2013 wie in Copacabana \u2013 amerikanische Touristen, die f\u00fcr Dollar Vergn\u00fcgen verlangen, sondern fettgefressene Ratten, verhungert Hunde und Kinder, deren V\u00e4ter keiner kennt.<\/p>

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Brasilianisch gelebt und geliebt wird nur in den Favelas, den Armenvierteln, die alle H\u00fcgel von Rio besetzen. Man ist arm und trinkt deshalb gierig alle Freuden des Lebens, f\u00fcr die man kein Geld braucht. Die Zuschauer sind nicht \u2013 wie unten im Copacabana \u2013 reiche amerikanische Touristen, die f\u00fcr Dollars Vergn\u00fcgen verlangen, sondern fettgefressen Ratten, verhungerte Hunde und heulende Kinder, deren V\u00e4ter keiner kennt <\/em><\/figcaption><\/figure><\/div>

Aus diesen Bretterst\u00e4llen kommen die Melodien, die wir in Europa lieben. Die gute Gesellschaft Brasiliens hingegen zieht es vor, ihre Rhythmen zu importieren. Wer Frank Sinatra und Edith Piaf nicht \u00fcber alles liebt, ist kein Mensch. Brasilianische Musik wird nur dann akzeptiert, wenn sie \u00fcber New York, Paris und Rom zur\u00fcckkommt: verjazzt, entseelt und ohne Warenmarke.
Die afro-brasilianische Musik ist ein zu direkter Appell an das Blut der Sklaven, das in allen Adern flie\u00dft. Schutz ist n\u00f6tig. Man will sich \u201everedeln\u201c, die Rasse reinigen, in allem, selbst in der Musik \u2013 und h\u00e4ngt deshalb am Kulturschnuller Europas wie fr\u00fcher an der Brust der schwarzen Amme.<\/p>

Aber einmal im Jahr brechen die Deiche. Die Favelas \u00fcberfluten Rio und rei\u00dfen alles in ihren Strudel. Die Samba, ein afrikanischer Totemtanz, lockt die versto\u00dfenen G\u00f6tter aus ihrem Versteck. Der Rausch mischt den \u201eitalienischen\u201c Grafen, den zerlumpten Schuhputzer, die blonde Frau des Industriemagnaten und die fetisch-beladene Negerin. Den indianischen Rock mit dem Kleid von Dior, Diamanten mit Amulett, Christus, Ogun und Karl Marx. nur einmal im Jhr lebt Rio ganz brasilianisch.<\/p>

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Aber einmal im Jahr \u00fcberfluten die Favelas Rio und rei\u00dfen alles in ihren Strudel. Die Samba weckt das Blut der Schwarzen, das in den meisten Adern flie\u00dft. Und der Rausch mischt den Bankier, den zerlumpten Schuhputzer, die blonde Frau des Industriemagnaten und die fetischbeladene Negerin. Nur einmal im Jahr lebt ganze Rio \u201ebrasilianisch\u201c <\/em><\/figcaption><\/figure>

Das Ergebnis: 69 Tote, 5517 Verletzte, 417 \u00dcberf\u00e4lle, 309 St\u00fcrze aus der Stra\u00dfenbahn, 7 Vergiftungen und 7 mehr oder weniger gelungene Selbstmorde, darunter ein kleines M\u00e4dchen, dessen Kleid nicht rechtzeitig fertig war.
Man kann verstehen, da\u00df die gute Gesellschaft das ganze Jahr \u00fcber auf der Hut ist, andererseits aber der Karneval von Rio den Ruf Brasiliens bestimmt, obwohl er nur einige Tage dauert.
Weniger verst\u00e4ndlich ist die t\u00f6dliche Langeweile der Nachtlokale. In Paris, Hamburg oder Rom w\u00e4ren sie schon lange pleite. \u2013 Aquarien in r\u00f6tliche Dunkelheit geh\u00fcllt. Einmal untergetaucht, erkennt man nichts mehr au\u00dfer der eigenen Hand. Die Ober kassieren mit Taschenlampen. 80 % von Rio leben ohne Wasser, aber Licht gibt es genug. Will man \u201eauf intim\u201c machen oder sich verstecken vor eifers\u00fcchtigen Ehefrauen und nachtwandelnden Gl\u00e4ubigern? Ich wei\u00df es nicht. Ich wei\u00df nur, da\u00df man sich nicht wundern darf, wenn die Begleiterin, mit der man herauskommt, nicht mehr die gleiche ist, mit der man untertauchte, oder anstelle des Freundes ein betrunkener Matrose steht.
Vom Tanzen gar nicht zu reden. Die hei\u00dfen Rhythmen, von denen wir tr\u00e4umen, wenn wir an Brasilien denken, geh\u00f6ren dem Volk. Man darf sich auf keinen Fall damit identifizieren und schiebt deshalb seine soziale W\u00fcrde im amerikanischen Slow \u00fcbers Parkett. \u2013 Und jetzt endlich soll auch der Cha-Cha-Cha salonf\u00e4hig werden, der \u2013 wohlverstanden \u2013 im Transit \u00fcber Italien kommen mu\u00df: drei Schritte vor, drei zur\u00fcck und ein Anschlag in der Mitte.
\u201eWenn man von euch doch nur das behaupten w\u00fcrde, was es wirklich gibt und euch abhebt von allen: die menschlichste Menschlichkeit.\u201c
\u201eIch wei\u00df nicht, was das mit Cha-Cha-Cha zu tun hat\u201c, sagt Antonio m\u00fcrrisch. \u201eKannst du ihn tanzen, oder kannst du es nicht?\u201c
\u201eIch hab das vor vielen Jahren mal in Beirut gelernt, Mittelmeerstil.\u201c
\u201eGro\u00dfartig\u201c, er springt an den Nachttisch, \u201eich mu\u00df sofort telefonieren.\u201c Und er preist seinen tanzenden Ausl\u00e4nder an, als sei ich ein Wundertrank, ohne den keine Party ein Erfolg sein kann. Als er endlich aufh\u00f6rt, sind wir f\u00fcr die n\u00e4chsten f\u00fcnf Tage ausverkauft.
Am sechsten Tag habe ich Muskelkater, drei Kilo abgenommen und so viel dazugelernt, da\u00df ich jede weitere Einladung ablehne. Ich glaubte, Antonio w\u00fcrde mir bittere Vorw\u00fcrfe machen. Aber nein. Als ich ihn im \u201eBistro\u201c treffe, strahlt er \u00fcbers ganze Gesicht.
\u201eViertausend Contos (50.000 Mark)\u201c, ruft er mir begeistert zu, \u201eich bin um vier Millionen Cruzeiros reicher geworden.\u201c
\u201eUnglaublich. So viel kann die Amerikanerin nicht geboten haben.\u201c
\u201eWelche?\u201c
\u201eDie alternde \u00d6lprinzessin auf der letzten Party.\u201c
\u201eDu spinnst. Ich habe ein fantastisches Gesch\u00e4ft gemacht. Eine Traumwohnung: zwei Empfangsr\u00e4ume, vier Zimmer, zwei B\u00e4der. Im achten Stock. Sicht aufs Meer. Morgen ist sie schon das Doppelte wert. Begreifst du: acht Millionen Cruzeiros. Bei dieser Inflation mu\u00df man sein Geld richtig anlegen.\u201c
Antonio bringt es fertig, mich jeden Tag zu \u00fcberraschen. Ich kenne ihn jetzt schon lange, wei\u00df, da\u00df er in seiner Zeitung zwanzig Contos (250 DM) verdient und als Buchhalter weitere 100 Mark einsteckt. Ich wei\u00df auch, da\u00df er zwei Anz\u00fcge hat, vier Hemden und nie die Freundin wechselt, ohne mich anzupumpen. Um l\u00e4cherliche Betr\u00e4ge. \u2013 Und jetzt entpuppt er sich pl\u00f6tzlich als ein reicher Mann.
\u201eGratuliere\u201c, sage ich, \u201eobwohl ich nicht begreife.\u201c
\u201eDas ist doch ganz einfach! Ich habe meine Wohnung in Copacabana in Zahlung gegeben und \u2026\u201c
\u201eStopp. Du wohnst in einem winzigen Zimmer in Leblon. Ich kenne es.\u201c
\u201eGenau \u2013 und war trotzdem Besitzer einer Wohnung in Copacabana, die ich vor einem Jahr gekauft habe. Damals gab ich mein Grundst\u00fcck in Caxias als Anzahlung, und \u2026\u201c
\u201eWieder Stop. Grundst\u00fccke besitzt du also auch?\u201c
Er schaut mich an, als h\u00e4tte ich ihn gebeten, mich von der Existenz seiner H\u00e4nde zu \u00fcberzeugen.
\u201eWas denkst du denn? Nat\u00fcrlich. Seinerzeit war das Grundst\u00fcck in Caxias achtzigtausend Cruzeiros wert. Ich hatte es erworben, indem ich mein Grundst\u00fcck im Norden von Nitetr\u00f3i als Anzahlung gab. Ein Zauberflecken, den ich f\u00fcr vierzigtausend gekauft hatte.\u201c
Er hielt inne und rechnet. Ich will ihm helfen: \u201eAchtzig weniger vierzig ist vierzig. Du bliebst also weitere vierzigtausend schuldig.\u201c
\u201eAber nein. Dir mu\u00df man auch alles erkl\u00e4ren. Ich blieb genau f\u00fcnfundsiebzigtausend schuldig.\u201c
\u201eZweimal zwei sind vier. \u2013 Einverstanden?\u201c
\u201eNat\u00fcrlich, aber das hier ist ein wenig komplizierter: Das Grundst\u00fcck in Niter\u00f3i hatte ich auf Raten gekauft. F\u00fcnfhundert monatlich. Zehn Raten waren bezahlt, als ich es f\u00fcr das Grundst\u00fcck in Caxias Anzahlung gab. Es blieb also noch f\u00fcnfunddrei\u00dfigtausend.\u201c
\u201eIm Grunde gabst du nur f\u00fcnftausend Cruzeiros als Anzahlung, denn mehr geh\u00f6rte dir ja nicht an dem Grundst\u00fcck in Niter\u00f3i.\u201c
\u201eNein. Der Besitzer von Caxias wollte auch zehntausend in bar. Ich verkaufte also ein kleines Grundst\u00fcck in Campo Grande, das zwanzigtausend wert war. Ich hatte es f\u00fcr zehntausend gekauft. Ein Spottpreis. Elf Raten zu je vierhundert waren bezahlt. Ich brauchte also nur f\u00fcnftausendsechshundert drauf zulegen. Diese beschaffte ich mir, indem ich meinen Anteil an Gummib\u00e4umen verkaufte, die ich im Mato Grosso erworben hatte. Ein tolles Gesch\u00e4ft. Du wei\u00dft, Gummi ist wieder im Kommen. Die B\u00e4ume hatte ich gekauft, indem ich mein Haus \u2026\u201c
\u201eStopp, Antonio, sonst bekomme ich auch noch Muskelkater im Gehirn. \u2013 ich wei\u00df jetzt, dass du ein reicher Mann ist.\u201c
\u201eDu \u00fcbertreibst\u201c, sagt er l\u00e4chelnd. \u201eIch bin ein zuk\u00fcnftiger Neureicher. \u2013 Siehst du, das ist der Unterschied zwischen Europa und Brasilien. Ihr seid zufrieden, wenn ihr morgen soviel verdient wie heute oder euch ein wenig verbessert und Sicherheit habt f\u00fcrs Alter. Wir hingegen sind \u00fcberzeugt, da\u00df wir morgen alle reich sein werden, und handeln dementsprechend. Das ist der brasilianische Optimismus, der dieses Land auf schwindelnde H\u00f6hen treiben wird.\u201c
\u201eDurch Spekulation?\u201c
\u201eDurch was denn sonst?\u201c
\u201eDurch Arbeit zum Beispiel.\u201c<\/p>

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S\u00e3o Paulo: Wolkenkratzer, k\u00fchne Formen<\/em>, fantastische Tr\u00e4ume. Hier ist mein \u00fcberzeugt, die gr\u00f6\u00dfte Stadt der neuen Welt zu bauen<\/em><\/strong><\/figcaption><\/figure><\/div>

\u201eDamit wird man doch nicht reich. Man rettet sich h\u00f6chstens vorm Verhungern. Schau mich doch an. Hast du mich jemals satt gesehen, au\u00dfer wenn du mich einl\u00e4dst?\u201c
Um ihn wieder heiter zustimmen, schlage ich vor, die neue Luxuswohnung zu besichtigen. Antonio sch\u00fcttelt den Kopf:
\u201eDie steht noch auf dem Papier. Ich habe sie vom vorhergehenden Besitzer gekauft, indem ich meine Wohnung in Copacabana \u2013 die auch noch nicht gebaut ist \u2013 als Teilanzahlung gab. Den Rest beschaffe ich mir, indem ich \u2026\u201c
Ich glaube, er h\u00e4tte den ganzen Tag reden k\u00f6nnen, um mich in die Geheimnisse eines Spiels einzuweihen, das den Gro\u00dfteil der Brasilianer t\u00e4glich mehr besch\u00e4ftigt als der Fu\u00dfball oder die Mulattin: morgen neureich zu sein, sei es durch Spekulation, Bluff, Betrug, Lotterie oder Bicho (eine verbotene Lotterie, die von dreiviertel aller Brasilianer leidenschaftlich gespielt wird).
\u201eDas Bicho ist unser gro\u00dfer Schandfleck. Der Beweis, da\u00df unsere Politiker weiterhin im Sumpf der Korruption waten. Betrug und Verbrechen regieren uns. Wir sind Marionetten in den H\u00e4nden von Dieben und Hehlern.\u201c –
Der Redner steht auf der Treppe des Schauspielhauses von Rio de Janeiro im Herzen der Stadt. Einige Hundert M\u00e4nner haben sich um ihn geschart. Eben noch, als er gegen den Imperalismus wetterte, haben sie st\u00fcrmisch Beifall geklatscht. Aber jetzt, mit dem Wort \u201aBicho\u2018, ist es still geworden. Alle H\u00e4nde sind in den Taschen verschwunden und suchen. Vielleicht nach dem Geld, das sie noch heute aufs Bicho setzen wollen, oder \u2013 um den b\u00f6sen Blick zu bannen. Denn es bringt kein Gl\u00fcck, schlecht vom Bicho zu reden. Man mu\u00df sich sch\u00fctzen, indem man dorthin fa\u00dft, wo man sich am st\u00e4rksten f\u00fchlt \u2013 einige drehen sich um und gehen.
Der Redner l\u00e4sst sich nicht beirren: \u201eWarum glaubt ihr funktioniert die Lotterie des \u201aBicho\u2018 trotz Verbotes ungest\u00f6rt? Weil unsere Politiker nur eine Heimat kennen: das Geld. Sie lassen sich ihre Wahlen, ihre Reisen, ihre Geliebten und Autos von den Herren des \u201aBicho\u2018 bezahlen und werden somit die Sklaven von Verbrechern. Wir sollten alle das \u201aBicho\u2018 boykottieren, denn es ruiniert Brasilien. Moralisch und materiell.\u201c
\u201eEin bi\u00dfchen Hoffnung sollte doch sein\u201c, ruft ein alter Mann, der keine Zukunft mehr hat, aber beide H\u00e4nde fest in den Taschen h\u00e4lt, denn er glaubt nur ans Gl\u00fcck.
\u201eSicher \u2013 aber nicht f\u00fcr wenige und vom Zufall abh\u00e4ngig; f\u00fcr alle, von allen gewollt. \u2013 Seit Jahrzehnten spielen wir alle \u201aBicho\u2018. Ein Viertel des gesamten Geldes, das im Umlauf ist, wird t\u00e4glich ins \u201aBicho\u2018 investiert und re-investiert. Es bleibt ihm also keine Chance, dem Ausbau unserer Produktionsmittel zu dienen, von denen letztlich euer aller Wohl abh\u00e4ngt. In einem Land von Spielern k\u00f6nnen nur Betr\u00fcger reich werden. Auf Kosten aller anderen. Nur weil die Europ\u00e4er Sparkassen haben, sind sie reich geworden. Ihr Geld arbeitet und schafft Reichtum, statt von einer Tasche in die andere zu rollen. Schaut doch unsere Scheine an. Es sind nur noch Lappen. Millionenfach abgegriffene zerfetzte Tr\u00e4ume.<\/p>

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Die Backfische<\/strong> lieben Copacabana,<\/strong> denn dort k\u00f6nnen sie sich frei zur Schau stellen und den Charme ihrer kleinen Person testen. Es gibt keinen Zwang, keine Vorschrift f\u00fcr die Kleidung. Nicht nur am Strand, in der ganzen Stadt l\u00e4uft man herum wie in Saint Tropez oder Kampen. Und je weniger man anhat, desto lauter schallen die Komplimente der M\u00e4nner \u00fcber die Stra\u00dfe \u2013 die man nat\u00fcrlich brav \u00fcberh\u00f6rt, aber umso fanatischer herausfordert, je j\u00fcnger man ist<\/em><\/p>

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Die M\u00e4dchen mit den krausen Haaren <\/strong>wollen wenigstens Locken haben, lange Haare an Stelle der kleinen Korkenzieher. Nur so wird man ihnen glauben, da\u00df sie einige Tropfen wei\u00dfes Blut in ihren Adern haben. Und darauf kommt es an. Es ist der Schl\u00fcssel zum Erfolg. Eine echte Negerin wird nie aus dieser Bretterbude herauskommen. Ihre Farbe verurteilt sie, arm zu bleiben. Aber die Mulattin hat alle Chancen: Die M\u00e4nner Brasiliens rei\u00dfen sich um die Frau mit der braunen Haut<\/em><\/p>

F\u00fcnf M\u00e4nner haben die Nase voll. Sie schlendern hin\u00fcber ins \u201eCinelandia\u201c, wo auf einem Hektar Pflaster das Vergn\u00fcgen und die Kinos von Rio liegen. Ich gehe hinter ihnen her. Eine Mulattin pudert sich vor dem Schaufenster eines Kaufhauses.
\u201eWenn man doch Geld h\u00e4tte\u201c, meint ein Dicker.
\u201eWieviel mag sie kosten?\u201c fragt ein Junger mit feinem Schnurrbart und drei vergoldeten Ringen.
\u201eMehr als du verdienst\u201c, sagt ein Dritter.
Die beiden anderen sagen gar nichts. Sie starren nur.
\u201eSollen wir sie verlosen?\u201c fragt der Dicke.
\u201eWie?\u201c
\u201eWer gewinnt, bekommt von jedem Verlierer den f\u00fcnften Teil des Preises. \u2013 Einverstanden? \u201c
Alle sind einverstanden. Der junge Mann mit dem Schnurrbart zieht ein Notizbuch aus der Tasche. Er zerrei\u00dft ein Blatt in f\u00fcnf gleiche Teile, auf die er die Namen seiner Freunde schreibt.
\u201eUnd nun?\u201c fragt er.
\u201eDie Kleine soll selbst Fortuna spielen\u201c, sagt der Dicke, \u201e gib mir die Lose. \u201eUnd er bringt sie zu der Mulattin. Nach kurzer Verhandlung ergreift sie ein Papier.
\u201eCarlindo\u201c, sagt sie l\u00e4chelnd, \u201e ein sch\u00f6ner Name.\u201c
Diese Szene h\u00e4tte sich genau so oder \u00e4hnlich in allen anderen St\u00e4dten Brasiliens abspielen k\u00f6nnen. Die Mentalit\u00e4t des Spielers ist eines der Hauptmerkmale des brasilianischen Charakters \u2013 und Lateinamerikas \u00fcberhaupt. Bluff, Spekulation, Betrug, Korruption sind nur Varianten der Spielleidenschaft. Man sagt Banko, obwohl man nicht zahlen kann. Mit etwas Gl\u00fcck mag es gut gehen.
Es f\u00e4ngt mit der Eroberung an. Die Spanier wollten Gold und t\u00f6teten alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Die Portugiesen suchten nach Edelsteinen und drangen bis in die Urw\u00e4lder vor. Selbst der heutige Auswanderer wagt den Sprung in die neue Welt nur deshalb, weil er glaubt, schneller und leichter reich zu werden als zu Hause.
Diese Mentalit\u00e4t bestimmt die brasilianische Geschichte mehr als die Christianisierung der Indianer, die Erringung der Unabh\u00e4ngigkeit oder die Befreiung der Sklaven. Sie hat die wirtschaftliche Struktur geschaffen, in der das Land heute erstickt. In Brasilien gab es immer einen \u201eGoldrausch\u201c. Man st\u00fcrzte sich blindlings auf jene Gebiete, die sofort gewaltige Gewinne versprachen. Zuerst war es der Zucker, dann der Tabak, der Kakao, die Baumwolle, das Gold, die Gummib\u00e4ume, der Kaffee \u2013 und heute ist es die Industrie. So wurde jedes Mal ein Wirtschaftszweig der unerbittliche Tyrann des Landes. Und wenn er zusammenbrach, lag ganz Brasilien am Boden.
Aber nicht nur das: Die Ausbeutung wurde so r\u00fccksichtslos betrieben, da\u00df der Boden ganzer Staaten buchst\u00e4blich verw\u00fcstet wurde und soziale Zust\u00e4nde geschaffen wurden, die heute zur Explosion dr\u00e4ngen.
Jedes Mal glaubte man die Zauberformel des Reichtums gefunden zu haben. So auch jetzt mit dem neuen Zyklus: der Industrialisierung, die mit dem unwahrscheinlichen Aufschwung S\u00e3o Paulos parallel l\u00e4uft. \u2013 Und wie immer gibt es eine Poesie des Erfolgstaumels \u2013 solange er anh\u00e4lt:
Im Lift, auf einer Party, zwischen T\u00fcr und Angel, wird jeder echte Paulista Sie am \u00c4rmel nehmen und Ihnen Geschichten erz\u00e4hlen, die wie Zukunftsromane klingen: \u201eS\u00e3o Paulo, mein lieber Herr, ist die Stadt des Jahrhunderts. 1920 gab es hier nur eine halbe Million Menschen \u2013 heute sind es fast vier Millionen. Kennen Sie eine andere Stadt der Welt, die im Jahr hundertf\u00fcnfzigtausend Menschen schluckt? Sehen Sie, das gibt es nur ein Mal. F\u00fcnfzig H\u00e4user werden hier t\u00e4glich aus dem Boden gestampft. Um euch nicht zu erschrecken, sagen wir nur: eins pro Stunde. Und bevor diese H\u00e4user fertig sind, haben sie schon zehnmal den Besitzer gewechselt.
Ja, mein Lieber, das ist S\u00e3o Paulo. Haben Sie die tausend Betonfinger gesehen, die gierig nach dem Himmel greifen, oder \u2013 wenn sie wollen \u2013 Gott entgegenst\u00fcrmen? Was ist New York und Chicago dagegen? Bauk\u00e4sten f\u00fcr unbegabte Kinder.
Vor den Yankees haben wir keine Angst. Dieses politische Gesellschaftsspiel \u00fcberlassen wir den Leuten in Rio, Recife, Bahia, unseren Tr\u00e4umern, die ihre Folklore mit etwas Ha\u00df f\u00e4rben m\u00fcssen, um ihr mehr Glanz zu geben. \u2013 Wir hatten auch nie Angst vor Europa. Im Gegenteil: Wir haben sie willkommen gehei\u00dfen, die Light and Power, die General Motors, Mercedes Benz, Firestone, Ford, Mannesmann, Krupp, Toyota, Willys, Unilever, Volkswagen und tausend andere Neosterne am imperialistischen Machthimmel. Denn sie wissen, wo Kapital Zinsen bringt. Und je mehr sich das rote Gewitter \u00fcber euch zusammenzieht, umso ausgiebiger sind die Dollarwolkenbr\u00fcche hier. Aus Yankeeh\u00e4nden go\u00df es weit \u00fcber eine Milliarde, aus Kanada 600 Millionen, aus der Bundesrepublik 320 Millionen, aus England 250 Millionen \u2013 und noch mal soviel aus allen anderen L\u00e4ndern. Dollar nat\u00fcrlich. Ja, soviel Geld hat eure Industriearistokratie in uns hinein gesteckt. Aber wir haben keine Angst vor diesem alten Adel, der sich bei uns verj\u00fcngen will. Heute sind wir noch Partner, aber morgen diktieren wir die Bedingungen, denn wir sind die Besseren und werden deshalb die M\u00e4chtigsten sein.
Sechzig Prozent aller brasilianischen Industrien sind jetzt schon in unserer Hand \u2013 und damit das Schicksal der Nation. Schauen Sie sich unsere Fabriken doch an: Mehr als 50.000 W\u00fcrfel, die wir mit einem Schmi\u00df um unsere Stadt geworfen haben. Immer die Sechs nach oben. \u2013 Nein, nein, die W\u00fcrfel sind nicht pr\u00e4pariert. Es ist Gl\u00fcck, es ist unser Genie, mit dem wir, G\u00f6ttern gleich, das Unm\u00f6gliche schaffen. Das Modernste. Wir haben vierhundert Banken, \u00fcber eine Million Arbeiter, f\u00fcnfhundert Milliard\u00e4re und mindestens ebenso viele, die vorgegeben, es zu sein.
Ja, mein junger Freund, wir sind die Zukunft der Welt. Warum, wollen Sie wissen? Einfach: Wir haben das beste Blut aus Europa herausgepumpt. \u2013 Kommen Sie! Courage! Seien Sie nicht traurig, wenn Ihnen ihre gro\u00dfen St\u00e4dte jetzt wie Altersheime vorkommen, in denen zahnlose Gro\u00dfm\u00e4uler die Grabreden ihrer Tr\u00e4ume halten. Ihr habt sie eben nicht ausgenutzt, die Matarazzo, Pignatari, Chateaubriand, die Le Corbusier, Gropius und wie sie alle hei\u00dfen. Ihr habt in Tradition gemacht und Andenken vergoldet: Eiffelt\u00fcrme, gallische H\u00e4hne, britische L\u00f6wen und Brandenburger Tore. S\u00e3o Paulo hat keine Geschichte, keine Andenken, keine Falten des Alters. Wir sind der ungebundene Impuls, der Funke, die Kraft, die Zeugung, das K\u00f6nnen, die reine Sch\u00f6pfung. \u2013 Amen.“<\/p>

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Brasilien denkt futuristisch. Aber es ist nicht alles modern.<\/strong><\/em><\/p>

Genauso poetisch wurde einst der Zuckerrausch besungen: die s\u00fc\u00dfe, faule, sinnliche Zivilisation des Zuckers, mit ihren Sklaven, den h\u00fcbschen Negerinnen, den gro\u00dfen Landh\u00e4usern und der Liebessiesta unter Palmen. Die Herren lie\u00dfen sich in H\u00e4ngematten tragen und setzten Europa mit ihrem Luxus in Erstaunen.
Heute fahren sie amerikanische Wagen. Den Zucker gibt es immer noch. Aber der Lobgesang ist zum Klagelied geworden. Die Bundesstaaten des Nordostens, weil das s\u00fc\u00dfe Unkraut ihr bestes Land gefressen hat. Sie ersticken, weil die Zuckerbarone ihre Rohre nicht zur\u00fcckstecken wollen, obwohl die ganze Industrie unrentabel geworden ist und diese Herren nur noch durch Staatszusch\u00fcsse reich bleiben. Der Nordosten explodiert, weil wenig andere Arbeit da ist und Millionen besch\u00e4ftigungslose F\u00e4uste sich zum Kampf ballen.
Und ebenso poetisch begannen die Sagas vom Tabak, vom Kaffee, vom Gummi \u2013 um nicht weniger tragisch zu enden. W\u00e4hrend des Gummirausches verwandelte sich das Wasser des Amazonas in Gold. Mitten in den Urwald baute man eine Kopie der Pariser Oper. Die damaligen Diors, Faths, Cartiers, und Chanels verkauften ihre teuersten Modelle an der M\u00fcndung des gr\u00f6\u00dften Flusses der Welt. T\u00e4nzerinnen, S\u00e4ngerinnen, Schauspieler wurden aus Paris her\u00fcbergeholt. Man wollte allen zeigen, da\u00df Geld Kultur schaffen kann. Die Honorare: ihr Gewicht in Gold. Ja, das waren Zeiten. Man\u00e1us war \u00fcberzeugt, die Hauptstadt Brasiliens zu werden, die Stadt des Jahrhunderts. \u2013 Heute ist sie ein kleiner Handelsplatz am oberen Amazonas.
S\u00e3o Paulo wird es sicher nie so ergehen. Doch hei\u00dft es skeptisch bleiben in diesem Land, wenn ein Rausch die Menschen verzaubert und die Beteiligten lyrisch werden.
S\u00e3o Paulo wird immer wieder mit einer Lokomotive verglichen, die fauchend und stampfend ganz Brasilien vorw\u00e4rts zieht. Es sieht jedoch so aus, da\u00df die Stadt nur deshalb so schnell nach vorne rast, weil sie keine Waggons mitschleppt und sich sogar zum Teil aus diesen abgeh\u00e4ngten Abteilen speist. Nicht nur mit den Devisen, die andere Bundesstaaten ins Land bringen und mit denen S\u00e3o Paulo seine modernen Maschinen gekauft. Nein. S\u00e3o Paulo zieht das beste Kapital aus dem Land, f\u00fcttert sich mit Menschen, die in den \u00e4rmeren Gebieten bitter fehlen. Vom Rausch angezogen, verhungert, kommen sie zu Tausenden aus dem Innern. Die meisten finden Besch\u00e4ftigung.<\/p>

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Rotes Lic<\/em>ht braucht der Wagen nicht, um zu halten. Er h\u00e4lt und f\u00e4hrt nach geheimnisvollen Regeln, die wir nie entdecken konnten. Alles ist mysteri\u00f6s an diesen K\u00e4sten, die man seit 30 Jahren Stra\u00dfenbahnen nennt und die zum Stadtbild von Rio geh\u00f6ren wie der Nebel zu London: ihre B\u00e4nke, Achsen und D\u00e4cher, die seit Jahren \u00fcberlastet durch die Stadt schaukeln. Das gr\u00f6\u00dfte Wunder ist jedoch der Schaffner. Mit einer Hand h\u00e4lt er sich fest, mit einer anderen kassiert er, mit noch einer gibt der Kleingeld heraus, die n\u00e4chste ordnet die Scheine, die sorgf\u00e4ltig zwischen den f\u00fcnf Fingern gefaltet liegen. Eine weitere Hand zieht die Klingelschnur \u2013 und die letzte endlich h\u00e4lt diejenigen fest, die sich vorm Bezahlen dr\u00fccken wollen<\/em><\/p>

Das klingt gut. Aber es ist fatal, besonders f\u00fcr den Nordosten, aus denen j\u00e4hrlich 15 Prozent abwandern. Es sind junge Leute zwischen 18 und 30, die einzigen, die noch die Kraft haben, ihre Heimat zu verlassen. So vergreisen gerade jene Gebiete, die gesunde Kr\u00e4fte heute am meisten brauchen.
Ohne diesen st\u00e4ndigen Zuflu\u00df verhungerter Zuwanderer aus dem Innern w\u00e4re es kaum zu erkl\u00e4ren, da\u00df S\u00e3o Paulo die einzige Industriestadt der Welt ist, die eine solche Entwicklung durchmacht, ohne da\u00df das Einkommen betr\u00e4chtlich steigt.
Und auch das ist fatal. Denn wer soll sie kaufen, die Autos, die N\u00e4hmaschinen, K\u00fchlschr\u00e4nke, Fernsehger\u00e4te, die S\u00e3o Paulo am Flie\u00dfband verlassen, in einem Land, wo das j\u00e4hrliche Durchschnittseinkommen 500 Mark betr\u00e4gt? \u2013 Ein Volkswagen brasilianischer Fabrikation kostet rund 10.000 Mark. Es ist leicht, sich auszurechnen, wann der Markt ges\u00e4ttigt sein wird. Von Ausfuhr kann bei diesen Preisen keine Rede sein. Und so ist es mit den meisten Erzeugnissen der paulistischen Industrie.
Solange der Markt nicht ges\u00e4ttigt ist und die Inflation das Geld zur Flucht in die G\u00fcter treibt, wird der Rausch anhalten und noch ein paar Milliard\u00e4re fabrizieren. Aber dann? \u2013 Nat\u00fcrlich wird das investierte Kapital schon vielfach amortisiert sein. Bei hohen Preisen und niedrigen L\u00f6hnen dauert das nicht lange. Aber das, was geschehen wird, wenn in Brasilien die sozialen Strukturen nicht so ge\u00e4ndert werden, da\u00df viele neue K\u00e4ufer den Markt beleben k\u00f6nnen, bringt selbst heute schon in alle Poesie einen Ton des Grauens.<\/p>","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Stern, Heft 8,  25. Februar 1962 [Anmerkung: Im Folgenden wird der Begriff Neger\/Negerin aus dem Originaltext beibehalten. Diese Bezeichnung war damals ohne Abwertung als Fremd- und Selbstzuschreibung gel\u00e4ufig.] Er st\u00fcrmt aufgeregt in mein Zimmer: \u201eKannst du Cha-Cha-Cha tanzen?\u201c will er wissen. Schon wieder Antonio. Seit einer Woche sehe ich ihn jeden Tag. Ein gro\u00dfartiger Kerl.…<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":55495,"parent":54040,"menu_order":2,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":{"_seopress_robots_primary_cat":"","_seopress_titles_title":"","_seopress_titles_desc":"","_seopress_robots_index":"","footnotes":""},"categories":[592],"tags":[],"class_list":["post-54043","page","type-page","status-publish","has-post-thumbnail","hentry","category-brasilien","entry","has-media"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54043"}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/types\/page"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/users\/1"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=54043"}],"version-history":[{"count":5,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54043\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":64063,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54043\/revisions\/64063"}],"up":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54040"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media\/55495"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=54043"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=54043"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=54043"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}