{"id":54043,"date":"2017-03-11T14:08:55","date_gmt":"2017-03-11T13:08:55","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=54043"},"modified":"2021-07-29T16:42:34","modified_gmt":"2021-07-29T14:42:34","slug":"wer-leben-will-muss-spielen","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/brasilien\/wer-leben-will-muss-spielen\/","title":{"rendered":"Wer leben will, mu\u00df spielen"},"content":{"rendered":"
Stern, Heft 8, 25. Februar 1962<\/em><\/p>
[Anmerkung: Im Folgenden wird der Begriff Neger\/Negerin aus dem Originaltext beibehalten. Diese Bezeichnung war damals ohne Abwertung als Fremd- und Selbstzuschreibung gel\u00e4ufig.] <\/em><\/p>
Er st\u00fcrmt aufgeregt in mein Zimmer: \u201eKannst du Cha-Cha-Cha tanzen?\u201c will er wissen. Schon wieder Antonio. Seit einer Woche sehe ich ihn jeden Tag. Ein gro\u00dfartiger Kerl. Junger Journalist. Kennt Gott und die Welt. Aber diesmal st\u00f6rte er mich wirklich. Noch nie hat mir Fotografieren soviel Spa\u00df gemacht. Ich liege in der Badehose auf dem Balkon meines Hotelzimmers. Unter mir die Avenida Atlantica. Links der Zuckerhut von Rio. Von mir sechs Kilometer Strand. Darauf tausend M\u00e4dchen. Mit dem soliden Wolkenkratzer von Copacabana im R\u00fccken hole ich sie mir auf dem Balkon. Eine nach der andern. Schwarze, wei\u00dfe, braune. Mal scharf, mal unscharf. Je nach Laune und Figur. Ich habe mich oft gefragt, weshalb wir Spiegelreflexkameras und lange Teleobjektive mit uns herumschleppen. Heute wei\u00df ich, warum. Und jetzt \u2013 mitten in der Arbeit \u2013 will Antonio wissen, ob ich Cha-Cha-Cha tanze. \u201eJa \u2013 warum?\u201c \u201eDann werden wir die K\u00f6nige von Copacabana. Lies.\u201c Er h\u00e4lt mir die Gesellschaftskolumne der gr\u00f6\u00dften brasilianischen Illustrierten hin. Ich lese, da\u00df es einen neuen revolution\u00e4ren Tanz gibt: den Cha-Cha-Cha. Zun\u00e4chst nur unter Polizeiaufsicht in der Apachenatmosph\u00e4re des avantgardistischen \u201aBlack Horse\u2018 getanzt, wird er auch jetzt von der guten Gesellschaft auf Partys ge\u00fcbt. Die eleganten Damen suchen verzweifelt nach Meistern der neuen Kunst, um ihren G\u00e4sten die komplizierten Schritte beizubringen. \u201eDenen, die diesen Tanz zun\u00e4chst verurteilten,\u201c \u2013 schreibt der Autor \u2013 \u201emu\u00df Folgendes gesagt werden: Es gibt weniger Anbiederungsm\u00f6glichkeiten als beim ruhigen \u201aFox Blue\u2019 in, diesem Verf\u00fchrer zum Ohrgefl\u00fcster, zum sinnlichkeitsgeladenen ‚cheek-to-cheek‘. W\u00e4hrend des Cha-Cha-Cha gibt es weniger K\u00f6rperf\u00fchlung. \u2013 Was vor und nach dem Cha-Cha-Cha passiert, kann ebenso gut vor und nach dem Walzer passieren. Und es ist zu allen Zeiten passiert.\u201c Antonio schaut mich erwartungsvoll an. \u201eWieviel brauchst Du?\u201c frage ich voller Bewunderung, denn ich wei\u00df, da\u00df man hier nie jemand direkt anpumpt. \u00dcberhaupt wird in Brasilien fast alles in Geheimsprache ausgedr\u00fcckt und selten deutlich ja oder nein gesagt. Aber so kompliziert hat Antonio mir noch nie zu verstehen gegeben, da\u00df er eine neue Freundin ausf\u00fchren m\u00f6chte und kein Geld hat. \u201eIch wei\u00df nicht, wovon Du redest\u201c, sagt er beleidigt. \u201eDann erkl\u00e4re mir bitte, wie ich es deuten mu\u00df, wenn du dir die M\u00fche gibst, einen alten Zeitungsartikel \u00fcbers Tanzen vorzutragen.\u201c Jetzt wird der b\u00f6se, was bei Brasilianern eigentlich nie vorkommt. \u201eSchau doch hin. Die Zeitung ist von heute.\u201c Er hat recht. \u2013 Und f\u00fcr mich bricht die Legende von Rio de Janeiro endg\u00fcltig zusammen. Ich wei\u00df, da\u00df man nicht \u201edazugeh\u00f6rt \u201c, nicht \u201edabei gewesen ist\u201c nichts \u201ebegriffen hat\u201c, wenn man nicht nachplappert, was \u201edoch alle wissen\u201c: Rom ist die Hochburg des s\u00fc\u00dfen Lebens, Persien, das Land aus 1001 Nacht, Nehru ein verlogener Pazifist, de Gaulle der Retter Frankreichs, Castro ein blutr\u00fcnstiger Massenm\u00f6rder, und die Neger sind gl\u00fccklich, die Spanier feurig, die Deutschen treu, die Italiener faul und die Engl\u00e4nder langweilig. Das wei\u00df doch jeder. Man ist eben unterrichtet. \u2013 Es fragt sich nur, von wem. So war ich unterrichtet worden, was sich in Rio und Copacabana zu finden hatte: die sch\u00f6nste Stadt der Welt, den elegantesten Strand, den gr\u00f6\u00dften Luxus, die sch\u00f6nsten Frauen, die gewagtesten Bauten, die erotischste Erotik, das Tollste vom Tollen. Trotz aller M\u00fche fand ich wenig von alledem. Die Wolkenkratzer mit den hellen Fassaden sind pomp\u00f6se Mietskasernen, in denen sch\u00e4bige Wohnungen mit viel schlechtem Geschmack Europa imitieren. Wo ist das K\u00fchne, \u00dcberw\u00e4ltigende, Futuristische? Wenn es ganz toll ist, haben die Diener vergoldete Kn\u00f6pfe und der Hausherr einen geschmuggelten Cadillac. (Die Einfuhr von amerikanischen Wagen ist seit Jahren verboten.) Der Strand ist wundervoll. Aber die meisten Frauen, die ich mir mit der Telelinse auf dem Balkon hole, sind nicht h\u00fcbscher als die Frauen in Europa. Auf der Stra\u00dfe ist man entt\u00e4uscht. Manchmal gibt es nat\u00fcrlich eine Farbmischung, die den Atem verschl\u00e4gt: gr\u00fcne Augen, dunkelbraune Haut, schwarze Haare und Blicke, in denen es alles gibt, selbst Handschellen und Beichtst\u00fchle. \u2013 Wer m\u00f6chte da nicht an alle Legenden glauben. Besonders an die \u201eerotischste Erotik\u201c.<\/p>