{"id":54044,"date":"2017-03-11T14:08:55","date_gmt":"2017-03-11T13:08:55","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=54044"},"modified":"2021-07-29T16:49:17","modified_gmt":"2021-07-29T14:49:17","slug":"geld-macht-weiss","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/brasilien\/geld-macht-weiss\/","title":{"rendered":"Geld macht wei\u00df"},"content":{"rendered":"

Stern, Heft 9, 04. M\u00e4rz 1962<\/p>

[Anmerkung: Im Folgenden wird der Begriff Neger\/Negerin aus dem Originaltext beibehalten. Diese Bezeichnung war damals ohne Abwertung als Fremd- und Selbstzuschreibung gel\u00e4ufig.]<\/em><\/p>

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Sie hei\u00dfen Wolfgang, Hans, Sepp, Karl und Franz. Ihre wuchtigen Nacken haben sich vorsichtig in den Raum geschoben. Die gebrechlichen B\u00e4nke haben unter ihrem Gewicht ge\u00e4chzt. Die Trommeln haben zwei Takte ausgelassen. Die Engel sind etwas erschrocken.
Aber jetzt ist alles wieder wie vorher. Der Gottesdienst geht weiter. Die Gl\u00e4ubigen tanzen zum Rhythmus der drei Trommeln, die sich rufen, sich antworten und mit den G\u00f6ttern sprechen. Neger, Mulatten, Wei\u00dfe werden hier zu Engeln und G\u00f6ttern. So will es die Religion. Sie fallen in Trance und werden von dem Gott besessen, dem sie geweiht sind und dessen Leben im Himmel sie hier und jetzt auf der Erde tanzen. Mit nackten F\u00fc\u00dfen, denn ein Gott muss den Boden f\u00fchlen, auf dem er Fleisch und Blut wird.<\/p>

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Die G\u00f6tter tanzen zum Rhythmus der Trommeln, die sich rufen, sich antworten und mit den G\u00f6ttern sprechen<\/em><\/figcaption><\/figure><\/div>

Oshala, der Gott aller G\u00f6tter, f\u00e4hrt in einen jungen Mulatten, der ein wei\u00dfes Gewand tr\u00e4gt. Wei\u00df ist die Farbe des Herrschers im Himmel. Der Mann f\u00e4llt in Trance – der Gott tanzt.
Alle G\u00f6tter und G\u00f6ttinnen sind jetzt erschienen. Solange die Trommeln schlagen, werden sie diese T\u00e4nzer besitzen. Sie lieben diese Musik, dieses rhythmische Gebet, weil es ihnen Leib und Seele der Gl\u00e4ubigen \u00f6ffnet. Wie alle G\u00f6tter m\u00fcssen sie Gestalt annehmen. Denn ein Gott, der keinen Gl\u00e4ubigen mehr hat, in dem er Blut und Fleisch werden kann, ist kein Gott mehr. Er ist tot. – Hier leben sie in ihren S\u00f6hnen und T\u00f6chtern, die jetzt keine M\u00e4nner und Frauen mehr sind – die G\u00f6tter tanzen selbst.
\u201eScheen is se nich“, sagt Wolfgang.
\u201eWelche?\u201c
\u201eKeene.\u201c
\u201eWas machen wir blo\u00df hier?\u201c, fl\u00fcstert Karl. \u201eIch hab‘ geh\u00f6rt, so ein Candomble w\u00e4re etwas Erotisches.“
\u201eHier stinkt\u2018s, das ist alles \u201c, sagt Hans.
Jemanja tanzt vor\u00fcber, die G\u00f6ttin des Wassers. Sie kommt auf mich zu. Ich stehe auf, und sie ber\u00fchrt mein Gesicht mit ihren Lippen. Claude steht auf und wird von der G\u00f6ttin gek\u00fcsst. Alle Zuschauer werden umarmt. Wolfgang, Hans, Sepp, Heinrich und Karl bleiben sitzen und wenden sich ab. Nur Franz steht auf und l\u00e4sst sich umarmen.
\u201eWas f\u00e4llt dem verschwitzten Weib blo\u00df ein?“, ruft Heinrich.
\u201eMit einem sch\u00f6neren Mund w\u00fcsste ich schon was anzufangen. Haha.\u201c Das war Sepp, wenn ich nicht irre.
Jemanja z\u00f6gert eine Sekunde vor der blonden Gruppe. Ihre Lider sind geschlossen, aber sie sieht, wie alle G\u00f6tter, ohne Augen. Sie dreht sich langsam um und l\u00e4sst sich wieder von den Trommeln f\u00fchren. Ihre Bewegungen werden wilder, ihr K\u00f6rper zittert, schluchzt, schreit, b\u00e4umt sich auf. Alle Glieder der G\u00f6ttin besingen Herrlichkeit und Tiefe des Wassers. Leib des Lebens.<\/p>

\u201eDa kann dir alle Lust vergehen\u201c, seufzt Hans.
\u201eAlles Schwindel\u201c, meint Wolfgang. \u201eWo sind die tollen Weiber? Ich sehe nur dicke Negerinnen. Der Professor soll mal herkommen.\u201c
Der Professor kommt. Wir kennen ihn gut. Er ist Mulatte, Ethnologe an der Universit\u00e4t von Bahia.
\u201eWo sind wir hier?\u201c, will Wolfgang wissen.
\u201eIm Tempel eines Cadomble.\u201c
\u201eWarum?\u201c
\u201eSie wollten etwas Echtes sehen, erinnern Sie sich. Das hier ist echt. Touristen k\u00f6nnen sonst hier nicht rein. Nur weil ich diese Religion in diesem Tempel studiere, habe ich Sie mitbringen d\u00fcrfen.\u201c
\u201ePst\u201c, macht Franz, \u201eich finde das fantastisch.\u201c
\u201eSagen Sie, Professor, kennen Sie keine bessere Adresse?“
\u201eDas hier ist die Beste.“
\u201eStellen Sie sich doch nicht so dumm \u2026\u201c
Der Professor wendet sich ab. Er kommt zu uns, au\u00dfer sich, und fl\u00fcstert auf Portugiesisch: \u201e Ich koche, Troeller, ich m\u00f6chte weinen. Ich habe immer geglaubt, die Deutschen liebten Kultur und Wissen. Deshalb studiere ich Deutsch. Was w\u00fcrde man in Deutschland sagen, wenn ich mich in einer Kirche benehmen w\u00fcrde wie im Bordell? Wenn ich nur gekommen w\u00e4re, um unter den Betenden etwas \u201aAbendf\u00fcllendes\u2018 auszusuchen. Ja, was w\u00fcrde man sagen, wenn ich den Gottesdienst unterbrechen w\u00fcrde, um zu erkl\u00e4ren, dass Christus schwitzt und stinkt und jede Nonne eine alte Hure ist. Bitte, Troeller, was w\u00fcrden alle sagen? – Neger, w\u00fcrden sie sagen, dreckiger, ungebildete, obsz\u00f6ner Neger – und sie w\u00fcrden mich davonjagen wie einen Irren.\u201c
\u201eDa ich Deutsch spreche, haben die Beh\u00f6rden mich gebeten, ihr F\u00fchrer zu sein. Sie bauen irgendwie einen Staudamm oder so was \u00c4hnliches. Sehen wir uns morgen?\u201c
\u201eJa, Sie m\u00fcssen uns viel \u00fcber den Gott Oshala erz\u00e4hlen. Wer ist er?\u201c
\u201eChristus – auf seine Weise.\u201c
\u201eUnd Jemanja, die G\u00f6ttin des Wassers?\u201c
\u201eDie Jungfrau Maria. Hier in Brasilien haben die afrikanischen G\u00f6tter ein christliches Gewand angelegt, um salonf\u00e4hig zu werden. Im Himmel gibt es die gleichen Klassenunterschiede wie auf Erden. L\u00e4cheln Sie nicht. Sie wissen ganz genau: Wenn man schwarz ist, steht man unten, ganz gleich, ob Gott oder Mensch, ob im Himmel oder auf Erden.
Der wei\u00dfe Mann hat die Welt erobert. Seither bestimmt seine Weltanschauung den Wert aller Dinge. Wer nicht \u201awei\u00df\u2019 denkt, ist minderwertig – sozial und menschlich. Ein Neger, der angesehen sein will, muss den Lebensstil der Wei\u00dfen nachahmen: Einehe, Zweireiher, Dreieinigkeit, vier Jahreszeiten, Goldz\u00e4hne, Messer und Gabel, Sp\u00fclklosett und Geburtenkontrolle. Nur so steigt man die soziale Leiter hinauf.
Es gen\u00fcgt auch nicht, gl\u00e4ubig zu sein. Man muss auch \u201arichtig\u2018 glauben und es zeigen nach dem Himmelfahrtsknigge der Wei\u00dfen. Deshalb werden diese T\u00e4nze morgen fr\u00fch zur Messe gehen.
Nicht anders ist es mit den G\u00f6ttern. Sie tragen die Namen katholischer Heiliger. Aber es ist nur eine wei\u00dfe Maske auf einem schwarzen Gesicht. Eine soziale Maske. Eine Farbretusche im Himmel. Die Mythen und Rhythmen sind die gleichen geblieben wie in Afrika.\u201c<\/p>

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Wenn sie die ganze Nacht als afrikanische G\u00f6tter getanzt haben, gehen sie am n\u00e4chsten Morgen zur Messe. Sie glauben an Afrika und an Christus<\/em><\/strong><\/figcaption><\/figure><\/div>

Wolfgang, Hans, Sepp, Heinrich und Karl winken ungeduldig.
\u201eIch darf nicht unh\u00f6flich sein\u201c, sagt der Professor. \u201eIch bin noch schon lange ein Wei\u00dfer. – Bis morgen.\u201c
Er wollte einen Scherz machen, aber er hat recht. Hier, in Brasilien, ist er ein Wei\u00dfer, denn er ist Professor, hat etwas Geld, ist christlich verheiratet und benimmt sich tadellos. Er ist gesellschaftsf\u00e4hig – mithin wei\u00df.
Es geh\u00f6rt zu den vielen Wundern Brasiliens, dass es kein Rassenproblem im herk\u00f6mmlichen Sinn gibt. Es gibt nur ein Problem der Farbe, deren Schattierungen nicht vom Mischungsgrad zwischen Kaffee und Milch abh\u00e4ngen, sondern vom Geldbeutel.
\u201eGeld macht wei\u00df \u201c, sagt man hier.
Und es stimmt, dass ein reicher Schwarzer nicht mehr als Neger angesehen wird, w\u00e4hrend ein miserabler Wei\u00dfer leicht zum \u201eNeger\u201c werden kann. Aber ein anderes Sprichwort f\u00fcgt hinzu: \u201eEine wei\u00dfe Haut ist Gold wert.\u201c Auch das stimmt. Beim Klimmzug an den Sprossen der sozialen Leiter erwischen wei\u00dfe H\u00e4nde weit weniger Splitter als schwarze Finger.<\/p>

In Brasilien haben die Engel alle Farben. Die schwarzen Engel bitte mit besonderer Inbrunst<\/em><\/strong><\/p>

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\u201eMensch, m\u00f6chte ich Ihre Haare haben.\u201c Der Friseur liegt die Schere auf den Rand des Waschbeckens und wischt sich den Schwei\u00df aus dem braunen Gesicht. \u201eMit solchen Haaren k\u00f6nnen Sie alle Negerinnen und Mulattinnen erobern. Das sind ein paar Millionen. Knapp gerechnet.\u201c
Ich habe Haare zwischen den Lippen und will sie erst mal weggeblasen, bevor ich antworte. Er fischt ein paar heraus und h\u00e4lt sie gegen das Licht: \u201eGold\u201c, meinte er neidisch, \u201edavon ist jedes einzelne zehn Weiber wert. Knapp gerechnet, nat\u00fcrlich.\u201c
Er scheint meine Gedanken zu erraten, denn er f\u00e4hrt fort:
\u201eKeine Angst, mein Herr, es bleiben noch genug, um bis ans Lebensende gl\u00fccklich zu sein. – Kommen Sie, wir m\u00fcssen ein Bier trinken. Sie zahlen dann
beides zusammen.\u201c
Ich kratze mir die Haare aus den Ohren und folge ihm in die n\u00e4chste Kneipe.
Die kleine Mulattin, die uns bedient, scheint die Theorie meines Friseurs nicht zu kennen. Sie l\u00e4chelt mir nicht einmal zu.
\u201eMaria\u201c, sagte er, \u201ehol dir auch ein Bier und setzt sich zu uns. – Sie hat zwei Kinder von mir\u201c, f\u00fcgt er leise hinzu, w\u00e4hrend die junge Frau eine neue Flasche Bier bringt. \u201eKnapp gerechnet, denn sie hat vier oder f\u00fcnf.\u201c
Maria ist sehr h\u00fcbsch. Ihre vorstehenden Backenknochen lassen erkennen, dass hier auch ein wenig Indianerblut mitgemischt hat.
Der Friseur zupft sich ein paar meiner Haare von \u00c4rmeln und legt sie auf den Tisch. \u201eMit solchen Haaren w\u00e4re ich auch der Vater deines dritten Kindes, was? Hast du die Haut gesehen, die dazugeh\u00f6rt?\u201c
Zum ersten Mal schaut die Mulattin mich richtig an. Ungezwungen wandert der Blick \u00fcber mein Gesicht, um in meinen Augen stehen zu bleiben.
\u201eUnd blaue Augen hat er auch“, sagt sie l\u00e4chelnd. \u201eDu hast recht, Jos\u00e9, wenn meine Kinder so aussehen w\u00fcrden, w\u00e4re ich gl\u00fccklich.
Ich sehe mich pl\u00f6tzlich auf dem Viehmarkt, Abteilung Bullenkr\u00f6nung, mit einem Lorbeerkranz auf den Ohren, und verbeuge mich h\u00f6flich.
\u201eIch verstehe Sie gar nicht\u201c, sage ich. \u201eSie sind eine bezaubernde Frau, Maria, gerade weil Sie nicht wei\u00df sind. Schauen Sie sich doch mal an, zum Teufel, da kann einem H\u00f6ren und Sehen vergehen.
Ich bl\u00e4he die N\u00fcstern. Sie wird traurig.
\u201eM\u00f6chten, Sie Kinder haben, die so aussehen wie ich?\u201c, fragt sie mit leiser Stimme
\u201eEs brauchen ja nicht gleich \u2026\u201c Mein Mund bleibt offen. Ich f\u00fchle f\u00f6rmlich meine stolzen Ohren herunterklappen.
\u201eEhrlich gesagt, ich habe nie daran gedacht.\u201c
\u201eWeil jeder Wei\u00dfe nur ans Vergn\u00fcgen denkt, wenn er eine Frau meiner Farbe sieht\u201c, ruft sie b\u00f6se und sieht noch h\u00fcbscher aus. \u201eAls Mutter seiner Kinder \u2026 Buh! – Oh, protestieren Sie nicht.\u201c
\u201eIch protestiere gar nicht.\u201c
\u201eIch auch nicht\u201c, meint Jos\u00e9, \u201eund ich bin auch nur ein halber Wei\u00dfer.“
\u201eNur bist du der Vater meiner ersten Kinder. Glaubst du, ich h\u00e4tte dich deinetwegen genommen? \u201c
\u201eMeine Farbe gef\u00e4llt mir \u201c, sagt Jos\u00e9 stolz, \u201eund sie wird noch vielen deiner Art den Kopf verdrehen. Da kannst du Gift drauf nehmen.\u201c
\u201eWei\u00dfe Kinder m\u00f6chte ich haben\u201c, seufzt Maria, \u201erichtige Herrenbabys, mit wei\u00dfen Beinchen, rosa Popo, feinem Mund und spitzer Nase. Mein Gott \u2026\u201c
Ihr Blick verliert sich tr\u00e4umerisch in meinen Augen. Und schon hab‘ ich das Gespr\u00e4ch vergessen und glaube, wie alle M\u00e4nner, an meinen ganz pers\u00f6nlichen Charme. Jos\u00e9 g\u00e4hnt.<\/p>

Als ich einige Tage sp\u00e4ter erfahre, dass ein D\u00e4ne (32 Jahre, ein Meter achtzig, 200 Pfund, blond, blau\u00e4ugig) von seinem Schwiegervater nicht mehr gegr\u00fc\u00dft wird, weil der Spr\u00f6ssling seiner jungen Ehe das Licht der Welt mit schwarzen Augen erblickte und sogar geschmacklos genug war, krause Haare zu produzieren, begreife ich die Bedeutung der Farbe noch besser. Der aufgebrachte Gutsherr war keineswegs schwarz, nicht einmal braun. Nein, er war wei\u00df wie ein Spanier oder Italiener, mit einem kaum merkbaren negroiden Einschlag. Er war wie die meisten \u201ewei\u00dfen\u201c Brasilianer. Aber wie fast alle, wollte auch er die Farbe best\u00e4ndig machen und veredeln. Er wollte, dass seine Tochter ihr \u201eBlut reinigt\u201c, wie man hier sagt, und die neue Generation das Aush\u00e4ngeschild einer farbreinen Vergangenheit w\u00fcrde. Das einzige Adelswappen in einer Rassendemokratie. Es ist nichts anderes als der europ\u00e4ische Stolz auf einen guten Namen oder adlige Abstammung. Man ist eben aus einem \u201eguten Stall\u201c und will nichts mit Proleten zu tun haben. Auch bei uns wird manche B\u00fcrgerin zur Kupplerin, wenn blaues Blut um ihre Tochter wirbt.<\/p>

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Die M\u00e4dchen der guten B\u00fcrger<\/strong> m\u00fcssen keusch sein
bis zur Ehe und z\u00fcchtig bis ins Grab<\/em><\/p><\/div><\/div>

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Die Schwarzen und die Armen<\/strong> d\u00fcrfen lieben.
Sie haben weder Namen noch Ruf zu verlieren<\/em><\/p><\/div><\/div>

Der Katholizismus hat keinen Anteil an dieser komplizierten Welt des sozial gestaffelten M\u00e4nnlichkeitsfimmels. In einem Land, wo Rassen, Kulturen und Religionen sich seit Jahrhunderten mischen, hat er gelernt, gro\u00dfz\u00fcgig zu sein.
\u201eBrasilien ist das gr\u00f6\u00dfte katholische Land der Erde\u201c hei\u00dft es in den Schulb\u00fcchern. Ein gro\u00dfes Land – sicher, aber von Katholizismus in unserem Sinne kann bei der Mehrzahl der Brasilianer kaum die Rede sein. Auf siebzig Millionen Einwohner kommen nur neuntausend Priester. Das ist einer der niedrigsten Prozents\u00e4tze der christlichen Welt. – Aber geglaubt wird hier. Ja, Gl\u00e4ubige gibt es vielleicht mehr als irgendwo anders, denn nirgends sind die Kontraste so gro\u00df, die Widerspr\u00fcche so gewaltig, die Menschen so hilflos, die verzweifelten Anstrengungen des Einzelnen so nutzlos wie in Brasilien. In einer solchen Lage steigert sich die ewig panische Angst vor dem Irrationalen ins Ma\u00dflose. Die Aussichtslosigkeit des irdischen Kampfes zwingt mehr denn je, sich mit allen \u00fcbernat\u00fcrlichen M\u00e4chten zu vers\u00f6hnen und zu verb\u00fcnden. Seien es der Gott der Christen, die G\u00f6tter Afrikas, die Seelen der Verstorbenen, die magische Kraft von Steinen, Wurzeln, Schlangen oder die um Mitternacht geschnittenen Fingern\u00e4gel einer schwangeren Frau.
Es ist deshalb kein Zufall, dass echter Katholizismus eigentlich nur von den oberen Klassen praktiziert wird. Je tiefer man die soziale Leiter heruntersteigt, umso gr\u00f6\u00dfer wird die H\u00e4ufung vieler Glauben in einem Menschen: Er will sich alle verb\u00fcnden und seine gesellschaftliche Isolierung in g\u00f6ttlicher Gesellschaft ertWenn sie die ganze Nacht als afrikanische G\u00f6tter getanzt haben, gehen sie am n\u00e4chsten Morgen zur Messe. Sie glauben an Afrika und an Christus
ragbar machen. Es handelt sich ja gar nicht mehr ums Seelenheil. Nein. Jetzt und hier, wo die Solidarit\u00e4t der Menschen versagt, sollen ihm die G\u00f6tter helfen: die Lunge heilen, die Schmerzen aus der H\u00fcfte vertreiben, Liebe vermitteln, das Los verbessern.<\/p>

Wir sind in Salvador, der Hauptstadt des Staates Bahia, in dem siebzig Prozent aller Einwohner Farbige sind. Auf dem Ball der Deb\u00fctantinnen, dem eleganten Heiratsmarkt der guten Gesellschaft, sehen wir jedoch keine Negerin, nicht einmal eine Mulattin – und auch keine farbigen M\u00e4nner. Der einzige ausgesprochene Mischling ist ein M\u00e4dchen mit der goldbraunen Haut der Indianer. – Die indianische Vergangenheit wird nicht verleugnet. Sie erregt ein stilles Heimweh an die glorreiche Zeit, eine Bewunderung f\u00fcr die tapferen Krieger, die lieber sterben, als Knechte zu werden. Man ist stolz auf sie. Aber kann man stolz sein auf Vorfahren, die als Sklaven kamen – als Arbeitstiere aus Afrika? Sicher nicht, denn die schwarze Farbe ist ein Makel in der sozialen Vergangenheit. Man verleugnet diese Vorfahren genauso, wie Gr\u00e4finnen die Magd im Stammbaum vertuschen, die ihre Gro\u00dfv\u00e4ter in einer schwachen Stunde zur \u201eVerj\u00fcngung des Blutes\u201c nahmen.
In den Bars hingegen wimmelt es von Mulattinnen. Hier hat keine Wei\u00dfe eine Chance:
\u201eDie Braunen sind die Magierinnen. Sie zwingen die Wei\u00dfen zu sagen: So wie die Braune liebt, kann die wei\u00dfe Frau es nie \u2026\u201c
Unz\u00e4hlige solcher Verse besingen die Liebeskunst der \u201eMulatinha\u201c. Sie ist die Zentralfigur der Schnulze, die Kleopatra der brasilianischen Erotik. Selbst jeder improvisierte Fremdenf\u00fchrer besteht – neben der Besichtigung der Barockkirche und der Besteigung des h\u00f6chsten Wolkenkratzers – auf einem Ausflug ins Land der braunen Liebe.
\u201eWenn ich doch nur eine Mulatinja w\u00e4re oder ein Mann.\u201c
Der Seufzer f\u00e4llt so schwer in mein Whiskyglas, dass ich es hinstellen muss und meine Begleiterin ansehe. Sie k\u00f6nnte aus einem Gem\u00e4lde Botticellis geschnitten sein. Ich werde Frauen nie verstehen: Wie kann diese M\u00e4rchenfee eine Mulattin beneiden?
\u201eDie haben wenigstens was vom Leben. Schau doch hin.“
Die Paare, die um uns herum tanzen, sind fast alle gemischt: helle M\u00e4nner mit dunklen Frauen, die lachen und manchmal mehr un.
Ich nehme Terezas Hand und f\u00fchrte sie an meine Lippen. Es soll ein Kompliment sein.
\u201eBist du verr\u00fcckt \u201c, ruft sie. \u201eSoll ich ewig Jungfrau bleiben? Die M\u00e4nner, die sich hier am\u00fcsieren, d\u00fcrfen nie an meiner Tugend zweifeln.\u201c
\u201eKennt man dich hier?\u201c
Sie l\u00e4chelt: Diese Kerle sind die Spr\u00f6sslinge der guten Gesellschaft, von denen einer mich eines Tages \u2026 \u201c, sie spitzt den Mund, \u201e erlesen wird, um die Mutter seiner Kinder zu sein. Bis dahin muss sich brav sein. Du wei\u00dft, ein Mann ist keine Frau.\u201c
\u201eGott sei Dank.\u201c
\u201eMach es mir doch nicht schwer. Ich geb mir schon alle M\u00fche, dir gegen\u00fcber wie ein modernes M\u00e4dchen zu erscheinen. Und du wei\u00dft gar nicht, wie gut es tut, sich endlich mal ausquatschen zu k\u00f6nnen. Ich meinte die doppelte Moral. Eine f\u00fcr M\u00e4nner und eine f\u00fcr Frauen. Wir m\u00fcssen keusch sein bis zur Ehe und z\u00fcchtig bis ins Grab. Amen.\u201c
Tereza ist rot geworden. Ich lade sie zum Tanz ein.
\u201eAber mit Abstand \u201c, fl\u00fcstert sie, \u201e die Herren Bewerber m\u00fcssen zwischen uns hindurchsehen k\u00f6nnen. \u201c
Ein junger Mann winkt ihr zu. Sie stellt mich vor: \u201eEin Freund meines Vaters\u201c, sagt sie schnell, \u201edu kannst dir gar nicht vorstellen, wie lange wir betteln mussten, um ausgehen zu d\u00fcrfen.\u201c
Wir tanzen weiter. \u201eHoffentlich glaubt er es\u201c, sagt sie besorgt. \u201eEs ist ja sogar wahr.\u201c
Ihr Bekannter k\u00fcsst jetzt seine Partnerin. Tereza gibt mir einen Sto\u00df: \u201eSiehst du, Mulattinnen und Negerinnen d\u00fcrfen. In ihrem Milieu haben die M\u00e4nner keinen Erstlingsfimmel. Schau sie dir an, unsere stolzen H\u00e4hne. Wenn ich mir vorstelle, dass ihre einzige Ehre unserer Keuschheit ist, wird mir richtig \u00fcbel; komm, ich muss schnell was trinken.\u201c
Ich gie\u00dfe ihr nur ein wenig Whisky ein. Tereza st\u00fcrzt einen gro\u00dfen Schuss nach. \u201eLass mir doch wenigstens das Vergn\u00fcgen, ein Mal frei zu reden. Ohne Whisky geht das nicht. Glaubst du, ich m\u00f6chte zum Psychiater rennen, wie Con\u00e7ei\u00e7\u00e3o und Leila?\u201c
Ich versuche sie zu beruhigen, aber sie trinkt und schwatzt weiter. \u201eWei\u00dft du, warum die Mulattinnen den Ruf haben, Meisterinnen der Liebeskunst zu sein? Ganz einfach. Weil sie keine Konkurrenz haben. Wir d\u00fcrfen ja nicht. Und sp\u00e4ter sieht jedermann es als einen Versto\u00df gegen seine Ehre an, wenn seine Frau auch die Geliebte sein m\u00f6chte. Du verstehst. Schon wieder diese Ehre. In Rio und S\u00e3o Paulo ist das anders. Gott sei Dank. Aber der Rest Brasiliens. Buh. – Du kennst meine Schwester. Sie hat einen Amerikaner geheiratet. Wei\u00dft du, dass mein Vater sich fast mit ihm verkracht hat?\u201c
\u201eErz\u00e4hl.\u201c
Tereza lacht. Ihre Augen blitzen schelmisch. Sie trinkt noch einen kr\u00e4ftigen Schluck. \u201ePass auf. Hier ist der Dialog, wie meine Schwester ihn mir erz\u00e4hlt hat:
– Vater (v\u00e4terlich): Harry, mein Junge, manchmal kommt es mir vor, als w\u00e4ren die Amerikaner keine richtigen M\u00e4nner.
– Harry (verwirrt): Aber Fernando, du hast zwei Enkel in zwei Jahren bekommen. Schneller geht es nicht, sogar im Atomzeitalter. Haha.
– Vater (immer noch v\u00e4terlich): Jaja, mein Junge. Gro\u00dfartige Burschen sind sie. Aber das meine ich nicht. Hm, hu \u2026
Harry (amerikanisch): Na, raus mit der Sprache, alter Knabe. Wir sind unter M\u00e4nnern.
– Vater (vorsichtig): Mir ist noch nicht zu Ohren gekommen, dass du dich am\u00fcsierst.- Harry (stolz): Und die Kater, die ich jeden Morgen liebevoll pflege, sagen die dir gar nichts?
– Vater (halb amerikanisch): Ich rede nicht vom Whisky. Ich meine Frauen. Du hast keine Geliebte. Warum?
Harry (verbl\u00fcfft): Aber Fernando! Meine Frau gen\u00fcgt mir.
– Vater (erblassend): Das verbiete ich dir!
– Harry (stotternd): Wwwwas?
– Vater (ohne Appell): Ich verbiete es dir! Basta!
– Harry (best\u00fcrzt): Aber Vater \u2026
– Vater (unterbrechend): Schluss damit! Morgen besorgst du dir eine Geliebte oder ich beschaffe sie dir. Ein Mann muss eine Geliebte haben, sonst spricht man schlecht von seiner Frau. Und hier geht es um meine Tochter.
Die T\u00fcr knallt. Vorhang. Ende eines Familiendramas.
– Titel: Liebe bei feinen Leuten
– Hauptrolle: die m\u00e4nnliche Ehre
– Helden (unsichtbar): die Mulatinha
– Opfer (unsichtbar): die brasilianische Frau“
Tereza hat die Stimmen nachgeahmt, ihren Vater parodiert. Wir sch\u00fctteln uns vor Lachen. Hier ist eine 24 j\u00e4hrige Studentin, die ausgelassen ist wie ein Kind, weil sie f\u00fcr wenige Stunden aus dem K\u00e4fig der Konventionen fliehen durfte.<\/p>

Die Haltung des brasilianischen Mannes in der Liebe ist sozial bedingt. Wie bei der Farbe handelt es sich darum, sich klar abzuheben. Die Freiheit geh\u00f6rt den unteren Klassen, den Negern und Mischlingen, die lieben d\u00fcrfen, weil sie keine \u201eEhre\u201c haben, das hei\u00dft keinen Namen, keinen Stand, kein Geld, kein Ansehen verlieren k\u00f6nnen.
Sie n\u00fctzen diese Ungebundenheit der Armut auch weitgehend aus. Wir haben M\u00e4nner getroffen, die zwanzig Kinder hatten, von zehn verschiedenen Frauen und sich nur noch um die letzte k\u00fcmmern. Geheiratet wird selten: Es sei denn, dass man die soziale Leiter schon ein wenig hinaufgeklettert ist und sich \u201ebenehmen\u201c muss. Die Moral beginnt beim Brieftr\u00e4ger. Darunter wird afrikanisch gelebt, das hei\u00dft: herk\u00f6mmliches Konkubinentum, das durch die Proletarisierung ein wenig in Unordnung geraten ist.<\/p>

Und was den Armenrecht ist, ist den Reichen billig. Les extr\u00eames se touchent, sagt der Franzose, was in diesem Fall bedeutet, dass die ganz feine Gesellschaft in ihren Pal\u00e4sten genauso durcheinander liebt wie die Stallbewohner der Vororte. Wenn man ganz oben ist, hat man keinen Namen mehr zu verlieren: Er kann h\u00f6chstens interessant verschn\u00f6rkelt werden. Kein Wunder, dass die gute Gesellschaft wie ein Mann gegen die Scheidung ist und sie bis heute unterbunden hat. Warum sollte man sich das Leben komplizieren?
Die Opfer sind hier nur die biederen B\u00fcrger, der Mittelstand, der tapfer um seinen Ruf k\u00e4mpft, indem er seine Jungfrauen an die Front geschickt. Die Herren Kavaliere reiten in der Etappe ihren Mannesstolz zum Siege. So will es die Zivilisation des Hahnes, aus Portugal eingef\u00fchrt, durch italienische Emigranten verst\u00e4rkt, unter tropischer Sonne zu voller Bl\u00fcte entfaltet. – Und manche tapfere K\u00e4mpferin r\u00e4cht sich f\u00fcr den m\u00e4nnlichen Verrat – nach der Hochzeit.<\/p>

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In die Zukunft blicken diese M\u00e4dchen der guten Gesellschaft von Bahia. Von heute an d\u00fcrfen sie heiraten. Sie sind alle 15 Jahre alt und haben damit das Alter erreicht, in dem sie den Bewerbern zur Wahl vorgestellt werden k\u00f6nnen. Auf diesem Ball der Deb\u00fctantinnen, dem eleganten Heiratsmarkt des Jahres, benehmen sich diese kleinen M\u00e4dchen wie gro\u00dfe Damen<\/em><\/p><\/div><\/div>

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B\u00fc\u00dfen, beben, betteln, beten und bereuen sollte ihr alle, weil ihr den rechten Weg verlassen habt\u201c, scheint dieser zu Christus zu rufen. Er steht in Salvador, der Hauptstadt von Bahia, wo es ebenso viele afrikanische Tempel gibt wie Kirchen. Dieser Christus ist das Symbol des Sert\u00e3o, des asketischen, verschlossenen, mystischen Menschenschlages aus dem herben Hinterland. Er steht warnende Wacht vor den sinnlichen S\u00fcndern im barocken Bahia<\/em><\/p><\/div><\/div>

Was ein einzelner Gott nicht kann, verm\u00f6gen vielleicht mehrere. Aus dem Christentum zieht man die \u201estarken Gebete\u201c des Mittelalters und die irdische Protektion der Heiligen. Aus Afrika die G\u00f6tter, die den Elementen gebieten und die Trance schenken, in der man Rausch und Erl\u00f6sung findet. Man wird selbst Gott, f\u00fcr einige Stunden, und \u00fcbertanzt so auf himmlischer Ebene die gesellschaftlichen Schranken des Alltags. Und es gibt den Spiritismus, der Brasilien im Sturm erobert hat, weil die Seelen der Verstorbenen sich kundtun, um den Lebenden Ratschl\u00e4ge zu geben f\u00fcrs t\u00e4gliche Leben. Es handelt sich immer darum, Trost zu finden, Hilfe und Ersatz f\u00fcr soziales Nichtssein. Nur so erkl\u00e4rt sich, dass Wei\u00dfe, die gesellschaftlich \u201eSchwarze\u201c geworden sind, auch oft in den afrikanischen Sekten aufgehen – und es mehr Zauberer gibt als \u00c4rzte.<\/p>

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Bannen<\/strong> sollen die Heiligen in der katholischen Kirche vor allem die Leiden des Alltags: lahme F\u00fc\u00dfe, kranke Herzen, gebrochene Bein. Jeder Heilige hat sein Fachgebiet, genau wie unsere modernen \u00c4rzte. Um sie zum Beistand zu bewegen, verspricht man Honorare: zehn Vaterunser, sieben Ave Maria, und das Bein oder den geheilten Kopf in Wachs<\/em><\/p><\/div><\/div>

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Aus der Vergangenheit<\/strong> zieht der Zauberer Silvano Weisheit und Macht. Er behauptet, das Medium eines alten Indianers zu sein, das Sprachrohr eines Krieges, der vor 150 Jahren am Amazonas gefallen ist und sich jetzt materialisiert, um den Lebenden Ratschl\u00e4ge zu geben. In Brasilien gibt es mehr Zauberer als \u00c4rzte.  Sie heilen, beschw\u00f6ren und deuten die Zukunft <\/em><\/p><\/div><\/div>

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Mein Freund Silvano ist ein schwarzer Zauberer, der seine Praxis in einem Menschenstall von Rio hat. In seinem Sprechzimmer stehen viele Heiligenbilder. Hinter ihm h\u00e4ngt ein Christusbild neben der polizeilichen Bescheinigung, dass er ein echtes Medium ist.
Es fasziniert mich jedes Mal, wenn Silvano in Trance f\u00e4llt und ein vor hundertf\u00fcnfzig Jahren verstorbener Indianer des oberen Amazonas in ihn hineinf\u00e4hrt. Er zischt und gurgelt dann wie eine alte Lokomotive, bis der Indianer gem\u00fctlich in seinem K\u00f6rper Platz genommen hat. Und dann spricht Silvano pl\u00f6tzlich mit einer anderen Stimme in gebrochenem Portugiesisch. Er ist nur noch das Medium, durch das der Indianer heilt, Ratschl\u00e4ge gibt und Schicksale deutet. Wenn man etwas mehr bezahlt, l\u00e4sst er sich auch zur \u201eSchwarzen Magie\u201c \u00fcberreden. Dann werden kleine Puppen, die Feinde des Kunden darstellen, mit Nadeln durchbohrt, und es werden Zauberformeln gemurmelt, die Krankheit und Unheil bringen. Der gute Silvano macht das so \u00fcberzeugend – besonders das vulkanartige Gurgeln, unter dem der Indianer wieder ausf\u00e4hrt -, dass ich ihn f\u00fcr einen alten Schwindler halte. Meine einzige Testm\u00f6glichkeit ist Alkohol, Schnaps. Im normalen Leben trinkt Silvano nicht. Aber der k\u00fchne J\u00e4ger vom Amazonas ist f\u00f6rmlich verr\u00fcckt nach Feuerwasser. Er n\u00fctzt seine kurzen Passagen auf Erden so unversch\u00e4mt aus, dass Silvano nicht umhin kann, zu erkl\u00e4ren: \u201eIm Himmel gibt es keinen Tropfen Schnaps.“ Er beklagt sich nicht \u00fcber die Mengen, die er trinken muss, wenn der Indianer in ihm sitzt. Es tut ihm nur weh um das Geld. Denn oft gehen drei bis vier Liter Zuckerrohrschnaps in wenigen Stunden die braune Gurgel hinunter.
Ich habe einen halben Liter davon probiert und hatte sicher zwei Promille. Aber Silvano erwacht aus seiner Trance und ist vollkommen n\u00fcchtern. Selbst wenn er vier Liter getrunken hat, spricht er normal, geht sicher, nimmt sein Fahrrad und f\u00e4hrt nach Hause. Au\u00dfer dieser unverst\u00e4ndlichen Immunit\u00e4t gegen Schnaps habe ich keinen Beweis, dass Silvano wirklich in Trance f\u00e4llt und dem Trunkenbold aus den ewigen Jagdgr\u00fcnden zum vor\u00fcbergehenden Aufenthalt dient.<\/p>

Die beiden jungen M\u00e4nner, Serge und Francisco, haben Jura und Philologie studiert. Sie sind erkl\u00e4rte Marxisten, bewundern Castro und basteln selbst politisch ein wenig herum, um Brasilien in neue Bahnen zu lenken. Typische brasilianische Linksintellektuelle. – So hatte ich sie in Erinnerung. Ich bin deshalb erstaunt, dass diese wei\u00dfen Herren mehr \u00fcber afrikanische Religionen wissen als mein brauner Professor aus Bahia. Unterwegs erkl\u00e4ren sie mir, dass die neue Religion, die sich anschickt, Brasilien zu erobern, weit entfernt ist von den afrikanischen Sekten, die ich im S\u00fcden und Norden des Landes gesehen hatte.
\u201eIn Rio und S\u00e3o Paulo vollzieht sich die Synthese\u201c, meint Serge. \u201eSie hei\u00dft Umbanda. Eine Mischung von afrikanischem Animismus, indianischem Ritual und europ\u00e4ischem Spiritismus, mit Spuren aus der katholischen Heiligengeschichte. Die gro\u00dfe Hochzeit aller Kulturen, die sich hier begegnen.\u201c
\u201eDie Verschmelzung des kollektiven Unterbewusstseins aller beteiligten V\u00f6lkergruppen\u201c, erkl\u00e4rt Francisco. \u201eDas scheint mir die beste Definition.\u201c
\u201eNa, du wirst dir sehen.\u201c
Wir gehen zun\u00e4chst in einem kleinen Tempel, wo Francisco sich einen Weg durch die Tanzenden bahnt, um sich von einem indianischen Gott seinen rheumatischen Arm behandeln zu lassen.
Im zweiten Tempel erkl\u00e4rt mir ein soeben materialisierter Syrer aus dem 16. Jahrhundert, dass ich viel reise und ein interessantes Leben f\u00fchre. Mittlerweile hilft Serge einer tanzenden G\u00f6ttin, das Gleichgewicht zu halten, w\u00e4hrend zwei schwarze G\u00f6tter den Rauch dicker Zigarren \u00fcber Serge blasen und so die b\u00f6sen Geister verscheuchen, die in seinen Kleidern sitzen.
Im dritten Tempel ist der Teufel los. Verzeihung: G\u00f6tter und Geister sind losgelassen in einer ekstatischen Verz\u00fcckung, wie ich es noch nie gesehen habe. Wei\u00dfe, Mulatten, Neger tanzen zum Rhythmus der Trommeln so schnell, so pr\u00e4zise, so gut, mit geschlossenen Augen, ohne sich zu ber\u00fchren, auf wenigen Quadratmetern, dass es unm\u00f6glich Menschen sein k\u00f6nnen.
Im Lido, in Paris, w\u00fcrden sie ein Verm\u00f6gen verdienen – denke ich und ziehe mich in eine Ecke zur\u00fcck, um nicht zu st\u00f6ren. Der Boden ist weich. Ich r\u00fccke ein wenig. Er ist noch weicher – und rund. Wir stehen gedr\u00e4ngt. Es ist ziemlich dunkel. Ich f\u00fchle mich gar nicht wohl. Und pl\u00f6tzlich st\u00fcrzt ein Indianer mit Kopfschmuck und gl\u00fchenden Augen auf mich zu: \u201eOshumari\u201c, schreit er. \u201eSie stehen auf Oshumari.\u201c<\/p>

Oshumari, der Gott der Schlangen<\/em><\/strong><\/p>

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Serge wird wei\u00df und murmelt einige Entschuldigungen. Ich lehne mich gegen die Wand und suche festen Boden. Der Indianer b\u00fcckt sich. Als er wieder erscheint, h\u00e4ngt eine gro\u00dfe Schlange um seinen Hals.
\u201eOshumari, der Gott der Schlangen\u201c, fl\u00fcstert Francisco.
Indianer und Schlange starren mich an.
\u201eDer fremde Bruder kommt von weit her\u201c, sagt Serge, \u201eer konnte nicht wissen. Bitte verzeih.\u201c
\u201eEs ist ihm verziehen.\u201c
\u201eDarf ich nachher ein paar Worte an alle richten?“, fragt Serge wieder.
\u201eWann du willst.\u201c
Der Indianer erhebt die Hand; die Trommeln schweigen. G\u00f6tter und Seelen treten brav an die W\u00e4nde, w\u00e4hrend Serge zum Altar schreitet.
\u201eMeine Br\u00fcder\u201c, sagt er mit bewegter Stimme, \u201eihr habt eine wundervolle Harmonie geschaffen. Europa, Afrika und unsere indianische Vergangenheit erleben hier ihre Synthese. In diesem Haus der G\u00f6tter lebt Brasilien. Es gibt keine Grenzen mehr zwischen den Rassen, zwischen Arm und Reich. Wir alle sind gleich. Lasst uns diese Br\u00fcderschaft auch ins Leben tragen, auf die Stra\u00dfe, und ein neues Brasilien aufbauen. – Das musste ich euch sagen. Habt Dank. \u201c
Die G\u00f6tter und Geister klatschen begeistert Beifall. Die Trommeln rufen wieder. Der Tanz geht weiter.
\u201eIch dachte, Serge sei Marxist\u201c, sage ich zu Francisco.
\u201eIst er auch.\u201c
\u201eUnd er glaubt an G\u00f6tter und Seelenwanderung.\u201c
\u201eNat\u00fcrlich.\u201c<\/p>

Jetzt steht mein Geist auf schwankendem Boden. – Was soll ich auch noch lange fragen, ob hier Menschen G\u00f6tter werden oder G\u00f6tter Menschen, ob Geister tanzen oder Marxisten glauben, wei\u00dfe Seelen schwarzer G\u00f6tter Trommeln werden \u2026 Trommeln, Trommeln. Ja – Trommeln. Ich folge den Trommeln, sehe Rhythmus, bin nur noch Rhythmus, weder Geist, Gott, Mensch, Neger, Indianer, Luxemburger oder Franzose. – Nur Rhythmus, Rhythmus, Rhythmus.
Ich wei\u00df nicht, wie lange ich getanzt habe, ob ich getanzt habe oder wer mich getanzt hat. Ich wei\u00df nur, dass meine Beine wehtun und ich etwas Luft schnappen muss.
Vor der T\u00fcr sitzen zwei M\u00e4nner. Ein Wei\u00dfer und ein Schwarzer.
\u201eDie Seelen haben keine Farbe, sagt der Schwarze.
\u201eDoch\u201c, ruft der Wei\u00dfe.
\u201eWo?\u201c
\u201eIm Himmel. Die schwarzen sind die Diener der wei\u00dfen.\u201c
\u201eDas ist nicht wahr.\u201c
\u201eDoch.\u201c
\u201eUnd in der H\u00f6lle?\u201c
\u201eDa sind alle Seelen schwarz.\u201c
\u201eWoher wei\u00dft du?\u201c
\u201eIch hab’s gelesen.\u201c
\u201eDu l\u00fcgst.\u201c
\u201eSag das noch mal.\u201c
\u201eMeine Herren\u201c, sage ich feierlich, \u201ebevor Sie diesen Streit auf gewaltsame Weise austragen, m\u00f6chte ich Ihnen sagen, dass ich ein weit gereister Mann bin und sowohl den Himmel als auch die H\u00f6lle kenne.\u201c
\u201eAha“, sagt der Schwarze, \u201eund wie sieht es da aus?“
\u201eIm Himmel haben die Seelen keine Farbe, keine Vergangenheit, keinen Zwang, keine Grenzen. Sie tummeln sich frei nach ihrer Wahl. – In der H\u00f6lle hingegen bleiben die Farben, die irdische Vergangenheit. Dort m\u00fcssen die Seelen im Gleichschritt marschieren, die schwarzen gegen die wei\u00dfen, die roten gegen die braunen, die gelben gegen ich wei\u00df nicht wen. Nur das Blut, das flie\u00dft, hat die gleiche Farbe \u2026“
\u201eDas klingt sch\u00f6n\u201c, meint der Neger.
\u201eIch bin gar nicht sicher\u201c, sagt der Wei\u00dfe. \u201eDas ist irgend so eine Propaganda. Ich glaube, Sie verschwinden besser, bevor ich recht verstanden habe.\u201c
Ich verschwinde.<\/p>

\"\"<\/figure><\/div>

Im n\u00e4chsten stern<\/em>:
Kennedys Kampf gegen das Kapital<\/strong><\/p>","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Stern, Heft 9, 04. M\u00e4rz 1962 [Anmerkung: Im Folgenden wird der Begriff Neger\/Negerin aus dem Originaltext beibehalten. Diese Bezeichnung war damals ohne Abwertung als Fremd- und Selbstzuschreibung gel\u00e4ufig.] Sie hei\u00dfen Wolfgang, Hans, Sepp, Karl und Franz. Ihre wuchtigen Nacken haben sich vorsichtig in den Raum geschoben. Die gebrechlichen B\u00e4nke haben unter ihrem Gewicht ge\u00e4chzt. Die…<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":55930,"parent":54040,"menu_order":3,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":{"_seopress_robots_primary_cat":"","_seopress_titles_title":"","_seopress_titles_desc":"","_seopress_robots_index":"","footnotes":""},"categories":[592],"tags":[],"class_list":["post-54044","page","type-page","status-publish","has-post-thumbnail","hentry","category-brasilien","entry","has-media"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54044"}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/types\/page"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/users\/1"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=54044"}],"version-history":[{"count":5,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54044\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":64068,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54044\/revisions\/64068"}],"up":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54040"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media\/55930"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=54044"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=54044"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=54044"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}