{"id":54046,"date":"2017-03-11T14:08:55","date_gmt":"2017-03-11T13:08:55","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=54046"},"modified":"2022-08-03T15:17:17","modified_gmt":"2022-08-03T13:17:17","slug":"die-revolte-begann-im-kino","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/brasilien\/die-revolte-begann-im-kino\/","title":{"rendered":"Die Revolte begann im Kino"},"content":{"rendered":"

Stern, Heft 16,  19. April 1964
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Meuternde Matrosen, ein Menschenkn\u00e4uel unter einem gro\u00dfen Tuch, warten auf die Salve des Erschie\u00dfungskommandos. Eine Szene aus dem ber\u00fchmten sowjetischen Film \u201ePanzerkreuzer Potemkin\u201c. Brasilianische Matrosen sahen den Film – und meuterten. Sie glaubten sich – wie die russischen Matrosen im Jahre 1905 – am Beginn einer Revolution, gegen Hunger, Inflation, soziales Unrecht. \u201eAuch wir m\u00fcssen madiges Fleisch essen\u201c, schrie ein brasilianischer Matrose seinen Kameraden im Kino zu. Sie erkannten in dem Schicksal der meuternden russischen Matrosen ihr eigenes. Sie verlie\u00dfen die Schiffe, gingen auf die Stra\u00dfe und forderten Reformen. Als die Admirale sie bestrafen wollten, gab Pr\u00e4sident Goulart ihnen Recht. Aber das brach ihm das Genick, denn von nun an hatte er selbst seine Offiziersfreunde gegen sich. Ehe eine Revolution aus der Meuterei wurde, putschten Generale und Admirale. Sie verjagten den Pr\u00e4sidenten. Das Elend aber bleibt vorerst.<\/strong><\/p>

Ich h\u00e4tte nie gedacht, da\u00df man ein Volk so leicht verdummen kann.
Es ist vier Uhr nachmittags in Rio de Janeiro. Wir schreiben den 1. April. Carlos Lacerda der Gouverneur des Staates Guanabara, zu dem Rio geh\u00f6rt, und Hauptfeind des Pr\u00e4sidenten Jo\u00e3o Goulart, hatte sich in seiner Residenz verschanzt. Die Wagen der st\u00e4dtischen M\u00fcllabfuhr stehen quer \u00fcber den Stra\u00dfen und versperren die Zufahrtswege zum Palast. Milit\u00e4rpolizei und Freiwillige mit blau-wei\u00dfen Halst\u00fcchern, mit Flinten, Panzerf\u00e4usten und Dolchen haben Stellung bezogen. Sie hocken hinter Palmen und Sands\u00e4cken. S\u00e4hen sie nicht gut ern\u00e4hrt aus, k\u00f6nnte man sie f\u00fcr linksradikale Revolution\u00e4re halten.
\u201eWir k\u00e4mpfen f\u00fcr Gott, die Demokratie und Brasilien\u201c, sagen sie und fordern mich auf, schnellstens zu verschwinden, denn: \u201eWir trauen selbst Journalisten nicht mehr; Kommunisten gibt es in vielerlei Gestalt \u2026\u201c
Einige hundert Meter weiter sto\u00dfe ich auf die Residenz des Pr\u00e4sidenten Goulart. Hier werden Neugierige nicht davongejagt. Sie begaffen die Panzer, die zum Schutz des Palastes aufgefahren sind und ihre Gesch\u00fctze gegen die M\u00fcllwagen des feindlichen Lagers richten. Bis jetzt ist kein Schuss gefallen. Man h\u00f6rt nur gelegentliche Hochrufe auf Goulart. Hier soll eine Revolution ihrem H\u00f6hepunkt entgegengehen? Es sieht vielmehr so aus, als habe die Armee ihre besten St\u00fccke zur sonnt\u00e4glichen Besichtigung ausgestellt. Liebespaare k\u00fcssen sich kichernd unter drohenden Gesch\u00fctzen, kleine Jungen schie\u00dfen mit Pfeil und Bogen zwischen die Ketten der Panzer.
Aber pl\u00f6tzlich scheint es ernst zu werden. Ein paar Offiziere kommen aus dem Palast. Sie sehen bleich und sichtlich erregt aus.
\u201eEs geht los\u201c, jubiliert mein Nachbar. \u201eJetzt werden sie endlich den Raben fangen.\u201c
\u201eDen Raben?\u201c
\u201eJawohl – den Reaktion\u00e4r Carlos Lacerda. Wir nennen ihn den Raben. Der hat schon zwei unserer besten Pr\u00e4sidenten auf dem Gewissen. Getulio Vargas und Janio Quadros. Zwei M\u00e4nner, die dem Volk helfen wollten. Vargas haben sie in den Selbstmord getrieben und Quadros zum Verzicht gezwungen. Jetzt hat er sich gegen Jo\u00e3o Goulart erhoben. Aber mit dem wird er nicht fertig. Der schafft ihn. Schauen Sie!\u201c
Die Panzer setzen sich in Bewegung. Als sie nur noch f\u00fcnfzig Meter von der M\u00fcllwagensperre entfernt sind, st\u00fcrmen die Zuschauer die Haust\u00fcren und werfen sich zu Boden. Jeder erwartet, da\u00df ihm jetzt die Kugeln um die Ohren fliegen. Stattdessen wird zwischen M\u00fcllwagenverteidigern und Panzeroffizieren verhandelt. Die Barrikade \u00f6ffnet sich, und die Panzer fahren unbehindert ins Lager Lacerdas.<\/p>

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Truppen in Rio de Janeiro bewachten die Amtsgeb\u00e4ude. Aber sie wu\u00dften nicht, warum und …<\/em><\/figcaption><\/figure>
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… auf wen sie schie\u00dfen sollten \u2013 auf Freunde oder Feinde der Regierung Goulart. Doch diesmal …<\/em><\/figcaption><\/figure>
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… flo\u00df kein Blut. Die Bev\u00f6lkerung sah zu und schlug sich auf die Seite derer, die gesiegt hatten<\/em><\/figcaption><\/figure>

Es geht mir alles viel zu schnell, und ich frage: \u201eWas ist geschehen?“
\u201eWir haben gewonnen.\u201c
\u201eWas hei\u00dft: wir?\u201c
\u201eDas Volk nat\u00fcrlich.\u201c
\u201ePr\u00e4sident Goulart?\u201c
\u201eWer denn sonst? – Lacerdas Leute haben sich ergeben. \u201c
Ich frage viele und erhalte von allen \u00e4hnliche Antworten.
\u201eDa sieht man doch, was der Wille des Volkes bedeutet\u201c, erkl\u00e4rt mir ein \u00e4lterer Herr, der hinter einem Panzer herhumpelt und mit verkl\u00e4rtem Gesicht immer wieder jubelt: \u201e Wenn ein Volk reif ist, kann es ohne Gewalt seinen Willen durchsetzen. Es ist kein Schu\u00df gefallen. Unsere Soldaten sind echte S\u00f6hne des Volkes.\u201c
\u201eDer ist verr\u00fcckt“, meint ein schwer bewaffneter Mann, dessen blau-wei\u00dfes Halstuch seine Zugeh\u00f6rigkeit zu Lacerda erkennen l\u00e4\u00dft. \u201eWir haben gewonnen.\u201c
\u201eWas hei\u00dft: wir?“ will ich wissen.
\u201eDie echten Demokraten. Die echten Brasilianer. Lacerda nat\u00fcrlich.\u201c
Ich verstehe \u00fcberhaupt nichts mehr und frage einen brasilianischen Journalisten.
„Goulart hat gewonnen“, sagt der mit Bestimmtheit. \u201eSehen Sie denn nicht, wie das Volk begeistert ist?\u201c
Ich sehe nur, wie Carlos Lacerda aus seinem Palast tritt und sogleich von einer Hand voll Getreuer umringt wird.
\u201eOb der lebend davonkommt?\u201c fragt ein Mann neben mir.<\/p>

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 Der Sieger: Gouverneur Lacerda. Schon im Oktober k\u00fcndigte der einstige Journalist (mit Brille) den Putsch gegen Pr\u00e4sident Goulart an. Er will 1965 selbst Pr\u00e4sident werden  <\/em><\/p>

Die Antwort kommt in Gestalt eines Offiziers. Er schreitet auf Lacerda zu und umarmte ihn. Und die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer: Die Panzer sind zum Schutz Lacerdas gekommen. Goulart hat Rio bereits verlassen. Er ist geflohen. Die Revolte der Generale und Konservativen ist siegreich.
Jene, die sich eben noch stolz \u201edas Volk\u201c nannten, machen einen Augenblick lange Gesichter. Der alte Herr mit dem verkl\u00e4rten Blick lehnt sich gegen einen Jeep und weint. Die anderen, die Jungen, haben noch den Rhythmus des Liedes, das sie eben sangen, in den Gliedern. Man singt so gern in Brasilien. Die Getreuen Lacerdas schreien hurra und jene, die sich eben noch befreien wollten, klatschen Beifall. Er gilt dem Sieger.
\u201eSie haben mir noch vor ein paar Minuten erkl\u00e4rt, da\u00df Lacerda ein verha\u00dfter rechtsradikaler Politiker sei\u201c, erinnere ich meinen singenden Nachbarn.
\u201eIch mu\u00df hier leben\u201c, sagt er, \u201emit seiner Polizei \u2026\u201c
So endete – vorl\u00e4ufig – mit einem Sieg der konservativen und liberalen Kr\u00e4fte eine politische Krise, die im August 1961 mit dem R\u00fccktritt von Pr\u00e4sident Janio Quadros begonnen hatte.<\/p>

Brasilien teilte sich im Sommer 1961 in zwei feindliche Lager. Selbst die Armee war gespalten. Truppen marschierten gegeneinander. Ein B\u00fcrgerkrieg schien unvermeidlich. Aber wie immer fanden die Brasilianer einen Kompromi\u00df, bevor noch der erste Schu\u00df fiel. Goulart durfte sein Amt antreten. Allerdings mu\u00dfte er seine Vollmachten als Pr\u00e4sident beschneiden und sich einen farblosen, von den Milit\u00e4rs vorgeschlagenen Ministerpr\u00e4sidenten vor die Nase setzen lassen.
Doch damit konnte Goulart nicht regieren. Von nun an strebte er danach, das alte Regierungssystem wieder herzustellen. Es gelang ihm dank einer Volksabstimmung im Januar 1963.
Jetzt versuchte er, seine wiedergewonnene Machtposition zu festigen: Er schob Freunde in wichtige Stellungen, besetzte die Spitzenpositionen der Gewerkschaften mit Vertrauensm\u00e4nnern und mobilisierte die Massen durch Versprechen von Reformen, die schon l\u00e4ngst f\u00e4llig war.
Um die eigentlichen Staatsgesch\u00e4fte k\u00fcmmerte er sich weniger. Im Jahr 1963 stiegen die Lebenshaltungskosten um achtzig Prozent und das Geld, der Cruzeiro, entwertete sich allein in den letzten f\u00fcnf Monaten um je zehn Prozent, also insgesamt um die H\u00e4lfte. Begonnen hatte die Inflation freilich schon lange vorher.
Goularts Verteidiger weisen darauf hin, da\u00df Brasilien unter den heutigen Verh\u00e4ltnissen gar nicht regiert werden k\u00f6nne. Es sei praktisch unm\u00f6glich, dass ein Staatsmann alle sich bek\u00e4mpfenden Interessen auf einen gemeinsamen Nenner bringe: die amerikanischen und die europ\u00e4ischen, die Interessen der Industriellen in Stadt und Staat S\u00e3o Paulo; die Interessen der Kaffeepflanzer, der Gewerkschaften, der Gro\u00dfgrundbesitzer, der Bauern und der verschiedenen politischen Fraktionen. Die finanzielle Krise hat alle diese Gruppen dazu getrieben, ihre Interessen in besonders aggressiver Form zu vertreten.
Schon Quadros hatte diese Erfahrung machen m\u00fcssen, und vor ihm Getulio Vargas, der deswegen Selbstmord beging. Als Quadros im Sommer 1961 die Pr\u00e4sidentschaft aufgab, erkl\u00e4rte er: \u201eIch kann hier nicht regieren – niemand kann mit diesem Parlament regieren, mit dieser Korruption, mit diesem wirtschaftlichen Imperialismus.\u201c
Aber Goularts Sprecher f\u00fcgten sp\u00e4ter hinzu: \u201eEs sei denn, ein Diktator.\u201c- Und so zeichneten sich langsam Goulart Absichten ab: Er wollte f\u00fcr Brasilien werden, was Per\u00f2n f\u00fcr Argentinien war: ein Diktator.<\/p>

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Kein Kommunist, aber schwach: geflohen der Pr\u00e4sident Goulart mit Frau<\/em><\/figcaption><\/figure>

Bis Ende 1963 hatte der Goulart es vermieden, offen zwischen \u201elinks\u201c und \u201erechts\u201c zu w\u00e4hlen. Erst um die Jahreswende kamen Ger\u00fcchte auf, da\u00df Brizola, sein linksradikaler Schwager (ein Bruder der bildsch\u00f6nen Frau Goulart), bald Finanzminister w\u00fcrde. Und Brizola lie\u00df sich nicht zweimal bitten, genau zu erkl\u00e4ren, was er in diesem Falle unternehmen w\u00fcrde: zun\u00e4chst einen Aufschub der Auslandsschuld. Das h\u00e4tte die Einsparung von 2 Milliarden Dollar f\u00fcr die n\u00e4chsten drei Jahre bedeutet. Das entspreche ungef\u00e4hr der H\u00e4lfte der brasilianischen Ausfuhr im gleichen Zeitraum. Er meinte, dieser Schritt werde keineswegs zum Ruin der betroffenen Banken f\u00fchren, sei jedoch zur Weiterentwicklung der Wirtschaft n\u00f6tig.
Brizola k\u00fcndigte ferner die Verstaatlichung der Kreditanstalten, der Milch- und Fleischindustrie sowie der chemischen Werke an und erkl\u00e4rte, der Au\u00dfenhandel m\u00fcsse der ausschlie\u00dflichen Kontrolle des Staates unterstehen. Er wolle auch die Banken zwingen, die Entwicklung der Landwirtschaft zu finanzieren. Schlie\u00dflich k\u00fcndigte Brizola sogar dem Schmuggel den Kampf an, der den brasilianischen Staat j\u00e4hrlich um eine Milliarde Dollar bringt.
Das war zuviel. Jetzt bekamen es viele Brasilianer – wohl nicht gerade die \u00e4rmsten – mit der Angst zu tun. Sie begannen, sich auf die gro\u00dfe Auseinandersetzung mit Goulart vorzubereiten:
In S\u00e3o Paulo, Guanabara und Minas Gerais, den reichen Staaten des Landes (die bald die F\u00fchrung der Revolte \u00fcbernehmen sollen), wird jetzt – etwa von Januar an – die Milit\u00e4rpolizei fieberhaft erweitert. Im Gegensatz zur Armee der zentralen Bundesregierung steht sie unter dem Befehl der Gouverneure der Einzelstaaten. Sie kann entscheidende Dienste leisten, falls die Bundesarmee sich weigert, gegen die Zivilbev\u00f6lkerung zu marschieren. Gleichzeitig werden Milizen organisiert und Waffen versteckt. Gouverneur de Barros schickt an die Gro\u00dfgrundbesitzer Maschinengewehre.
Im Januar und Februar noch hatte Goulart sich nicht offen zu einem radikalen Kurs bekannt. Vielleicht hoffte er, die linken Kr\u00e4fte des Landes, von den Kommunisten bis zu den fortschrittlichen Katholiken, w\u00fcrden ihn unterst\u00fctzen. Tats\u00e4chlich stieg seine Popularit\u00e4t. So wagte er am Freitag, dem 13. M\u00e4rz den entscheidenden Schritt:
Ausgerechnet in Rio de Janeiro, der Hochburg seines Feindes Carlos Lacerda, stellte er sich klar als \u201eMann der Linken\u201c vor. Vor 200.000 begeisterten Zuh\u00f6rern rief er aus:
\u201eDie heutigen Strukturen sind derart veraltet, da\u00df sie das Wunder nicht herbeif\u00fchren k\u00f6nnen, das allein unsere Nation retten kann. Ich f\u00fcrchte nicht, als subversiv verschrien zu werden, wenn ich
die Notwendigkeit betone, die Verfassung zu \u00e4ndern.\u201c
Eine Stunde vor diesem Aufmarsch hatte Goulart den Auftakt zur lang erwarteten – und notwendigen – Landreform gegeben: Alle nicht bebauten L\u00e4ndereien, die in einer 10 Kilometer breiten Zone am Rand von Bundesstra\u00dfen, Eisenbahnen und Kan\u00e4len liegen, sollten verstaatlicht werden. Ebenso sieben private \u00d6lraffinerien. Und das sollte nur der Anfang sein.
Damit riskierte Goulart einen B\u00fcrgerkrieg. Und er wu\u00dfte es. Um einer sofortigen Reaktion Gouverneur Lacerdas zuvorzukommen, hatte er den Platz der Republik, auf dem er sprach, mit Bundestruppen abriegeln lassen.
Die erste Stimme der Reaktion kam aus S\u00e3o Paulo. \u201eWenn Goulart hier auch nur einen Hektar Land verstaatlicht,\u201c erkl\u00e4rte der Gouverneur dieses Staates, \u201edann werden meine vierzigtausend Mann gegen ihn marschieren.“
Nun wird es dramatisch: \u00dcberall im Land organisieren sich die konservativen Kr\u00e4fte. Sie schicken ihre Frauen vor. Im Namen Gottes und der Familie marschieren Tausende, mit Rosenkr\u00e4nzen bewaffnet, durch die Stra\u00dfen der Gro\u00dfst\u00e4dte und schreien im Namen Gottes gegen den \u201eKommunismus\u201c (dabei z\u00e4hlt die Kommunistische Partei Brasiliens vielleicht ganze f\u00fcnfzigtausend Mann). Wer Reformen anstrebt, gilt hier als Kommunist.
Die Bisch\u00f6fe von S\u00e3o Paulo und Rio de Janeiro warnen vor dem politischen Mi\u00dfbrauch der Religion. Sie stellen sich sogar z\u00f6gernd hinter Goulart. Seit einiger Zeit schon tritt ein Teil des brasilianischen Klerus f\u00fcr radikale Reformen ein, besonders auf dem Lande. (In einem Staat, in dem f\u00fcnfzehn Millionen wohlhabende B\u00fcrger einer Masse von f\u00fcnfzig Millionen Armen gegen\u00fcberstehen, die gl\u00e4ubig, ja fanatisch religi\u00f6s sind, kann die Zukunft der Kirche nur bei diesen liegen.)
Die eleganten Damen von S\u00e3o Paulo aber schleudern auf Stra\u00dfenumz\u00fcgen den Namen Gottes gegen den \u201eKommunismus\u201c. Sie schleppten ihre Dienstm\u00e4dchen mit, ihre Chauffeure, Portiers und alles, was wirtschaftlich von ihnen abh\u00e4ngt. Sie wollen ihren Demonstrationen einen volkst\u00fcmlichen Charakter geben.
Aber entscheidend bleibt die Armee. In Brasilien hat sie seit jeher – wie in S\u00fcdamerika so oft – den Ausschlag gegeben.
Die meisten Offiziere, besonders die h\u00f6heren Grade, h\u00fcten die traditionelle Ordnung. Aber die Armee denkt nicht mehr einheitlich.
Die Revolte der Matrosen und Marine-Infanteristen von Rio kommt den Konservativen gelegen: Am 25. M\u00e4rz bitten rund 4000 Matrosen um die Erlaubnis, sich zusammenzuschlie\u00dfen, um den zweiten Jahrestag ihres Eintritts in die Marine zu feiern. Der zust\u00e4ndige Minister lehnte ab. Die Matrosen, die gerade den russischen Film \u201ePanzerkreuzer Potemkin\u201c gesehen hatten, meutern. Sie verschanzen sich im Haus der Metallgewerkschaft und verlangen die Anerkennung ihres Rechtes auf Zusammenschlu\u00df, die Befreiung der verhafteten Kameraden, die Vermenschlichung in der Marine und die Verbesserung ihrer Verpflegung.
Die Truppe wird zum Haus der Metallgewerkschaft in Bewegung gesetzt. Doch anstatt die Meuterer gefangen zunehmen, l\u00e4uft ein Teil zu ihnen \u00fcber.<\/p>

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Die Meuterer von Rio machten es sich zwei Tage lang im Haus der Metallarbeitergewerkschaft gem\u00fctlich \u2013 bis sie Straffreiheit erhielten <\/em><\/figcaption><\/figure>

Goulart weigert sich, streng gegen die Meuterer vorzugehen: Sie h\u00e4tten sich ja nicht so sehr gegen die Regierung, sondern gegen eine willk\u00fcrliche Entscheidung ihrer Vorgesetzten erhoben, sagt er. Der Marineminister demissioniert. Goulart nimmt den R\u00fccktritt an. Die Matrosen haben gesiegt.
Explosive Worte gehen jetzt bei den Milit\u00e4rs um: Kronstadt, Panzerkreuzer Potemkin. Hat es so nicht auch in Ru\u00dfland angefangen? In der Presse erscheint das Schreckgespenst einer kommunistischen Macht\u00fcbernahme. W\u00e4hrenddessen marschieren die angeblich so kommunistischen Matrosen mit Kreuzen und Blumen zur Kirche der Candelaria, um der Heiligen Maria f\u00fcr ihren Sieg zu danken.
Doch ihr \u201eSieg\u201c dauert nur wenige Tage. Das Offizierkorps, bisher politisch gespalten, schlie\u00dft sich zusammen. Jetzt handelt es sich nicht mehr um politische Meinungen, um Reformen, um die Wirtschaft. Jetzt geht das Gespenst der Gehorsamsverweigerung um. Ein heiliges milit\u00e4risches Prinzip ist mit F\u00fc\u00dfen getreten worden. Ein Pr\u00e4sident, ein Zivilist, hat Meuterern Recht gegeben.
Goulart versucht jetzt, die Spaltung zwischen Offizieren und Truppe noch zu vertiefen. In Rio h\u00e4lt er eine aufr\u00fcttelnde Rede vor hastig zusammengetrommelt Unteroffizieren.
Doch die W\u00fcrfel sind gegen ihn schon gefallen.
Einige Offiziere unterst\u00fctzen noch Goulart. Er beschw\u00f6rt das Volk, mobilisiert die Gewerkschaften, die zum Streik aufrufen. Die wenigen getreuen Milit\u00e4rs br\u00f6ckeln ab. Soldaten schie\u00dfen auf Arbeiter und Studenten. Sie wissen nicht, warum und f\u00fcr wen. Viele glauben, sie k\u00e4mpfen f\u00fcr Goulart; dabei schie\u00dfen sie, auf Befehl ihrer Offiziere, auf dessen Anh\u00e4nger.
In wenigen Stunden ist Goulart isoliert. Er versucht noch einen letzten Widerstand im S\u00fcden des Landes, in seiner Heimat Rio Grande do Sul. Aber die Kr\u00e4fte, die er heraufbeschworen hat, sind st\u00e4rker als er: Er rief die Soldaten und Unteroffiziere zum Kampf gegen ihre Vorgesetzten auf. Damit aber hat er eine Front wieder zusammengeschmiedet, die in den letzten Jahren schon fast auseinandergebrochen war: die Front von Geld und Waffen.
Dabei war Goulart, der reiche Grundbesitzer, nicht einmal ein \u201eLinker“. Er hatte die fortschrittlichen Kr\u00e4fte des Landes unterst\u00fctzt; vielleicht wirklich nur, um damit eine blutige Revolution zu vermeiden. Vielleicht aber auch, um von der Popularit\u00e4t der Fortschrittlichen pers\u00f6nlich zu profitieren und die Macht ganz in seine H\u00e4nde zu bekommen. Um mit der Unterst\u00fctzung der Arbeiter und der hungernden Massen Chef eines faschistischen Regimes zu werden.
Das fortschrittliche Brasilien ist das Opfer Goularts geworden. Zum ersten Mal gab es vielleicht eine wirkliche Chance, die notwendigen Reformen zu verwirklichen. Die Massen warteten darauf. Die Beamten, Arbeiter und kleinen Leute schienen zum Kampf bereit; selbst die Armee und ein Teil des nationalen Kapitals war f\u00fcr das Neue aufgeschlossen.<\/p>

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Getulio Vargas ( 1930\u20141945; 1951\u20131954 ): Er regierte autorit\u00e4r, doch erfolgreich. Aber er mu\u00dfte schlie\u00dflich dem Druck der konservativen und den Angriffen seines Gegners Lacerda weichen<\/em><\/figcaption><\/figure>

Jetzt sitzen die Anh\u00e4nger des Fortschritts hinter Schlo\u00df und Riegel. Mehr denn je herrscht die alte konservative Ordnung.Es mag lange dauern, bis die Millionen Brasilianer, die Reformen erwartet hatten, wieder hoffen d\u00fcrfen.<\/p>

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Juscelino Kubischen ( 1956 \u20131960 ): Er legte den Grundstein zur neuen Hauptstadt Brasilia. Aber er \u00fcbersch\u00e4tzte die Kraft seines Landes. Wirtschaftskrise und Inflation begannen schon damals. Auch er will wieder Pr\u00e4sident werden<\/em><\/figcaption><\/figure>
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Janio Quadros ( Januar\u2014 August 1961 ): die gr\u00f6\u00dfte \u00dcberraschung seine Amtszeit, die vielversprechend begann, war sein pl\u00f6tzlicher R\u00fccktritt. Wie sein Nachfolger Goulart beklagte er den Egoismus der Reichen und die darauf zugeschnitten Verfassung<\/em><\/figcaption><\/figure>","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

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