{"id":54046,"date":"2017-03-11T14:08:55","date_gmt":"2017-03-11T13:08:55","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=54046"},"modified":"2022-08-03T15:17:17","modified_gmt":"2022-08-03T13:17:17","slug":"die-revolte-begann-im-kino","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/brasilien\/die-revolte-begann-im-kino\/","title":{"rendered":"Die Revolte begann im Kino"},"content":{"rendered":"
Stern, Heft 16, 19. April 1964 Meuternde Matrosen, ein Menschenkn\u00e4uel unter einem gro\u00dfen Tuch, warten auf die Salve des Erschie\u00dfungskommandos. Eine Szene aus dem ber\u00fchmten sowjetischen Film \u201ePanzerkreuzer Potemkin\u201c. Brasilianische Matrosen sahen den Film – und meuterten. Sie glaubten sich – wie die russischen Matrosen im Jahre 1905 – am Beginn einer Revolution, gegen Hunger, Inflation, soziales Unrecht. \u201eAuch wir m\u00fcssen madiges Fleisch essen\u201c, schrie ein brasilianischer Matrose seinen Kameraden im Kino zu. Sie erkannten in dem Schicksal der meuternden russischen Matrosen ihr eigenes. Sie verlie\u00dfen die Schiffe, gingen auf die Stra\u00dfe und forderten Reformen. Als die Admirale sie bestrafen wollten, gab Pr\u00e4sident Goulart ihnen Recht. Aber das brach ihm das Genick, denn von nun an hatte er selbst seine Offiziersfreunde gegen sich. Ehe eine Revolution aus der Meuterei wurde, putschten Generale und Admirale. Sie verjagten den Pr\u00e4sidenten. Das Elend aber bleibt vorerst.<\/strong><\/p> Ich h\u00e4tte nie gedacht, da\u00df man ein Volk so leicht verdummen kann.
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Es ist vier Uhr nachmittags in Rio de Janeiro. Wir schreiben den 1. April. Carlos Lacerda der Gouverneur des Staates Guanabara, zu dem Rio geh\u00f6rt, und Hauptfeind des Pr\u00e4sidenten Jo\u00e3o Goulart, hatte sich in seiner Residenz verschanzt. Die Wagen der st\u00e4dtischen M\u00fcllabfuhr stehen quer \u00fcber den Stra\u00dfen und versperren die Zufahrtswege zum Palast. Milit\u00e4rpolizei und Freiwillige mit blau-wei\u00dfen Halst\u00fcchern, mit Flinten, Panzerf\u00e4usten und Dolchen haben Stellung bezogen. Sie hocken hinter Palmen und Sands\u00e4cken. S\u00e4hen sie nicht gut ern\u00e4hrt aus, k\u00f6nnte man sie f\u00fcr linksradikale Revolution\u00e4re halten.
\u201eWir k\u00e4mpfen f\u00fcr Gott, die Demokratie und Brasilien\u201c, sagen sie und fordern mich auf, schnellstens zu verschwinden, denn: \u201eWir trauen selbst Journalisten nicht mehr; Kommunisten gibt es in vielerlei Gestalt \u2026\u201c
Einige hundert Meter weiter sto\u00dfe ich auf die Residenz des Pr\u00e4sidenten Goulart. Hier werden Neugierige nicht davongejagt. Sie begaffen die Panzer, die zum Schutz des Palastes aufgefahren sind und ihre Gesch\u00fctze gegen die M\u00fcllwagen des feindlichen Lagers richten. Bis jetzt ist kein Schuss gefallen. Man h\u00f6rt nur gelegentliche Hochrufe auf Goulart. Hier soll eine Revolution ihrem H\u00f6hepunkt entgegengehen? Es sieht vielmehr so aus, als habe die Armee ihre besten St\u00fccke zur sonnt\u00e4glichen Besichtigung ausgestellt. Liebespaare k\u00fcssen sich kichernd unter drohenden Gesch\u00fctzen, kleine Jungen schie\u00dfen mit Pfeil und Bogen zwischen die Ketten der Panzer.
Aber pl\u00f6tzlich scheint es ernst zu werden. Ein paar Offiziere kommen aus dem Palast. Sie sehen bleich und sichtlich erregt aus.
\u201eEs geht los\u201c, jubiliert mein Nachbar. \u201eJetzt werden sie endlich den Raben fangen.\u201c
\u201eDen Raben?\u201c
\u201eJawohl – den Reaktion\u00e4r Carlos Lacerda. Wir nennen ihn den Raben. Der hat schon zwei unserer besten Pr\u00e4sidenten auf dem Gewissen. Getulio Vargas und Janio Quadros. Zwei M\u00e4nner, die dem Volk helfen wollten. Vargas haben sie in den Selbstmord getrieben und Quadros zum Verzicht gezwungen. Jetzt hat er sich gegen Jo\u00e3o Goulart erhoben. Aber mit dem wird er nicht fertig. Der schafft ihn. Schauen Sie!\u201c
Die Panzer setzen sich in Bewegung. Als sie nur noch f\u00fcnfzig Meter von der M\u00fcllwagensperre entfernt sind, st\u00fcrmen die Zuschauer die Haust\u00fcren und werfen sich zu Boden. Jeder erwartet, da\u00df ihm jetzt die Kugeln um die Ohren fliegen. Stattdessen wird zwischen M\u00fcllwagenverteidigern und Panzeroffizieren verhandelt. Die Barrikade \u00f6ffnet sich, und die Panzer fahren unbehindert ins Lager Lacerdas.<\/p>