{"id":54084,"date":"2017-03-11T14:10:25","date_gmt":"2017-03-11T13:10:25","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=54084"},"modified":"2024-02-11T12:36:24","modified_gmt":"2024-02-11T11:36:24","slug":"unser-nachbar-frankreich-i","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/unser-nachbar-frankreich\/unser-nachbar-frankreich-i\/","title":{"rendered":"Unser Nachbar Frankreich I"},"content":{"rendered":"

Stern, Heft 25, 1. Juli 1962
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Vor unserer T\u00fcr zerf\u00e4llt eine Demokratie: Frankreich. Das Talent seiner K\u00fcnstler, die Brutalit\u00e4t seiner Folterknechte, der Humanismus seiner Denker, die Kaltbl\u00fctigkeit seiner M\u00f6rder machen Frankreich heute  zum Mittelpunkt der Gewissenskrise, die unsere ganze freie Welt durchdringt. Wie leben unsere Nachbarn? Was wollen sie? Wie kann Patriotismus zum Mord f\u00fchren? Davon handelt dieser Bericht.<\/strong><\/p>

(Anmerkung: diese Serie beginnt mit vier Doppelseiten gro\u00dfformatiger Fotos. Die Bildunterschriften dazu befinden sich meist innerhalb der Fotos.)<\/span><\/p>

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Paris \u00e4ndert sein Gesicht. Paris erstickt.
Das franz\u00f6sische Wirtschaftswunder hat zehn Millionen Menschen in einer einzigenStadt versammelt. Das dringendste Problem: Wohnungen<\/em> <\/p><\/div><\/div>

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Sie wollen in Ruhe gelassen werden und ihren Ruhestand genie\u00dfen. K\u00fchlschrank und Fernsehger\u00e4t werden wichtiger als die Freiheit. Mehr den je fliehen sie sonntags in die W\u00e4lder.<\/em><\/p><\/div><\/div>

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Ganz gleich, ob sie drei Stunden brauchen, um zwanzig Kilometer zu fahren und f\u00fcnf, um nach Hause zu kommen. <\/em> <\/p><\/div><\/div>

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Aber wenn die Gendarmen sie anhalten und nach Sprengstoff suchen, dann \u00e4rgern sie sich mehr \u00fcber die verlorenen f\u00fcnf Minuten, als \u00fcber die politische Lage, die solche Ma\u00dfnahmen fordert. Die Franzosen wollen sich nicht engagieren<\/em> <\/p><\/div><\/div>

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Flohmarkt der Ideale nennen die Jungen das alte Frankreich, das sich wohlgef\u00e4llig auf B\u00e4nken sonnt. \u201eIhr n\u00f6rgelt nur, aber engagiert euch nie. Ihr habt uns belogen und und in ein torkelndes Schiff gesetzt, ohne Segel und ohne Steuer. Wir wollen nicht leben wie Gott in Frankreich. Ein Gott, der nur gut essen und trinken will, nur lieben, angeln, quatschen und schlafen, kann nicht unser Gott sein. Wir suchen einen anderen! Wir wollen mehr. Wir wollen leben!\u201c Wie? \u2013 Sie haben noch keine Antwort. Doch eine: nicht wie die Alten<\/em> <\/p><\/div><\/div>

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Die moralische Wandlung der Jugend vollzieht sich in Paris, in Marseille \u2013 \u00fcberall. Dabei ist die Liebe zum Tummelplatz der Widerspr\u00fcche geworden. Ist sie die gro\u00dfe L\u00fcge, die einzige Wahrheit oder nur ein Kleiderst\u00e4nder, auf dem man seine Vorurteile ablegt? fragen Sie \u2013 und versuchen alles<\/em> <\/p><\/div><\/div>

\u201eDe Gaulle ist ein Schwein.\u201c
\u201eWem sagst du das?\u201c
\u201eEin Verbrecher.\u201c\u2013
\u201eIch kann ein Lied davon singen.\u201c
\u201eHast du noch Schmerzen?\u201c
\u201eBrandwunden.\u201c
\u201eWas haben sie gemacht?\u201c –
\u201eZuerst die Badewanne.\u201c
\u201eWie oft?\u201c
\u201eSechsmal.\u201c
\u201eUnd dann?\u201c
\u201eStrom.\u201c
\u201eWo?\u201c
\u201eDa, wo du denkst.\u201c
\u201eWer waren die Schweine? Mobilgarde, Polizei, Sonderkommandos?\u201c
\u201eGeheime.\u201c
\u201eVon welcher Seite?\u201c
\u201eFind dich zurecht.\u201c
\u201eElle est foutue, la France \u2013 Frankreich ist kaputt.\u201c
Die beiden M\u00e4nner,die so sprechen, sind Offiziere der franz\u00f6sischen Armee. Der eine ist Oberst, er hei\u00dft Pierre. Der andere, Jean, war Reserveleutnant. Er hatte gestern Algier heimlich verlassen.
Um sie zu treffen habe ich keine dunklen Verbindungen zu geheimen Organisationen in Genf, Br\u00fcssel oder Paris gebraucht. Ich kenne den Oberst seit 1945. Zu jener Zeit war er einer der Helden der franz\u00f6sischen Befreiungsarmee, ein gro\u00dfer Verehrer de Gaulles. In n\u00e4chtelangen Gespr\u00e4chen schw\u00e4rmte er damals von der \u00fcbermenschlichen Intelligenz seines Chefs. F\u00fcr ihn war de Gaulle der reinste Ausdruck des franz\u00f6sischen Genies. Sein pers\u00f6nliches Engagement begr\u00fcndete Pierre mit romantisch anmutenden Reden von Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Sozialismus.
\u201eMein Leben f\u00fcr eine menschlichere Welt\u201c, pflegte er zu sagen. Und er meinte es so. Er war unter schwierigen Umst\u00e4nden von Frankreich nach London geflohen und hatte anschlie\u00dfend freiwillig regelrechte Selbstmordmissionen \u00fcbernommen.<\/p>

Feind h\u00f6rt mit<\/h2>

\u201eHenri ist gestern verhaftet worden\u201c, sagt er jetzt.
\u201eWarum?\u201c frage ich.
\u201eWeil er wie wir denkt.\u201c
\u201eEin Bombenschmei\u00dfer?\u201c
\u201eNein, der versteht nichts von Feuerwerk. Er will nur, dass Algerien franz\u00f6sisch bleibt.\u201c
\u201eDann m\u00fc\u00dft ihr jetzt wohl untertauchen?\u201c
\u201eWieso?\u201c
\u201eWenn hier genauso gefoltert wird wie in Algerien, kann alles passieren.\u201c
Br\u00fcllendes Gel\u00e4chter: \u201eDu hast nichts begriffen. Frankreich ist doch nicht Algerien. Und hier ist es auch nicht wie in Deutschland zu Hitlers Zeiten: ein Reich, ein Volk, ein F\u00fchrer \u2013 ein Befehl, ein Gehorsam. In dieser Gegend zum Beispiel steht ein guter Teil der Polizei auf unserer Seite und die Garnison zu siebzig Prozent.\u201c
\u201eDann verstehe ich Henris Verhaftung nicht.\u201c
\u201eBefehl aus Paris. Es ist noch zu fr\u00fch f\u00fcr M\u00e4nner, die in der Verwaltung sitzen, Anordnungen offen zu verweigern. Also muss der Befehl ausgef\u00fchrt werden. Es fragt sich nur wie. Nimm Henris Fall. Man telefoniert. Es ist zwei Uhr nachts. \u201aMonsieur‘, sagt man h\u00f6flich, \u201awir haben ihr Haus umstellt. Es ist unn\u00fctz zu fliehen. In drei Stunden werden wir Sie verhaften.‘ \u2013 Und was meinst du, was Henri in diesen drei Stunden getan hat?\u201c
\u201eSeine Papiere verbrannt, seine Waffen versteckt.\u201c
\u201eGenau.\u201c
\u201eUnd seine Freunde gewarnt.\u201c
\u201eFalsch. So bl\u00f6d ist er nicht. Telefonieren ist gef\u00e4hrlicher als Bomben werfen. Abh\u00f6ren ist das Hobby der vielen Sicherheitsdienste. Und du kannst nie wissen, wer deinen Draht gerade im Ohr hat: einer von uns, ein Gaullist, ein Kommunist, ein amerikanischer Agent oder einer, der f\u00fcr alle arbeitet. Wei\u00df der Teufel.\u201c
\u201eUnd morgen ist Henri wieder frei, weil die Beweise durch den Schornstein rauchten . . .\u201c
\u201eDas kann noch keiner voraussagen. Hier herrscht Ausnahmezustand. Jeder kann zwei Wochen in Polizeihaft sitzen, und selbst wenn der Untersuchungsrichter das Verfahren einstellt, kann Henri auf unbestimmte Zeit inhaftiert werden. Es fragt sich, wer seinen Fall behandelt: einer von uns, ein Gaullist, ein Kommunist oder ein amerikanischer Agent. Elle a bonne mine la France, hein? Frankreich sieht sch\u00f6n aus, was?\u201c
Pierres Stimme ist nur noch Gemisch von Ekel und Ohnmacht.
\u201eUnd dir steht die Rolle des Opfers gar nicht,\u201c werfe ich ein, \u201edir, einem Oberst der Fallschirmj\u00e4ger. Tragt ihr denn nicht die Verantwortung? Ihr, die Ultras, die de Gaulle beschimpfen und alle Verbrechen der OAS decken?\u201c
Jetzt reckt sich Pierre auf. Seine Augen flackern. Ist es Stolz oder der Wein oder Wahn? Ich kann es nicht sagen.
\u201eWir sind die OAS\u201c, sagt er und h\u00e4mmert jede Silbe. \u201eAlle Franzosen, die noch an ein sauberes Frankreich glauben. Nein: alle, die sich betrogen und verkauft f\u00fchlen. Die Herren der Vierten Republik haben uns verschachert. Indochina, unsere Soldatenehre, unsere Toten waren nur Karten im politischen Spiel, Tr\u00fcmpfe im Wahlgesch\u00e4ft. Damals war de Gaulle die OAS: das Symbol eines sauberen Frankreichs. Wir riefen ihn. Aber er hat uns auf dem Altar seiner Gr\u00f6\u00dfe geopfert: Europa, Afrika, die dritte Gro\u00dfmacht als Schiedsrichter zwischen Ost und West \u2013 kurzum: der Herr der Welt, an Stelle des Frankreichs, von dem wir tr\u00e4umten.\u201c<\/p>

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Die neue Herrenrasse: Frankreichs Fallschirmj\u00e4ger. Sie f\u00fchlen sich als die Besten der neuen Welle, die Frankreich \u00fcberrollt: die Welle der Jugend. Ein Drittel der Bev\u00f6lkerung ist unter zwanzig. Das \u201ealte Frankreich\u201c wird zum j\u00fcngsten Land Europas. Die junge Flut will die alten Rahmen mit neuen Werten f\u00fcllen. Sie will die Macht. In einem Land, in dem der Staat zerf\u00e4llt und Fallschirmj\u00e4ger Ideale schmieden, mu\u00df man sich ernstlich fragen, ob diese jungen Bilderst\u00fcrmer die neuen Barbaren des Westens werden<\/em><\/p>

Strammstehen vor Kommunisten<\/h2>

Ich h\u00f6re diese Worte nicht zum ersten Male. Sie bilden das Leitmotiv der Ultras. Viele M\u00e4nner aus dem gehobenen B\u00fcrgerstand haben sie mir an den Kopf geworfen, als seien sie so einleuchtend wie das Einmaleins. Besonders im S\u00fcden Frankreichs.
Pierre schweigt. Er sieht so aus, als finde er es unn\u00fctz, seine politische Haltung weiter vor mir zu rechtfertigen. Er gie\u00dft sich Wein nach und schaut auf die Uhr.
\u201eDie Kinder m\u00fc\u00dften schon lange da sein. Hoffentlich ist nichts passiert. Der \u00c4lteste hei\u00dft Charles\u201c, sagt er l\u00e4chelnd, \u201enach de Gaulle.\u201c
\u201eAber wohin wird euch das f\u00fchren?\u201c
\u201e\u201aWohin hat man uns gef\u00fchrt?‘ mu\u00df man fragen.\u201c
\u201eVergi\u00df nicht, sieben Jahre lang haben alle Regierungen \u2013 einschlie\u00dflich de Gaulle \u2013 unsere Art der Befriedung gekannt und gebilligt. Massenausrottung, Zwangsumsiedlung von Millionen, Folter und Gehirnw\u00e4sche wurden geduldet \u2013 oder sogar gefordert. ,Siegen mit allen Mitteln‘ hie\u00df der Befehl eines sozialistischen Ministers. Willst du weiter h\u00f6ren, wie man zur Verzweiflung getrieben wird?\u201c
Ich nicke nur, denn ich kann nicht widersprechen.
\u201eDie FLN nannten sie ausl\u00e4ndische Agitatoren, von Moskau bezahlte Verbrecher, Kommunisten ohne Gefolge. Und wenn irgendein Intellektueller an unseren Befriedungsmethoden Kritik \u00fcbte, dann besudelte er die Ehre des Heeres und wurde gerichtlich verfolgt \u2013 vom Kriegsministerium.
Und nun sollen die Str\u00f6me von Blut umsonst gewesen sein. Die Kommunisten ohne Gefolge, die ausl\u00e4ndischen Verbrecher, die Werkzeuge Moskaus, wie man sie nannte und gegen die man uns hetzte, werden pl\u00f6tzlich die Freunde Frankreichs und die Herren Algeriens. Wir sollen das Gewehr pr\u00e4sentieren, wenn diese M\u00e4nner, die unsere Kameraden schlachteten, die Macht ergreifen? F\u00fcr wen h\u00e4lt man uns? Alle Araber, denen wir Schutz schworen, sollen wir schutzlos der Rache dieser Leute \u00fcberlassen? Wir haben milit\u00e4risch gesiegt und sollen abermals mit Blut und Ehre f\u00fcr die Machenschaften von gewissenlosen Politikern zahlen? Ich nicht, und wenn ich dabei verrecke.\u201c
Er steht auf und rei\u00dft die T\u00fcr auf.
\u201eMadeleine\u201c, ruft er, \u201ewo um Himmels willen bleiben die Kinder?\u201c
\u201eIm Bad.\u201c
\u201eWarum haben sie sich nicht gezeigt?\u201c
\u201eIhr habt so laut gesprochen.\u201c
\u201eWann kommen sie beten?\u201c
\u201eGleich.\u201c<\/p>

So leicht wird man Herrenmensch<\/h2>

\u201eUnd was machst du mit dem Gehorsam, ohne den eine Armee keine Armee mehr ist und ein Staat kein Staat?\u201c frage ich.
\u201eDie erst Pflicht der Armee ist es, der Regierung zu gehorchen. Aber die erste Pflicht der Regierung besteht darin, das Heer nicht f\u00fcr verlorene Sachen zu opfern. Es ist ein Verbrechen, M\u00e4nner zu zwingen, f\u00fcr nichts zu sterben und auf dieses Nichts Patriotismus zu schreiben. Nur damit es noch ein wenig l\u00e4nger dauert, obwohl man heimlich die Kapitulation vorbereitet. So hat de Gaulle es gemacht.
Aber er war auch ein guter Lehrmeister. Er hat uns gezeigt, da\u00df es Momente gibt, in denen ein Mann n e i n sagen muss, um die Ehre seines Landes zu retten. 1940 meuterte er offen gegen die legale Regierung. Am 13. Mai 1958 verschwor er sich heimlich mit uns und st\u00fcrzte die Vierte Republik. Im Namen welchen Prinzips kann er jetzt Gehorsam verlangen, er, der Frankreich verr\u00e4t?\u201c
\u201eIm Namen des Rechtes der Algerier auf Selbstbestimmung.\u201c
\u201eRecht ist der Wille des Besseren\u201c, sagt er gelassen.
\u201eRassend\u00fcnkel?\u201c
\u201eNein, besser sind nicht die Rasse, sondern die Werte, die ein Volk oder eine Gruppe der Nation verk\u00f6rpert.\u201c
\u201eUnd die Schlechteren vergast man einfach . . .\u201c
Er l\u00e4chelt. \u201eDu bist ein Kind. Du tust, als g\u00e4be es das absolut Gute. Gut ist alles, was dem Besseren nutzt und dem Edleren zum Siege verhilft.\u201c
\u201eUnd wer entscheidet, wer der Edlere ist?\u201c
\u201eEine Gruppe, die ihre Werte kennt und bereit ist, f\u00fcr sie zu sterben, ist die edlere.\u201c
So und \u00e4hnlich haben viele Franzosen und manche Offiziere zu uns gesprochen, die f\u00fcr ein franz\u00f6sisches Algerien eintreten. Sie haben gro\u00dfe Worte im Mund, als sei es ihr t\u00e4glich Brot: Werte, Tradition, das ewige Frankreich, Kreuzritter des Westens, die Edleren, Missionsbewussten usw. Sie rechtfertigen alle Verbrechen.
Diese M\u00e4nner sind Gefangene ihrer Dialektik. Wie Geisteskranke, die von dem Postulat ausgehen: Ich bin eine Stra\u00dfenbahn, also habe ich zw\u00f6lf R\u00e4der, also fahre ich auf Gleisen, , also brauche ich Strom, also usw. Sie sind Verr\u00fcckte der Logik.<\/p>

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Begeisterter Empfang f\u00fcr De Gaulle. Er gilt weniger dem Staatschef als dem Star des Fernsehens, den man sehen und ber\u00fchren will <\/em> <\/p><\/div><\/div>

M\u00f6rder k\u00f6nnen gute V\u00e4ter sein<\/h2>

Madeleine kommt mit den Kindern.
Charles, der \u00c4lteste, ist in Indochina geboren, Yvonne, die zweite, in Algerien. Marie, die kleinste, in Frankreich.
Pierre breitet die Arme aus, und sie st\u00fcrzen zu ihm. Er umschlingt sie alle. Wie frisch gepfl\u00fcckte Blumen dr\u00fcckt er ihre K\u00f6pfe gegen sein Gesicht.
Jean, der w\u00e4hrend des ganzen Gespr\u00e4chs stumm zugeh\u00f6rt hat, wird pl\u00f6tzlich lebendig. \u201eEr ist der beste Vater der Welt\u201c, murmelt er.
Pierre l\u00e4chelt still vor sich hin. Mit geschlossenen Augen.
\u201eLa\u00dft uns beten\u201c, sagt er.
Auch die Kinder schlie\u00dfen die Augen. Madeleine ist hinzugetreten. Sie legt ihre H\u00e4nde auf die K\u00f6pfe und wie eine Stimme erhebt sich das Vaterunser. Anschlie\u00dfend sagen sie ein selbstgedichtetes Gebet, das so endet: \u201eMache Frankreich gro\u00df und besch\u00fctze alle, die wir lieben.\u201c
Unwillk\u00fcrlich kn\u00fcpfe ich diese Worte an das voraufgegangene Gespr\u00e4ch. Sie liegen auf der gleichen Ebene. Ja, hier beginnt die irre Logik, die Rechtfertigung des Verbrechens. \u201aAlle, die wir lieben‘ kann nur ein Gef\u00fchl erzeugen: da\u00df es Menschen gibt, die wir nicht lieben k\u00f6nnen oder nicht lieben wollen, Menschen, die des Schutzes Gottes unw\u00fcrdig sind. F\u00fcr diese Kinder wird die Welt heute schon in zwei Gruppen geteilt: wir, die wir mit Gott sprechen und deshalb gut und edel sind \u2013 und die anderen.
Jean ist sichtlich ger\u00fchrt. Er blickt mit feuchten Augen auf die vier K\u00f6pfe, deren Haare sich mischen und von der Mutter z\u00e4rtlich gestreichelt werden.
Es ist schwer, nicht sentimental zu werden.Es gelingt mir nur, weil ich wei\u00df, da\u00df viele Folterknechte gute V\u00e4ter sind und ihre Hunde verw\u00f6hnen, da\u00df man die Seinen innigst lieben und die Lieben auf der anderen Seite kaltbl\u00fctig t\u00f6ten kann. Man kann ein guter Mensch sein, ein biederer B\u00fcrger. Ein treuer Freund \u2013 und ein M\u00f6rder.
Pierre ist ein M\u00f6rder. Er hat es mir selbst gesagt. Ich werde nie die Nacht vergessen, in der er davon sprach.
Es war im Sommer 1958. Wir waren bei gemeinsamen Freunden eingeladen und mu\u00dften das einzige G\u00e4stezimmer teilen. Pierre hatte viel getrunken. Damals betrank er sich systematisch, bis er todm\u00fcde ins Bett fiel.
In der Nacht werde ich von lautem St\u00f6hnen geweckt.
\u201eNimm die Augen weg\u201c, h\u00f6re ich Pierre schreien. \u201eDie Augen, rei\u00df sie \u2018raus. Zum Teufel, tritt drauf. Bitte, bitte, bitte.\u201c
Das St\u00f6hnen wird unverst\u00e4ndlich. Er w\u00e4lzt sich im Bett herum. Dann ruft er wieder: \u201eNein, nicht diese Augen. Helft mir doch . . . \u201c\u2028 Ich stehe auf und r\u00fcttle ihn wach. Als er mich endlich erkennt, sagt er: \u201eSie schaut mich immer noch an\u201c, und dann: \u201eHol was zu trinken, bitte, sonst kommt sie wieder.\u201c\u2028 Als ich mit dem Wein zur\u00fcckgekommen bin und wir lange schweigend getrunken haben, fragt ich, wer ihn nachts anschaut.
\u201eDie Kabylin\u201c, sagte er. \u201eIch hatte das ganze Magazin in ihren Leib geleert. Sie wollte nicht sterben. Sie setzte sich langsam hin, als sei sie ein wenig m\u00fcde. Nur deshalb blickte ich hin \u2013 und ich sah ihre Augen. Erstaunte Augen, ohne Ha\u00df, ohne Angst. Nur ungl\u00e4ubige Verwunderung. Dann griff sie nach ihrem S\u00e4ugling, der tot neben ihr lag, und pre\u00dfte ihn gegen den blutenden Leib. Und die Augen weinten. Nur die Augen, die weit offenen Augen. \u2013 Sie kommen jede Nacht\u2026\u201c
\u201eMu\u00dftest du sie t\u00f6ten?\u201c
\u201eWir haben das ganze Dorf erledigt. Es war nicht das erste Mal. Tu nicht so, als ob du nichts w\u00fc\u00dftest. Ganz Frankreich wei\u00df davon. Krieg ist Krieg. Auf Terror k\u00f6nnen wir nur mit Terror antworten.\u201c
Pierre steht auf. Wir nehmen die Flasche und gehen in den Garten. Es ist eine wundervolle Sommernacht. Irgendwo am Himmel mischt sich ein Sputnik, der heute auf seine Bahn geschossen worden ist, unter die Sterne. Ich habe es heute Morgen gelesen. Die Menschheit st\u00fcrmt das All \u2013 und hier erz\u00e4hlt mir ein Mensch sein irdisches Leben.
Er hatte bereits im Krieg t\u00f6ten m\u00fcssen. Aber es waren K\u00e4mpfer gewesen. Notwehr sozusagen. Das Morden hatte 1945 begonnen. In Algerien hatte es Aufst\u00e4nde gegeben. De Gaulle war Ministerpr\u00e4sident. Es galt, den Nationalismus im Keime zu ersticken. Pierre war in S\u00e9tif. Seine Einheit metzelte M\u00e4nner, Frauen, Kinder nieder.
\u201eWie viele?\u201c
Zwanzigtausend, vierzigtausend. Ich wei\u00df es nicht. Wir haben sie mit Bulldozern verscharrt.<\/p>

Das Messer wird zum Gott<\/h2>

Sp\u00e4ter kommt er nach Indochina. Partisanenkrieg reibt die Nerven auf. Kameraden werden verst\u00fcmmelt. Man kann der n\u00e4chste sein. Man bekommt endlich einen \u201eViet\u201c zu fassen. Nat\u00fcrlich schneidet man ihn in St\u00fccke. Mit der Zeit stumpft man ab. Man reagiert nicht mehr aus Angst oder Ha\u00df. Man liest Mao Tse-tung und studiert die psychologische Wirkung des Terrors. Jetzt wird er systematisch organisiert. Man metzelt wieder D\u00f6rfer nieder.
Es gibt nat\u00fcrlich Offiziere, die nicht mitmachen, Soldaten, die zur\u00fcckschrecken, Idealisten, die desertieren. Manchen macht es Spa\u00df. Andere werden Spezialisten.
So kommt man nach Algerien. Man braucht schnelle Gest\u00e4ndnisse. Das einzige Mittel: Folter. Zuerst ist es die Aufgabe von Polizei und Spezialtrupps. Bald schaltet die Armee sich ein. Die Methoden? Die klassischen: Badewanne, Ersticken, Strom an Mund, Achsel, Brust und Geschlechtsteilen. Wer schnell gesteht, wird schmerzlos erledigt. Wer schweigt, wird an den F\u00fc\u00dfen aufgeh\u00e4ngt, bis er stirbt. Das kann zwei Tage dauern.
Man bringt die Gefangenen oft nur deswegen um, weil sie Spuren der Folter zeigen. In Paris gibt es Intellektuelle und Menschenrechtler, die viel L\u00e4rm machen und Untersuchungskommissionen schicken. Die d\u00fcrfen nat\u00fcrlich keine Beweise finden. Sonst ist der Teufel los. Es ist nicht einfach, Krieg zu f\u00fchren. Die Zivilisten wollen immer das letzte Wort haben. Das ist der Grund allen \u00dcbels. Sie sitzen bequem zu Hause und spinnen gro\u00dfe Gedanken. Hinterm Ofen kann man leicht von Menschenw\u00fcrde reden. Aber in den Bergen, in der Kasba, wo \u00fcberall der Tod lauert, wird das Messer zum Gott. Und was hei\u00dft Menschenw\u00fcrde? Man foltert doch nur Araber und Kommunisten . . .<\/p>

Die Algerier europ\u00e4ischer Abstammung nennt man Schwarzf\u00fc\u00dfe. Man hat sie bewaffnet. Sie f\u00fchren keinen Krieg. Sie gehen auf Jagd, auf Rattenjagd. Ratten nennen sie die Araber, weil sie wie Ratten im Dreck leben. Pierre ist manchmal dabei, nachts, nach getaner Arbeit, wenn er betrunken ist. Man streicht durch die Stra\u00dfen und schie\u00dft \u201eRatten\u201c ab. Es gibt immer Araber, die dumm genug sind, sich zu zeigen. Die jungen Schwarzf\u00fc\u00dfe jagen bis tief in die Araberviertel hinein. Im Grunde hasst Pierre die Rattenjagd. Er ha\u00dft auch die Schwarzf\u00fc\u00dfe. Sie sind \u00fcberheblich. Sie denken nur an ihr Geld, nicht an Frankreich. Ohne sie g\u00e4be es keinen Krieg. Man h\u00e4tte das Land aufteilen und den Arabern Rechte zugestehen sollen. Nie w\u00e4re es so weit gekommen. Der Egoismus der Schwarzf\u00fc\u00dfe ist an allem Schuld. Und jetzt jagen sie Ratten.
Pierre erz\u00e4hlt langsam, ohne Pathos. Nicht ein Wort der Reue oder des Bedauerns kommt \u00fcber seine Lippen. Es klingt, als spr\u00e4che er von den Erlebnissen eines anderen. Nach einer Weile frage ich: \u201eWie wirst du mit der Schuld fertig?\u201c
\u201eVon Schuld kann keine Rede sein. Es gibt sie nur im Traum. Da h\u00e4ngen noch Spinnf\u00e4den aus der Kindheit, die wir Gewissen nennen. Es gab Zeiten, in denen ich schlafend aufstand und meine Frau anflehte, mir die H\u00e4nde abzuhacken, weil ich sie voller Blut sah. Nur im Traum. In wachem Zustand kann ich mich vor mir selbst rechtfertigen.\u201c<\/p>

Wenn der Tag kommt, stirbt das Gewissen<\/h2>

Die eiskalte Sachlichkeit seiner Stimme bringt mich zur Raserei. Ich schreie ihn an, da\u00df nichts einen einzigen Mord rechtfertigen k\u00f6nne, geschweige denn den kaltbl\u00fctigen Mord an Tausenden von M\u00e4nnern, Frauen und Kindern.
Mit der gleichen k\u00fchlen Stimme f\u00e4hrt er fort: \u201eWir sind keine Angreifer, sondern Verteidiger, die an die Wand gedr\u00e4ngt worden sind. Wir handeln aus Notwehr, zur Selbsterhaltung. Wir verteidigen den Westen. In Indochina mu\u00dften wir abr\u00fccken, weil wir zu weich waren. Zu weich gegen die Partisanen und zu weich gegen unsere Politiker. In Algerien darf das nicht wieder vorkommen, sonst ist ganz Europa verloren. Wir allein tragen diese Verantwortung. Wir sind die einzige Armee aus einer westlichen Nation, die offen Krieg gegen den internationalen Kommunismus f\u00fchrt.\u201c
\u201eUnd ihr bedient euch seiner Methoden.\u201c
\u201eDer Zweck heiligt die Mittel\u201c, sagt ein weiser Spruch.
\u201eUnd was rechtfertigt das Ziel? Was verteidigst du? Das \u00d6l, materielle Vorteile, strategisch wichtige Pl\u00e4tze, wirtschaftliche Interessen, koloniale Positionen \u2013 oder das Selbstbestimmungsrecht der V\u00f6lker, Freiheit, Recht, Demokratie und die W\u00fcrde des Menschen? Ich glaube, letzteres macht das christliche Abendland aus.\u201c
\u201eWir haben noblere Motive als das \u00d6l\u201c, meint er gelassen, \u201eden Antikommunismus, das \u00dcberleben der europ\u00e4ischen Traditionen, unsere Familie, unsere Kinder, unsere geistige \u00dcberlegenheit.\u201c
Ich finde keine Worte. Sie w\u00e4ren auch unn\u00fctz. Ich f\u00fchle pl\u00f6tzlich den Tau an meinen nackten F\u00fc\u00dfen und zittere.
Pierre nimmt noch einen tiefen Schluck aus der Flasche. \u201eIch glaube, ich kann jetzt schlafen\u201c, sagt er. \u201eWenn der Tag kommt, sterben die Augen der Frau aus der Kabylei.\u201c
W\u00e4hrend ich das schreibe, sehe ich uns wieder in jenem Garten der Ile-de-France. Pierre ging langsam ins Haus, w\u00e4hrend ich mich nicht vom Fleck r\u00fchren konnten. An der T\u00fcr drehte er sich um und rief l\u00e4chelnd: \u201eMach dir keine Sorgen, alter Junge, wir werden Europa seinen alten Glanz wiedergeben.\u201c
Europa? Gestern las ich folgenden Satz in einem Buch eines algerischen Rebellen: \u201eVerlassen wir dieses Europa, das nicht m\u00fcde wird, vom Menschen zu reden, w\u00e4hrend es ihn \u00fcberall umbringt, wo es ihn findet, an allen Ecken seiner Stra\u00dfen, in jeder Ecke der Welt. Seit Jahrhunderten unterdr\u00fcckt es den gr\u00f6\u00dften Teil der Menschheit im Namen einer angeblichen \u201ageistigen Mission‘. Europa hat eine solch irre Geschwindigkeit erreicht, da\u00df es sich Abgr\u00fcnden n\u00e4hert, von denen wir uns besser entfernen . . .\u201c<\/p>

Schweigen ist t\u00f6dlich<\/h2>

So spricht ein Afrikaner und wendet sich ab, seinen Problemen zu. Wir aber m\u00fcssen hinschauen. Der schleichende B\u00fcrgerkrieg in Frankreich betrifft jeden von uns.
\u201eJeder von uns ist ein m\u00f6glicher Pierre. Wir sind schon jetzt kleine Pierres des allt\u00e4glichen Lebens\u201c, sagte mir ein Franzose, dem ich meine Begegnung mit dem Oberst schilderte. \u201eEs ist nur eine Frage des Grades der geistigen Vergiftung, und morgen handeln wir wie er. Mit gutem Gewissen, als brave V\u00e4ter, herrliche Menschen, als Tierfreunde, Helden und praktizierende Christen.
Nur brutale Offenheit kann uns heute noch retten. Brutale Offenheit ist keine Anklage. Sie ist ein Hilfeschrei. Die letzte Waffe. Wir m\u00fcssen sie hinwegfegen, unsere l\u00e4cherlichen Empfindlichkeiten, unseren Chauvinismus, unsere falsche Eitelkeit.
Ich mu\u00df Ihnen gestehen, da\u00df auch mein Chauvinismus es lieber s\u00e4he, wenn Sie den Deutschen ein sch\u00f6nes Bild von Frankreich zeichnen w\u00fcrden. Besonders jenen Deutschen, die unsere heutigen Irrwege als nachtr\u00e4gliche Entschuldigungen ihrer Verbrechen deuten werden. Aber gerade sie sollten sich in Pierre wiedererkennen. Und sie sollten folgendes \u00fcberlegen: W\u00e4hrend die Deutschen im Handumdrehen eine Philosophie erfanden und eine nationale Mystik schufen, die ihre Taten rechtfertigten, k\u00e4mpfen wir Franzosen wenigstens. W\u00e4hrend sie Willk\u00fcr und Verbrechen ohne viel Widerspruch zu staatlichen Einrichtungen machten, gibt es bei uns einen echten Krieg zwischen Gut und B\u00f6se, zwischen Gott und Teufel. Und wir haben den Mut zur brutalen Offenheit. Bis jetzt sind alle unsere Verbrechen beim Namen genannt worden. Von Franzosen. In Frankreich. Das ist entscheidend und l\u00e4\u00dft auf einen guten Ausgang hoffen.\u201c
Melancholisch f\u00e4hrt er fort: \u201eEs gibt Tausende sch\u00f6ner Dinge in Frankreich, \u00fcber die Sie ganze B\u00fccher schreiben k\u00f6nnten. Aber darum geht es heute nicht. Zu Hitlers Zeiten gab es auch in Deutschland wundervolle Dinge und herrliche Menschen. Selbst erstaunliche Leistungen des Regimes: Autobahnen, Werke, die auf Hochtouren liefen, zufriedene Arbeiter und singende Kinder. Aber auch darum ging es nicht. Wenn ein M\u00f6rder eine k\u00fchne Br\u00fccke baut, rechtfertigt das nicht sein Verbrechen. Ein M\u00f6rder kann geniale B\u00fccher schreiben und sch\u00f6ne Stra\u00dfen bauen \u2013 er bleibt ein M\u00f6rder<\/p>

Zur\u00fcck aus der H\u00f6lle<\/h2>

\u201eWir verstehen nicht\u201c, sagt die Familie.
\u201eWir verstehen nicht\u201c, sagt die Concierge.
\u201eWir verstehen nicht\u201c, sagen die Nachbarn.
Sie begreifen nicht, warum G\u00e9rard, 27 Jahre, sich umgebracht hat, zwei Wochen nach seiner R\u00fcckkehr aus Algerien.
\u201eEr hatte sich sehr ver\u00e4ndert\u201c, sagt die Familie. \u201eEr war nicht mehr derselbe\u201c, sagen die Freunde.
Warum? \u201eWir wissen es nicht. Er hat uns nichts gesagt. Er schien m\u00fcde, niedergeschlagen.\u201c
\u201eEr war immer ein guter Sohn\u201c, sagt die Mutter.
\u201eDer beste Sch\u00fcler\u201c, sagt der Vater.
\u201eEin sensibler Mensch\u201c, sagt die Freundin.
In der Nacht von Sonnabend auf Sonntag hat Xavier, 24 Jahre, ein M\u00e4dchen \u00fcberfallen. Er hat sie erstochen, vergewaltigt und ins Meer geworfen.
Warum? \u201eWir wissen es nicht. Er hatte sich ver\u00e4ndert. Er sprach nicht mehr wie fr\u00fcher. Er schien brutal und m\u00fcrrisch, seit er aus Algerien zur\u00fcck war.\u201c
In Florange sitzt ein 25j\u00e4hriger seit drei Monaten am Fenster und starrt auf die Stra\u00dfe. Er ist hier geboren und kennt jeden, der vor\u00fcbergeht. Aber er wei\u00df nicht mehr, was er die letzten zwei Jahre getan hat. Sein Gewissen hat ein wei\u00dfes Tuch gezogen \u00fcber zwei Jahre seines Lebens. Zwei Jahre Algerien.
Das sind Soldaten, die in die Heimat zur\u00fcckkehren. Die andern, die Algerien in panischer Angst verlassen, sind keine Heimkehrer. Es sind Fl\u00fcchtlinge. Sie sind Heimatlose, die in ein fremdes Land str\u00f6men, dessen Staatsangeh\u00f6rigkeit sie besitzen. Sie sind die Verantwortlichen \u2013 und die Opfer der algerischen Trag\u00f6die. Wir haben sie als hilflose Opfer gesehen.<\/p>

\"\"<\/figure>

Nur die Kinder kennen die Panik nicht. F\u00fcr sie ist die Flucht eine gro\u00dfe aufregende Reise in eine neue Heimat. Sie werden schnell Freunde finden und richtige Franzosen werden. Aber die Eltern? \u201eMan ha\u00dft uns“<\/em> <\/p><\/div><\/div>

\"\"<\/figure>

Frankreich hat ein neues Problem: die Fl\u00fcchtlinge. Jede Woche kommen Tausende: Ausl\u00e4nder mit franz\u00f6sischen Staatsangeh\u00f6rigkeit<\/em> <\/p><\/div><\/div>

\"\"<\/figure>

Sie fliehen vor den Arabern, vor der OAS, vor ihrer eigenen Panik. Sie haben nur noch eine fixe Idee: Man will uns t\u00f6ten<\/em> <\/p><\/div><\/div>

Jeder ist unser Feind<\/h2>

Marseille: \u2013 Die \u201eVille de Marseille\u201c legt an, mit 1150 Fl\u00fcchtlingen an Bord. Wir brauchen eine polizeiliche Genehmigung, um an die Pier zu kommen. Es wimmelt von Gendarmen. Ich habe den Eindruck, da\u00df es ratsam ist, sie nicht zu fotografieren. Als Claude es dennoch versucht, steht ein Herr im \u201eunauff\u00e4lligen Regenmantel\u201c im Sucher und sagt h\u00f6flich: \u201eIch rate Ihnen, nicht in diese Richtung zu fotografieren. Die Gendarmen sind nerv\u00f6s. Jeder ist heute mis\u00dfrauisch. Haben Sie Verst\u00e4ndnis. Ich habe Sie gewarnt.\u201c
Mehrere Male kommen Herren \u201eim Regenmantel\u201c, um n\u00fctzliche Ratschl\u00e4ge zu geben. \u201eFotografieren Sie dies nicht. Es ist besser f\u00fcr Sie. Und nicht in diese Richtung. Sie ersparen sich Unannehmlichkeiten.\u201c
Wir sagen jedes Mal: \u201eOui, Monsieur. Merci, Monsieur.\u201c Aber dann werden wir b\u00f6se. Eine Gruppe von Regenm\u00e4nteln versucht, das Interview eines Fernsehreporters zu unterbrechen, das Claude gerade fotografiert. \u201eEin wenig Diskretion bitte\u201c, sagen sie energisch und sto\u00dfen mit den Ellenbogen. \u201eKein L\u00e4rm mit menschlichem Schmerz\u201c, und hopp: Die interviewten Fl\u00fcchtlinge werden abgef\u00fchrt.
\u201eSehen Sie, so werden wir aufgenommen. Es ist eine Schande. Man behandelt uns wie die Auss\u00e4tzigen. Wir sollen schweigen. Bald sperrt man uns noch ein.\u201c
Eine junge Frau, elegant, mit braunem Haar, schreit es den Geheimpolizisten ins Gesicht. Sie umarmt weinend zwei alte Frauen, die mit dem Schiff gekommen sind. \u201eMan ha\u00dft uns hier. Heute hat mir mein Hauswirt gek\u00fcndigt, denn er will nicht, dass sein Haus ein Lager f\u00fcr algerische Fl\u00fcchtlinge wird. Man behandelt uns wie Araber. Schaut doch hin. Bald sperrt man uns hinter Gitter.\u201c
Ich mu\u00df zugeben, da\u00df die kleinen Metallgitter, hinter denen man die Fl\u00fcchtlinge versammelt, nicht einladend wirken. Sie entstanden aus dem Konkurrenzkampf der Wohlt\u00e4tigkeit. Jedes Empfangskomitee, die Protestanten, Katholiken, Israeliten, das Rote Kreuz, die getarnte OAS und zehn andere haben kleine Krals gebaut und f\u00fchren selbstbewu\u00dft \u201eihre\u201c Fl\u00fcchtlinge in \u201eihr\u201c Verhau der Barmherzigkeit.
Ein alter Herr trampelt mit den F\u00fc\u00dfen wie ein ungezogener Junge. \u201eAlors, man kann nicht mehr sagen, wie man uns in Algerien behandelt. Alors, die Regierung will auch hier vertuschen, da\u00df man uns umbringt. C’est un scandale. Ich werde es trotzdem sagen: Man schneidet uns die Gurgel durch. Jeden Morgen liegen welche vor ihren T\u00fcren. Sie bluten uns aus. Wissen Sie warum. Non?\u201c Er kommt n\u00e4her und fl\u00fcstert: \u201eDie \u201aRatten‘ haben viele Verwundete und brauchen Blut. Man kann keine Blut\u00fcbertragung mit arabischem Blut machen. Es gerinnt sofort. Ihr Blut ist unrein. Kein Wunder bei so viel Gemisch. Ihre \u00c4rzte wissen das. Deshalb brauchen sie unser Blut.\u201c
Hier wird Angst zur Hysterie. Der alte Mann sucht nach Erkl\u00e4rungen f\u00fcr all die Toten, die er gesehen hat. Er versteht nicht und mu\u00df in seinem Hirn suchen, was er schon immer gewu\u00dft hat. Schon als Kind hat man ihm gesagt: \u201eDie Araber sind eine schlechte Rasse. Sie haben unreines Blut. Komm ihnen nicht zu nah. Sie haben L\u00e4use. Sie sind nicht wie wir.\u201c Er hat immer mit dieser \u201eWahrheit\u201c gelebt und nach ihr geurteilt und gehandelt.
\u201eIm Zwischendeck liegen Verletzte.\u201c Wir laufen hin. Auf einem Liegestuhl st\u00f6hnt ein Mann. Beide Beine stecken in schmutzigen Verb\u00e4nden. Die F\u00fc\u00dfe sind geschwollen und fast schwarz. Zwei M\u00e4nner legen ihn in ein Segeltuch \u2013 es gibt keine Tragbahren \u2013 und wollen ihn fortschleppen.
Seine Frau weint: \u201eWenn ihr meinen Mann mitnehmt, was soll aus mir werden. Wie soll ich ihn wiederfinden. Wenn ich mitkomme, mu\u00df ich meine Koffer hier lassen. Man wird sie stehlen. Was soll ich nur machen?\u201c<\/p>

\"\"<\/figure>

Herr Arfi wurde von franz\u00f6sischen Gendarmen verwundet. Er war in einem Zimmer im zweiten Stock, als pl\u00f6tzlich auf die Fassade des Hauses geschossen wurde. Warum? \u201eWie kann ich es wissen\u201c, sagte er. \u201eIch habe nie Politik gemacht. Ich bin nur ein kleiner Buchdrucker. Ich wollte in Frieden leben und arbeiten\u201c<\/em> <\/p><\/div><\/div>

\u201eMan\u201c t\u00f6tet<\/h2>

Sie bricht zusammen. Claude verspricht ihr mit den Gep\u00e4cktr\u00e4gern zur\u00fcckzukommen. Nach einer Stunde sind Mann, Frau und Bagage am gleichen Ort versammelt. Eine Dame des Roten Kreuzes fragt: \u201eWas haben Sie an den Beinen?\u201c
\u201eDie Gendarmen haben auf uns geschossen\u201c, sagt der Mann.
\u201eWo waren Sie denn?\u201c
\u201eBei Freunden. Im E\u00dfzimmer. Im zweiten Stock.\u201c
\u201eNat\u00fcrlich auf dem Balkon.\u201c
\u201eNein. Im Zimmer. Sie haben durchs Fenster geschossen. Es gab einen Toten. Ich habe zwei Kugeln im Kn\u00f6chel und \u00fcberall Splitter.\u201c
\u201eWie sind Sie abgereist?\u201c
\u201eIch mu\u00dfte bis zur Ecke laufen. Da fanden wir ein Taxi. Aber der Fahrer wollte uns nicht bis zum Hafen bringen. Er hatte Angst. Keiner will es tun. Ich habe noch ein St\u00fcck laufen m\u00fcssen. Wir hatten Gl\u00fcck. Wir kamen an Bord. Wenn wir ein drittes Mal h\u00e4tten zur\u00fcckkommen m\u00fcssen, w\u00e4re ich draufgegangen.
\u201eEin drittes Mal?\u201c
\u201eJa, wir hatten es am Freitag schon einmal versucht. Wir sind aus Birmandreis. In unserer Stadt wohnen nur Araber. Es ist entsetzlich. Sie wollten uns nichts verkaufen. Und wir hatten Angst, sie selbst um eine Tomate zu bitten. Wir hatten kein Brot, keine Milch. Drei Wochen lang konnten wir den Hund nicht ausf\u00fchren. Wir haben ihn im Haus gelassen. Die Araber sind sofort einger\u00fcckt. Hoffentlich behandeln sie ihn gut. Meine Druckerei ging auch nicht mehr. Eine kleine Druckerei. Wenn arabische Kunden gekommen w\u00e4ren, h\u00e4tte man sie umgebracht \u2013 und uns mit.\u201c
\u201eWer? Man?\u201c
\u201eSie nat\u00fcrlich. Alle die gegen uns sind. Alle, die uns umbringen. Die Geheimpolizei, die unsere Fenster \u00fcberwacht, die Gendarmen, die Regierung.\u201c
\u201eSie wollen mir doch nicht einreden, da\u00df die Geheimen euch ausrotten wollen. Hier wei\u00df man, wer die Befehle gibt: die OAS.\u201c
\u201eDie OAS \u2013 die OAS \u2013 immer die OAS. Sie sind die einzigen, die uns verteidigen. Ich geh\u00f6re nicht dazu. Aber was wollen Sie, Madame; wenn man wei\u00df, da man zum Tode verurteilt ist und niemand sich mehr um einen k\u00fcmmert, dann ist man auf der Seite, die uns verteidigt.\u201c
In all diesen Gespr\u00e4chen gibt es keine Logik mehr. Ein regelrechter Verfolgungswahn hat diese Menschen ergriffen. M a n ist gegen uns. M a n will uns t\u00f6ten. S i e kommen uns erw\u00fcrgen. \u201eMan\u201c \u2013 \u201eSie\u201c. Keiner wei\u00df mehr, von wem er spricht. Die Taten der FLN werden mit dem Terror der OAS in einen Topf geworfen, mit den Repressalien der Polizei, den S\u00e4uberungsaktionen der Armee, dem Kreuz- und Querschie\u00dfen der Geheimpolizisten aller Gruppen und Tendenzen. Die Menschen haben nur noch eine fixe Idee: Man t\u00f6tet uns.<\/p>

\"\"<\/figure>

Viele Fl\u00fcchtlinge mu\u00dften ihre Hunde zur\u00fccklassen. \u201eHoffentlich finden sie gute Herren\u201c, sagen sie, \u201eMuslim hassen Hunde\u201c <\/em><\/p><\/div><\/div>

Am Abend sind wir bei einem bekannten Ehepaar in Montpellier. Er ist Arzt. Seit sieben Jahren haben Paul und Yvonne der FLN geholfen. Sie haben Rebellen in ihrem Haus versteckt. Heimlich, in steter Gefahr haben sie das Recht eines Volkes auf Freiheit \u00fcber den Gehorsam des Staatsb\u00fcrgers gestellt. Sie k\u00f6nnen heute noch verhaftet werden. F\u00fcr Franzosen, die die FLN unterst\u00fctzen, sieht das Abkommen von Evian keine Amnestie vor.
Wir finden das Haus in gro\u00dfer Unordnung. Yvonne putzt das Zimmer, das sie bis vor kurzem \u201adie Herberge der Br\u00fcder‘ nannten und in dem sie algerische Rebellen versteckten.
Wir fragen, weshalb um diese Stunde so viel geputzt wird.
Paul und Yvonne schauen sich an, wie zwei ertappte Diebe.
\u201eWir haben lange diskutiert\u201c, sagt Paul, \u201eund Yvonne hat gewonnen. Wir nehmen Fl\u00fcchtlinge aus Algerien auf.\u201c
\u201eIhr, die FLN-Freunde, wollt OAS verseuchte Schwarzf\u00fc\u00dfe beherbergen? Feinde sozusagen? Das kann nicht wahr sein.\u201c
\u201eDoch\u201c, meint Yvonne mit einem scheuen L\u00e4cheln. \u201eDas Zimmer, das f\u00fcr die Rebellen reserviert war, ist jetzt frei. Sie brauchen es nicht mehr. Sie haben gewonnen. Und da habe ich gedacht, es k\u00f6nnte wieder von Nutzen sein, f\u00fcr die, die jetzt in Not sind.\u201c<\/p>","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Stern, Heft 25, 1. Juli 1962 Vor unserer T\u00fcr zerf\u00e4llt eine Demokratie: Frankreich. Das Talent seiner K\u00fcnstler, die Brutalit\u00e4t seiner Folterknechte, der Humanismus seiner Denker, die Kaltbl\u00fctigkeit seiner M\u00f6rder machen Frankreich heute  zum Mittelpunkt der Gewissenskrise, die unsere ganze freie Welt durchdringt. Wie leben unsere Nachbarn? Was wollen sie? Wie kann Patriotismus zum Mord f\u00fchren?…<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":55398,"parent":54081,"menu_order":0,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":{"_seopress_robots_primary_cat":"","_seopress_titles_title":"","_seopress_titles_desc":"","_seopress_robots_index":"","footnotes":""},"categories":[503],"tags":[],"class_list":["post-54084","page","type-page","status-publish","has-post-thumbnail","hentry","category-frankreich","entry","has-media"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54084"}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/types\/page"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/users\/1"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=54084"}],"version-history":[{"count":5,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54084\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":61959,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54084\/revisions\/61959"}],"up":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54081"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media\/55398"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=54084"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=54084"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=54084"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}