{"id":54086,"date":"2017-03-11T14:10:25","date_gmt":"2017-03-11T13:10:25","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=54086"},"modified":"2024-02-11T12:37:03","modified_gmt":"2024-02-11T11:37:03","slug":"liebe-in-frankreich","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/unser-nachbar-frankreich\/liebe-in-frankreich\/","title":{"rendered":"Liebe in Frankreich IV"},"content":{"rendered":"

Stern, Heft 29, 22. Juli. 1962
\n<\/em><\/p>\n

\u201eMein Auto f\u00fcr diese Frau.\u201c
\n\u201eWelche?\u201c
\n\u201eDie nackte\u2026\u201c
\n\u201eSie sind alle nackt, mehr oder weniger.\u201c
\n\u201eNa, die nackteste. Die ganz links mit den Pfundsh\u00fcften.\u201c
\n\u201eNicole?\u201c
\n\u201eWas hei\u00dft Nicole? Du kennst sie?\u201c
\n\u201eWarum nicht?\u201c
\n\u201eAngeber.\u201c
\n\u201eIch kenne die ganze Familie.\u201c
\nMein Freund Wolfgang kratzt sich am Kopf. Er scheint pl\u00f6tzlich nachdenken zu m\u00fcssen. \u2013 Heute Morgen ist der aus Deutschland gekommen und wollte nat\u00fcrlich sofort Paris kennenlernen. Ich hatte ihm vorgeschlagen auf der linken Seite der Seine durch einige Bistros zu ziehen, ein paar nette Leute zu treffen, um zun\u00e4chst einmal die Atmosph\u00e4re der Stadt ein wenig auf der Haut zu sp\u00fcren. Aber nein, davon wollte er nichts wissen.
\n\u201eBin ich ein Intellektueller?\u201c \u2013 Er wollte sich sofort an die Brust des Pariser Lebens st\u00fcrzen, wie er sagte. Das O l\u00e0 l\u00e0, und so. Das Fro-frou und das ch\u00e9ri, tu viens. Na, das Paris, wie es wirklich ist und von dem jeder spricht. \u201eSei doch kein Frosch\u201c, sagte er, \u201eglaubst du, ich sei nach Paris gekommen, um Vegetarier zu werden? Pariser Frauen, franz\u00f6sische Liebe. Mann! Meine Freunde haben mir Sachen erz\u00e4hlt. Na, Junge, nun mal ran. Zeig mal, da\u00df du Paris kennst. Ich will auch was erz\u00e4hlen k\u00f6nnen.\u201c
\n\u201eF\u00fcr Geld gibt’s \u00fcberall \u201atolle Sachen‘.“
\n\u201eWas hei\u00dft zahlen? Die haben pariserisch gelebt, mein Lieber. Jeder wei\u00df doch, wie es hier ist. Das knistert von Liebe. Nun tu mal nicht so. ’ne kleine Franz\u00f6sin. Die denken doch an nichts anderes. So zum Sprachunterricht. Ha ha.\u201c<\/p>\n

\"\"<\/i><\/span><\/span><\/p>\n

Dank ihrer K\u00fcnstler haben die Franzosen seit jeher Liebe und <\/span><\/em><\/strong>Nacktheit in ih<\/span><\/em><\/strong>r allt\u00e4gliches Leben eingeordnet. Niemand bel\u00e4chelt diesen alten Herrn, wenn er auf dem Flohmarkt in\u00a0<\/span><\/em><\/strong>Paris von seiner Jugend tr\u00e4umt. Keiner st\u00f6rt sich an den Liebespaaren, die wie Blumen\u00a0in jedem Fr\u00fchling die Ufer der Seine schm\u00fccken. Die Liebe scheint dieses Paar\u00a0<\/span><\/em><\/strong>durstig zu machen\"\"<\/span><\/em><\/strong><\/p>\n

So hatte es angefangen. Wolfgang wollte Paris kennenlernen, sein Paris, und zwar sofort. Und jetzt scheint er pl\u00f6tzlich ein wenig perplex.
\n\u201eEigenartig\u201c, sagt er, \u201eich habe nie gedacht, da\u00df Nacktt\u00e4nzerinnen eine Familie haben. Die m\u00fcssen doch wenigstens von zu Hause weggelaufen sein. Stell dir vor, ’ne Tochter, die sich nackt zeigt. Das gibt’s doch nicht. Und du willst sie auch noch kennen.\u201c
\n\u201eDu wirst ja sehen. Nachher gehen wir nach nebenan.\u201c Seine Augen spr\u00fchen: \u201eIn ein S\u00e9par\u00e9e?\u201c
\n\u201eNein. In eine Kneipe.\u201c
\nAls wir um zwei Uhr ankommen, ist die Kneipe voll, wie immer zu dieser Stunde. An der Theke trinken vier Taxichauffeure Rotwein und reden:
\n\u201eHast du den gro\u00dfen Charles \u00a0auf dem Bildschirm gesehen?\u201c
\n\u201eWenn du mich fragst: Brigitte Bardot w\u00e4re mir lieber als der Pr\u00e4sident.\u201c
\n\u201eDie s\u00e4h‘ dufte aus als Marianne.\u201c
\n\u201eQuelle force de frappe \u2013 Was f\u00fcr eine Bombe!\u201c
\n\u201eDa brauchten wir keine Atombomben mehr. Mit BB sind Kennedy und Chruschtschow k.o.\u201cEtwas weiter stehen zwei Arbeiter. Sie sehen d\u00fcster aus. Besonders der dickere scheint reif f\u00fcr einen Sprung in die Seine. Wenn man sich in Paris umbringen will und etwas auf sich h\u00e4lt, geht man in die Seine.
\n\u201eKomm nach Hause\u201c, sagt der eine.
\n\u201eUnm\u00f6glich.\u201c
\n\u201eDeine B\u00fcrgerin wird verr\u00fcckt vor Sorge.\u201c
\n\u201eUnm\u00f6glich.\u201c
\n\u201eEs ist doch nicht schlimmer als sonst.\u201c
\n\u201eDoch, diesmal ist auch der Lohn hin. O, la pute \u2013 Oh, die Hure. Und dabei hat sie so gestunken, da\u00df ich das Parf\u00fcm\u00a0nicht los werde. Riech doch. Ich stinke wie ein Friseurladen. Das merkt die Alte sofort.\u201c
\n\u201eDu mu\u00dft nach Hause.\u201c
\n\u201eUnm\u00f6glich, du kennst meine Alte nicht. Die ist wie eine L\u00f6win, wenn’s um die Liebe geht.\u201c
\n\u201eNa, was kann schon passieren?\u201c
\n\u201eKann ich dir genau sagen: Zuerst kriege ich Schl\u00e4ge. Ich schlag‘ zur\u00fcck. Resultat: Sie hat ein blaues Auge. Dann muss ich in der K\u00fcche schlafen. Auf ’ner Matratze. Dann schl\u00e4ft sie mit dem ersten besten Kerl. Rache nennt sie das. Eins weniger eins ist null. Dann schlag ich nat\u00fcrlich. Und wir sind wieder vers\u00f6hnt. Bis zum n\u00e4chsten Mal. Und heute ist das n\u00e4chste Mal. Wei\u00dft du, die Liebe: Die Katze soll sie holen.\u201c
\nEr haut auf die Theke, da\u00df die Gl\u00e4ser tanzen, und bestellt noch einen Pernod.
\n\u201eDann leb‘ doch wieder allein.\u201c
\n\u201eUnd was mach‘ ich ohne die Alte? Die liebe ich.\u201c
\nIn einer Ecke stehen zwei Zuh\u00e4lter. Sie trinken Whisky und schweigen.<\/p>\n

Die Liebe ist kein Zeitvertreib<\/strong><\/p>\n

Drei T\u00e4nzerinnen sitzen an einem Tisch und essen Zwiebelsuppe:
\n\u201eIch bin verliebt.\u201c
\n\u201eIch auch.\u201c
\n\u201eUnd ich erst.\u201c
\n\u201eMeiner studiert. Der ist so gescheit.\u201c
\n\u201eMeiner ist in Algerien. Wenn er zur\u00fcckkommt, heiraten wir.\u201c
\n\u201eMeiner ist schon verheiratet. Aber was soll’s. Ich bin verr\u00fcckt nach ihm. Ich hab‘ immer von der gro\u00dfen Liebe getr\u00e4umt und jetzt ist sie da.\u201c
\n\u201eWird er sich scheiden lassen?\u201c
\n\u201eWir wollen noch warten. Wei\u00dft du, wir kennen uns erst seit vier Monaten. Nur wenn wir sicher sind, da\u00df es die gro\u00dfe Sache ist, l\u00e4\u00dft er sich scheiden.\u201c
\nWolfgang und ich sitzen in der hintersten Ecke. Er langweilt sich. Es ist schon zwei Uhr, und er hat noch nichts erlebt. Sein Franz\u00f6sisch gen\u00fcgt nicht, um dem Gespr\u00e4ch folgen zu k\u00f6nnen. Ich \u00fcbersetze.<\/p>\n

\"\"Ganz gleich, welche Formen die Liebe in Frankreich annehmen mag, zwei Drittel aller Franz\u00f6sinnen tr\u00e4umen nur von einem: von der gro\u00dfen Liebe, der guten Parie und der gl\u00fccklichen Heirat<\/em><\/p>\n

\"\"Man mag Bohemien sein, Student oder K\u00fcnstler, kein Haus haben, um seine Liebe zu verstecken, und auf Zeitung flirten, \u2013 der Einfallsreichtum in Frankreich ist ohne Grenzen<\/em><\/p>\n

\u201eDie genieren sich gar nicht\u201c,meint er.
\n\u201eVorteile einer\u00a0Millionenstadt. Niemand kennt dich.\u201c
\n\u201eUnd die reden alle nur \u00fcber Liebe. Hier denkt man an nichts anderes. Du siehst, ich hab‘ recht.\u201c
\n\u201eJa, nur nimmt man sie sehr ernst. Die lieben nicht aus Zeitvertreib oder weil es gerade mal Spa\u00df macht. Soll ich dir ein offenes Geheimnis verraten: Die Franz\u00f6sinnen glauben an die gro\u00dfe Liebe. Laut Meinungsumfrage 76 Prozent.\u201c
\n\u201eDonnerwetter.\u201c
\n\u201eUnd dabei gelten hier die Deutschen als sentimental. Alles Legenden. Genau wie O l\u00e0 l\u00e0 \u2013 Paris und so.\u201c
\nWolfgang h\u00f6rt gar nicht mehr zu. Er hat sich zu den M\u00e4dchen hin\u00fcbergebeugt und versucht zu verstehen.
\n\u201eIch will nicht auf den Knien eines B\u00fcrovorstehers landen\u201c, sagt eine. \u201eLieber schufte ich bis ein Uhr nachts. Die heiraten dich doch nie.“
\n\u201eSelbst wenn. Ein sch\u00f6ner Zeitvertreib im Hause eines feinen Herrn sein? Nein, danke. Dann lieber \u2013 oh, da kommt er.\u201c Das M\u00e4dchen mit der Stupsnase springt dem jungen Mann an den Hals. Sie k\u00fcssen sich, lange, als seien sie ganz allein. Dann k\u00fc\u00dft er die beiden anderen M\u00e4dchen auf die Backen und setzt sich zu ihnen.<\/p>\n

\"\"<\/p>\n

In der internationalen Atmosph\u00e4re der Pariser Kellerlokale wird die Liebe gar nicht leicht genommen. Ob man sie akzeptiert, sie verweigert, sie in Frage stellt \u2013 sie bleibt das Hauptproblem<\/span><\/em><\/p>\n

\"\"<\/i><\/span><\/p>\n

Verlorene Kinder der jungen Generation: Sie lehnen die\u00a0<\/i><\/span>Liebe arrogant ab. Sie pfeifen auf Z\u00e4rtlichkeit und Gef\u00fchl. Aber gerade sie sind es,\u00a0\u00a0<\/i><\/span>die Liebe am n\u00f6tigsten brauchen<\/i><\/span><\/p>\n

Komfort mu\u00df keine S\u00fcnde sein<\/strong><\/p>\n

\u201eH\u00fcbsch sind die nicht\u201c, meint Wolfgang.
\n\u201eDie wenigsten Franz\u00f6sinnen sind h\u00fcbsch. Das ist noch so eine Legende. Die Franz\u00f6sinnen sind weder h\u00fcbscher noch eleganter als andere Frauen. Ich m\u00f6chte fast sagen: im Gegenteil. Aber sie haben Charme. Und sie heucheln nicht. Als die Engl\u00e4nder 1944 in Frankreich landeten, gaben sie jedem Soldaten den Knigge des Befreiers mit in den Rucksack. Darin konntest du lesen: \u201aWenn eine Franz\u00f6sin dich mit auf ihr Zimmer nimmt, dann ist sie nicht unmoralischer als eine Engl\u00e4nderin, die zum gleichen Zweck mit dir ins Freie f\u00e4hrt: Franz\u00f6sinnen lieben Komfort.‘ \u2013 Aber es ist noch mehr: Alles oder gar nichts. Die Liebe ist viel zu wichtig. Wenn sie sich schon entschlossen haben, dann auch ganz und richtig. Nicht wie in jene M\u00e4dchen, die sich irgendwo \u00fcberraschen lassen und denken: \u201aUm Gottes willen, es darf doch nicht vors\u00e4tzlich geschehen. Was w\u00fcrde er von mir denken.‘ Und vor sich selbst will man ja auch eine kleine Ausrede haben: \u201aEs hat einen \u00fcberw\u00e4ltigt‘, \u201aman ist verf\u00fchrt worden‘. Quatsch, sagen da die Franz\u00f6sinnen, diese Heuchelei machen wir nicht mit. Wenn schon, denn schon. Wenn ich einen Mann liebe, dann will ich ihn auch richtig lieben, und nicht wie eine Diebin. Daher kommt sicher der Ruf der Franz\u00f6sinnen. Aber eben deshalb ist es viel schwerer, sie zu verf\u00fchren als die Frauen aus dem Norden.\u201c
\n\u201eWeshalb bin ich nur nach Paris gekommen\u201c, st\u00f6hnt Wolfgang. \u201eUm Nicole zu sehen. Hier kommt sie.\u201c
\n\u201eDieses unscheinbare Ding im Regenmantel. Du spinnst wohl?\u201c
\nVon weitem sieht Nicole alles andere als bet\u00f6rend aus. Sie hat sich abgeschminkt und ist bla\u00df wie ein Aspirin. Ihre Haare h\u00e4ngen wirr um den Kopf. Sie ist klein und schm\u00e4chtig. Was \u00fcbrig bleibt, sind die gr\u00fcnen Augen, die wie Peitschenschl\u00e4ge um sich knallen. Als sie n\u00e4her kommt, f\u00e4hrt Wolfgang unter dem ersten Hieb zusammen.
\nW\u00e4hrend sie mich mit einem fl\u00fcchtigen Ku\u00df begr\u00fc\u00dft, tritt er mir gegen das Schienbein und fl\u00fcstert:
\n\u201eIch hab nichts gesagt. Sie ist noch toller als nackt. Sprachunterricht. Vergi nicht. Nur Sprachunterricht.\u201c
\nEr springt hoch und begr\u00fc\u00dft sie feierlich.
\n\u201eSch\u00f6n, da\u00df ich dich mal wieder sehe\u201c, sagt sie zu mir. \u201eDu vergi\u00dft nicht. Immer noch auf Reisen?\u201c
\n\u201eImmer.\u201c
\n\u201eDer ewige Matrose ohne Wasser.\u201c
\n\u201eUnd du, Nicole?\u201c
\n\u201eFast gl\u00fccklich\u201c, sagt sie mit trauriger \u00a0Stimme.<\/p>\n

Nackt nur bei der Arbeit<\/strong><\/p>\n

Ich frage, was los ist. Sie weicht aus und spricht von vielen belanglosen Dingen. Ich komme immer wieder darauf zur\u00fcck. Sie blickt fragend auf Wolfgang.
\n\u201eEin Freund\u201c, sagte ich. \u201eDu hast mir immer dein Herz ausgesch\u00fcttet. Was hei\u00dft: fast gl\u00fccklich?\u201c
\n\u201eEr hat einen gro\u00dfen Fehler.\u201c
\n\u201eWer?\u201c
\n\u201eMein Freund nat\u00fcrlich. \u2013 Er will mich nackt sehen\u201c, sagt sie, und Tr\u00e4nen treten in ihre Augen.
\nIch versuche ihre Augen zu trocknen. Sie l\u00e4\u00dft den Kopf fallen, auf meinen Arm, und weint, weint richtig.
\n\u201eAber Nicole, ist das nicht verst\u00e4ndlich? Er liebt dich.\u201c
\n\u201eNein, Gordian nein\u201c, ruft sie. \u201eVersuch doch zu verstehen. Auf der B\u00fchne bin ich eine abstrakte Figur. Was die Leute hineindenken, ber\u00fchrt mich nicht. Man hat bestimmt, da\u00df ich sch\u00f6n sei. Gut. Aus Marmor, aus \u00d6lfarbe oder aus Fleisch und Blut. F\u00fcr mich ist es das Gleiche. Ich habe ebenso wenig Beziehung zum Zuschauer wie eine Statue zu ihren Bewunderern. Und ich verdiene mein Brot. Wenn Jacques aber will, da\u00df ich mich ausziehe, damit er mich bewundern kann, dann sch\u00e4me ich mich. Dann k\u00f6nnte ich in den Boden versinken. Versteh doch. Dann geht es um mich, Nicole, und nicht mehr um eine kalte Figur. Dann wird ein Zuschauer pl\u00f6tzlich ein begehrender Mensch. Ach, ich kann es nicht erkl\u00e4ren. Ich wei\u00df nur, da\u00df es mich ungl\u00fccklich macht und mir auch die Arbeit verleidet. Ich habe immer Angst, Jacques versteckt sich zwischen den Zuschauern. Aber ich mu\u00df durchhalten. Mein Vater ist alt. Er kann nicht mehr arbeiten. Und ich mu\u00df meine Stunden bezahlen. Ich habe tolle Fortschritte gemacht, wei\u00dft du. Ich bin fast eine gro\u00dfe T\u00e4nzerin. Ich \u00fcbe jeden Tag zwei Stunden im Studio Wacker. Wei\u00dft du noch\u2026\u201c
\nJa. Dort hatte ich Nicole kennengelernt. In einem Tanzkursus, wo eisern gearbeitet wird, wo die Stars, Starlets und Statisten der Theater und Nachtlokale produziert werden. Dies sind die wirklichen Kulissen des \u201eGai Paris\u201c: junge Menschen, die an ihren Beruf, ans Tanzen, glauben. Ich habe selten eine saubere Atmosph\u00e4re kennengelernt, niemals Menschen and\u00e4chtiger arbeiten gesehen als in diesen Studios. Dagegen sind B\u00fcros Intrigenst\u00e4lle und unfl\u00e4tige S\u00fc\u00dfholzm\u00fchlen.<\/p>\n

\"\"Paris gilt als das Zentrum einer billigen Erotik f\u00fcr Einsame und Touristen. Die gewagten Schauspiele der Vergn\u00fcgungsindustrie st\u00fctzen sich auf die Arbeit junger Menschen, die eisern in Tanzstudios trainieren und nur selten etwas mit diesem Gewerbe zu tun haben<\/strong><\/i><\/span><\/p>\n

\"\"<\/p>\n

Nat\u00fcrlich tr\u00e4umen sie alle davon, Stars zu werden. Und sie arbeiten daf\u00fcr. Verbissen. Denn Tanzen und Musik sind die einzigen Berufe des Showbusiness, bei denen man nicht mogeln kann. Man mu\u00df was k\u00f6nnen. Es gen\u00fcgt nicht, die Freundin des Managers zu werden oder einen imposanten Busen \u00fcber dem Parkett zu hissen. Und die gro\u00dfe Ballerina trainiert neben der Nacktt\u00e4nzerin vom Pigalle. Sie sind Schwestern. Gestern war der Star auch nur ein Revuegirl.
\nSie geh\u00f6ren nicht zum Paris der Touristen, Einsamen und Perversen. Jenes Paris geh\u00f6rt den Zuh\u00e4ltern und Huren, die wie Ungeziefer \u00fcber die Arbeit dieser jungen Menschen kriechen. Was aus den Studios kommt, ist sauber. Selbst wenn es halbnackt tanzt, wie Nicole.
\nSie hat jetzt zwei Zwiebelsuppen bestellt und gie\u00dft sie vorsichtig in einen Kochtopf, den sie unter Zeitungen in einem Einkaufsnetz versteckt hatte.
\n\u201eF\u00fcr Jacques\u201c, sagt sie. \u201eIch will nicht allein essen. Kommt ihr mit? Vater wird sich freuen, wenn er dich mal wieder sieht.\u201c
\nWir lassen noch zwei Zwiebelsuppen hinzugie\u00dfen
\nWolfgang murmelt irgendwas von hierbleiben, Zeit ausnutzen, die T\u00e4nzerin dr\u00fcben und vielleicht doch mal versuchen\u2026
\nIch sage, da\u00df es sinnlos sei \u2013 oder er m\u00fcsse sich mit dem \u201eUngeziefer\u201c einlassen.
\nEr flucht und kommt mit. Er flucht noch mehr, als wir sechs Stockwerke \u00fcber morsche Treppen zu Fu\u00df machen m\u00fcssen. Zwischen jeder Etage eine T\u00fcr mit einem Herzen. Manche stehen offen. Es stinkt.
\n\u201e’ne arme Gegend\u201c, meint Wolfgang.
\n\u201eIm Gegenteil hier m\u00f6chten viele wohnen, am Ufer der Seine. In Paris mu\u00dft du lange suchen, bis du Fahrstuhl und Badezimmer findest. Frankreich ist ein altes Land. Als diese H\u00e4user gebaut wurden, glaubte man doch nicht an Hygiene. Die haben die Franzosen erst nach dem Krieg entdeckt.\u201c
\nWir kommen endlich an. Au\u00dfer Atem. Nicoles Vater wartet, wie jede Nacht. Er spielt Schach. Mit Jacques. W\u00e4hrend wir die Zwiebelsuppe essen, wird \u00fcber Gott und die Welt geredet.
\n\u201eDie beiden wollen erst heiraten, wenn sie eine eigene Wohnung haben\u201c, sagt der Vater. \u201eDeshalb hab ich Jacques aufgenommen. Ich will nicht, da\u00df meine Tochter sich verstecken mu\u00df, um gl\u00fccklich zu sein. Aber mit der Wohnung k\u00f6nnen sie lange warten. Gestern erst habe ich gelesen, da\u00df f\u00fcnfzig Prozent unserer jungen Paare bei den Eltern wohnen m\u00fcssen. Drei\u00dfig Prozent \u00a0haben nur einen Raum, f\u00fcnfzehn ein m\u00f6bliertes Zimmer, und nur f\u00fcnf Prozent wohnen, wie es sich f\u00fcr verheiratete Leute geh\u00f6rt. Es ist ein Skandal. Wie soll das die Liebe f\u00f6rdern. Die Regierung mu\u00df H\u00e4user bauen, anstatt Kriege zu f\u00fchren.\u201c
\nAls ich Wolfgang um vier Uhr morgens in seinem Hotel absetze, st\u00f6hnt er:
\n\u201eDu willst mir doch nicht vormachen, da\u00df ganz Frankreich so lebt und denkt.\u201c
\n\u201eNat\u00fcrlich nicht. Aber was du gesehen hast, ist typisch franz\u00f6sisch. Wie \u00fcberall auf der Welt, kannst du hier Frauen bekommen, vom Dienstm\u00e4dchen bis zur Gr\u00e4fin. Es gibt alles, und noch mehr. Aber es gibt einen beherrschenden Trend, den hab ich dir gezeigt. Und nun am\u00fcsiere dich. Gute Nacht.\u201c<\/p>\n

Wer ausprobiert, wird nicht geschieden<\/strong><\/p>\n

Die \u201etypisch franz\u00f6sische\u201c Einstellung ist trotz aller Freiheit recht b\u00fcrgerlich. Verlobung, Hochzeit, sozialer Aufstieg und Geborgensein sind die gro\u00dfen Meilensteine des Gl\u00fccks. Heute heiratet man fr\u00fcher, als es die Eltern taten. Es mu\u00df in \u201eWei\u00df\u201c sein und mit gro\u00dfem Aufwand. Der Nachbar soll staunen. Studentenehen h\u00e4ufen sich. Jungfr\u00e4ulichkeit ist schon lange kein Problem mehr. Von hundert Erstgeburten kommen f\u00fcnfundzwanzig schon fr\u00fcher als acht Monate nach der Eheschlie\u00dfung auf die Welt. Das hei\u00dft, da\u00df ein Viertel aller Franzosen heiratet, weil \u2013 oder wenn sie schon ein Kind erwarten. Experimentieren vor der Ehe gilt als Garantie f\u00fcr gute Harmonie. Scheidungen sind deshalb selten. Frankreich steht damit in der Welt erst an sechszehnter Stelle. Die h\u00e4ufigsten Gr\u00fcnde: Alkoholismus, schlechter Charakter, zu gro\u00dfe Angelleidenschaft, Laster, Zusammenleben mit den Schwiegereltern.
\nIn Frankreich werden j\u00e4hrlich 800.000 Kinder geboren und sch\u00e4tzungsweise 400.000 Abtreibung durchgef\u00fchrt.
\nDie meisten Ehepaare sind der Meinung, da\u00df man sich alles sagen mu\u00df, jedoch nicht alles gestehen soll. Untreu sind viele. Die Frauen behaupten, es sofort zu merken: \u201eEr war heute so selbstsicher.\u201c \u2013 \u201eEr hat das Geschirr gesp\u00fclt.\u201c \u2013 \u201eWir waren mal im Kino.\u201c
\nEifers\u00fcchtig? Ja, die Franzosen reagieren heftig auf Untreue. \u201eSechs Kugeln in den Bauch.\u201c \u2013 \u201eIch bring sie um\u201c \u2013 \u201eIch rei\u00df‘ ihm die Augen aus\u201c, sind die ersten Ausbr\u00fcche der Wut. Aber dann geht es meistens glimpflich ab. Leben und leben lassen. Viele wissen, da\u00df wenige es mit der Treue sehr genau nehmen.
\nAlle Franzosen flirten. Die M\u00e4dchen beginnen mit 15, die Jungen mit 16. Bis zu 17 Jahren sind viele \u00fcberzeugt, da\u00df der Flirt bereits die Liebe ist. Nachher sagen die M\u00e4dchen: Der Flirt h\u00f6rt auf, wenn der Junge anf\u00e4ngt, die Rippen zu z\u00e4hlen. Es wird bis ins hohe Alter geflirtet. Selbst auf dem Lande. \u201eDie einzige Abwechslung\u201c, sagen die Bauern, \u201ewir haben kein Kino.\u201c
\nWenn die Eltern unter sich sprechen, finden sie es gro\u00dfartig, da\u00df junge Menschen flirten. Wenn sie ihre eigenen Kinder dabei ertappen, hei\u00dft es : \u201eTaugenichtse. Anstatt zu arbeiten. Sch\u00e4mt euch.\u201c \u2013 Frankreich ist stolz darauf, die Wiege der Vernunft zu sein, und man gibt sich alle M\u00fche, es zu zeigen. Jeder ist gro\u00dfz\u00fcgig und tolerant. Wenn es ihn jedoch direkt angeht, gehen die sch\u00f6nen Prinzipien oft in die Br\u00fcche. \u201eN<\/p>\n

eger heiraten. Nat\u00fcrlich. Warum nicht?\u201c \u2013 Aber bitte nur die T\u00f6chter anderer Eltern.
\nSo sieht Frankreich heute aus. Laut Meinungsumfragen.<\/p>\n

\"\"<\/p>\n

In den D\u00f6rfern sind M\u00e4dchen ebenso frei wie in Paris. Das Vorbild liefern Film und Fernsehen<\/i><\/span><\/strong><\/p>\n

\"\"Junge Pariserinnen aus dem Volk lieben Hosen \u2013 f\u00fcr manche ein Zeichen der Ungebundenheit<\/strong><\/i><\/span><\/p>\n

Sexualit\u00e4t: eine Sprache ohne Worte<\/strong><\/p>\n

Darunter grollt eine neue Welle. Viele sprechen bereits von einer \u201esexuellen Revolution\u201c \u2013 und leben sie. Die Hintergr\u00fcnde sind:
\ndie fortschreitende Zertr\u00fcmmerung der sexuellen Tabus;
\n– die wirtschaftliche Unabh\u00e4ngigkeit der modernen Frau;
\n– die Erkenntnis der Frau, da\u00df ihr Erbl\u00fchen von der Qualit\u00e4t ihrer k\u00f6rperlichen Entspannung abh\u00e4ngt;
\n– die Erfindung sicherer Mittel zur Empf\u00e4ngnisverh\u00fctung;
\n– die Gro\u00dfstadt, in der die Familie ihre zentrale Rolle verliert;
\n– die Sinnlosigkeit einer materialistischen Zivilisation;
\n– die Bedeutungslosigkeit der menschlichen Person in der modernen Gesellschaft;
\n– die Heuchelei der b\u00fcrgerlichen Moral<\/p>\n

Das Ergebnis:<\/p>\n

Die Sexualit\u00e4t wird immer weniger eine soziale Funktion der Fortpflanzung und immer mehr zum Ausdrucksmittel der Pers\u00f6nlichkeit. Nur noch das. Eine Sprache ohne Worte. Ein Alphabet, mit dem man alles schreiben kann: Romane, Leitartikel, Gedichte \u2013 und die Zukunft.
\nSolange die Sexualit\u00e4t als schmutzig und s\u00fcndhaft verrufen und verboten war, konnte sie nur eine Versuchung werden, ein qu\u00e4lender Wahn, dem man heimlich seine falschen Prinzipien opferte. Jetzt erh\u00e4lt sie den Rang, der ihr zusteht. Sie wird rein und echt.
\nSo denken viele in Frankreich, und man spricht bereits von einer \u201eneuen Religion\u201c. Danach steht es jedem zu, seine sexuelle Moral selber zu erfinden, im Einklang mit seiner Pers\u00f6nlichkeit. Genau wie Blick, Gang und Handschrift, soll die Sexualit\u00e4t nichts anderes werden als der Ausdruck einer bestimmten inneren Haltung, ein bewu\u00dft akzeptierter Teil seiner selbst, ohne falsche Scham, ohne Betrug, ohne die \u00fcbliche Heuchelei und die daraus entstehende Entartung.
\nEs ist das Ende des sexuellen Aberglaubens. Wir verlassen endlich das Mittelalter der Liebe. An Stelle von Leidenschaft und dunklem Drang tritt Z\u00e4rtlichkeit, an Stelle von verschwommener Sentimentalit\u00e4t bewu\u00dfte Partnerschaft. Man will den anderen nicht mehr besitzen \u2013 man will ihn lieben.
\nDie Wortf\u00fchrer dieser Revolution sind nicht Schriftsteller, K\u00fcnstler oder Linksintellektuelle. Es sind Priester der katholischen Kirche, Beichtv\u00e4ter, die den Puls der Jugend sicher besser f\u00fchlen als Psychologen, Fach\u00e4rzte und Eltern.
\nSie sehen in Brigitte Bardot, in den Helden einer Fran\u00e7oise Sagan, in den Millionen J\u00fcngern von James Dean, die l\u00e4chelnd oder grimmig die alte Moral zertreten, keine entgleisten Kinder, sondern Menschen, die den moralischen Konflikt unserer Zeit schmerzlich erleben. Sie sind die Helden der gr\u00f6\u00dften Revolution aller Zeiten.<\/p>\n

Was ist Leben? \u201eNicht allein sein\u201c<\/strong><\/p>\n

Man mu\u00df sich damit abfinden, meinen sie, da\u00df heute \u00fcber die H\u00e4lfte der siebzehnj\u00e4hrigen M\u00e4dchen nicht mehr Jungfrau ist und viele es laut verk\u00fcnden. Bald wird es niemand mehr sein. Man mu\u00df sich damit abfinden, da\u00df sie mit achtzehn schon mehrere Liebhaber hatten. Es ist nutzlos zu jammern. Die Entwicklung ist unaufhaltsam. Die jungen Menschen sind auf der Suche nach Ehrlichkeit. Und die \u201everlogene Generation\u201c soll nicht versuchen, sie zu ihrem Laster herabzuziehen: zur L\u00fcge. Anstatt vorwurfsvoll auf l\u00e4cherliche Prinzipien zu pochen, sollte sie ihnen den Sinn dieser Revolution klarmachen. Heute noch. Sofort. Denn zeitig gelenkt, kann sie endlich zu jenem Ziel f\u00fchren, da\u00df alle offiziell anstreben, aber immer wieder verraten haben: die wahre Liebe.
\nNat\u00fcrlich gibt es, wie bei allen Umw\u00e4lzungen, auch Verirrungen und Exzesse. F\u00fcr viele ist die Sexualit\u00e4t zun\u00e4chst nur eine Zuflucht, die letzte Schanze gegen eine erdr\u00fcckende unerkl\u00e4rliche Umwelt. Sie f\u00fchlen sich verloren und ergreifen sie als das einzige Mittel zur Selbstbest\u00e4tigung.
\nIm Alltag sieht das so aus:
\n\u201eSalut Suzanne.\u201c
\n\u201eTag, Andr\u00e9.\u201c \u2013 Ein kurzer Ku\u00df. Suzanne geht weiter.
\n\u201eSalut Suzanne.\u201c
\n\u201eTag, George.\u201c Ein kurzer Ku\u00df. Suzanne geht weiter.
\n\u201eSalut Suzanne.\u201c
\n\u201eTag, Ren\u00e9.\u201c
\nEin Ku\u00df. Die Musik spielt. Suzanne beginnt zu tanzen. Allein. Sie schl\u00e4ngelt sich zwischen den Tischen durch. Auf der Tanzfl\u00e4che sind schon sieben junge Leute. Keine Paare. Vier M\u00e4dchen. Drei Jungen. Jeder tanzt f\u00fcr sich. Langsamer, Amsterdamer Twist.
\nEin Junge geht auf ein M\u00e4dchen zu. Sie tanzen zusammen. Entspannt. Fast gelangweilt. Ein anderer kommt hinzu. Sie tanzen zu dritt. Wenige Minuten nur. Dann sucht der Erste eine neue Partnerin. Bald gibt es Gruppen von vier und f\u00fcnf, die zusammen tanzen, sich wieder aufl\u00f6sen, sich mischen.
\nSuzanne hat schon vier Mal den Partner gewechselt. Jetzt tanzt sie mit einem M\u00e4dchen. Zwei Jungen n\u00e4hern sich. Jeder nimmt eine von ihnen. Die scheinbare Gel\u00f6stheit verschwindet. Sie stampfen den Boden. Sie ber\u00fchren sich, umarmen sich. Sie tanzen eng umschlungen mit geschlossenen Augen. Drei\u00dfig Sekunden, vielleicht vierzig. Dann ist der Charme gebrochen. Sie trennen sich, tanzen allein weiter und suchen oder warten auf neue Partner.
\nIch habe den Eindruck, einem Ballett zuzusehen mit r\u00e4tselhaften Regeln, dem mysteri\u00f6sen Ritus einer neuen Sekte. Und dabei sehen diese Menschen ganz normal aus. Es sind keine Halbstarken, keine Kellerintellektuellen. Nein, korrekt gekleidete junge M\u00e4nner, elegante M\u00e4dchen. Angestellte, Sekret\u00e4rinnen, Verk\u00e4uferinnen. Durchschnittliche junge Leute aus Paris.
\nSuzanne sitzt jetzt mit einem jungen Mann an einem Tisch. Er streichelt ihren Arm, zupft an den kleinen H\u00e4rchen. Seine Finger fahren z\u00e4rtlich \u00fcber ihr Gesicht. Sie studieren das Gr\u00fcbchen am Kinn, die hohe Stirn, die vorstehenden Backenknochen und schlie\u00dflich spielerisch die Wimpern \u00fcber den gro\u00dfen schwarzen Augen. Susanne nimmt den Kopf des Jungen zwischen ihre H\u00e4nde und sucht seinen Mund. Niemand beachtet sie. Selbst der junge Mann, der eben noch leidenschaftlich mit ihr getanzt hat, geht vor\u00fcber, ohne auch nur einen Blick auf sie zu werfen.
\nEine neue Melodie erklingt. Suzanne steht wieder auf. Auch ich n\u00e4here mich der Tanzfl\u00e4che. Wir tanzen. Ich sage ein paar Worte. Keine Antwort. Ich sage noch etwas. Sie sch\u00fcttelt nur den Kopf und schmiegt sich eng an mich. Ich verstehe: Hier wird getanzt. \u00dcbrigens f\u00fchrt sie. Suzanne bestimmt den Rhythmus. Aus dem Swing macht sie einen Tango.
\n\u201eWenn Sie reden wollen, k\u00f6nnen wir uns setzen\u201c, sagt sie pl\u00f6tzlich. Wir setzen uns.
\n\u201eWas suchen Sie hier?\u201c fragt sie.\u00a0\u201eSie sind viel \u00e4lter als die Jungen hier.\u201c
\n\u201eEin M\u00e4dchen\u201c, sage ich scherzend. \u201eIch folge der neuen Mode: Lolita.\u201c
\nSie lacht. \u201eDas ist nicht schwer. Wenn Sie hier einem M\u00e4dchen wirklich gefallen, gibt es weder Probleme noch gro\u00dfe Geschichten. Sie brauchen auch kein Auto zu haben oder Geld.\u201c
\n\u201eDer Altersunterschied\u2026\u201c
\n\u201eUnwichtig. Im Gegenteil. Junge M\u00e4nner k\u00f6nnen so bl\u00f6d und aufdringlich sein.\u201c
\n\u201eUnd was suchen Sie hier?\u201c frage ich.
\nSie blickt erstaunt. \u201eKomische Frage. Ich habe heute meinen freien Tag. Ich arbeite bei einem Juwelier. Montags ist geschlossen. Soll ich etwa zu Hause stricken oder H\u00f6schen waschen, bis die Arbeit wieder losgeht?\u201c
\n\u201eLesen, zum Beispiel.\u201c
\n\u201eL\u00e4cherlich. Ich will leben. Selber. Nicht aus zweiter Hand.\u201c\u201eWas ist Leben?\u201c\u201eNicht allein sein.\u201c
\nDie Musik beginnt wieder. Suzanne steht auf und tanzt.\u00a0\"\"<\/p>\n

Den schwierigen Weg zum Gl\u00fcck
\ngeht man meistens nicht allein<\/strong><\/em><\/p>\n

Keine Freundschaft mit Weibern<\/strong><\/p>\n

\u201eIch hei\u00dfe Claire F. \u2026\u201c, sagt sie. Ich wohne in Paris. Place des F\u00eates. Schicken Sie mir ein Bild. Bitte\u201c
\nSie ist h\u00f6chstens sechzehn. Sehr h\u00fcbsch. Ihre Augen k\u00f6nnen \u00fcberzeugend bitten.
\nIch verspreche ihr einige Bilder.
\n\u201eWir wollen auch welche haben\u201c, sagen die drei Jungen, die ich eben fotografiert habe, wie sie mit Claire die Stra\u00dfe herunterkamen.
\nIch frage nach ihren Namen.
\n\u201eBin ich bl\u00f6d\u201c, sagt der J\u00fcngste, dessen Arm fest um Claires H\u00fcften liegt.
\n\u201eSie haben wohl ’ne Meise\u201c, meint ein anderer. Auch er h\u00e4lt Claire fest umschlungen. Von der anderen Seite.
\n\u201eWarum?\u201c will ich wissen.
\n\u201eDiese Pute soll unsere Namen nicht kennen\u201c, sagt der dritte
\n\u201eKann man\u00a0befreundeter aussehen als ihr?\u201c
\n\u201eNee, Meister. Freundschaft gibt’s nicht mit Weibern. Die sind nur f\u00fcr eins gut. Und wenn diese ’ne G\u00f6re kriegt, braucht sie nicht zu wissen von wem. Sonst gibt’s Geschichten.\u201c
\n\u201eDie wird sowieso nicht wissen von wem\u201c, grinst der erste. \u201eVon ihm, von dem oder von mir.\u201c
\nEr ist vielleicht f\u00fcnfzehn. Seine Freunde scheinen etwas \u00e4lter zu sein. Claire h\u00f6rt vollkommen unber\u00fchrt zu. Sie l\u00e4chelt sogar.
\n\u201eIhr macht Scherze\u201c, sage ich.
\n\u201eKommen Sie doch mit\u201c, meint der J\u00fcngste. \u201eJe mehr desto besser.\u201c \u2013 Er zieht das M\u00e4dchen hinter sich her. Die anderen folgen.
\n\u201eMein Bild\u201c, ruft sie noch.
\nIch nicke nur. Die Jungen haben Claire wieder in die Mitte genommen. Es sieht lustig aus. Ihr gr\u00fcner Pullover pa\u00dft gut zu den schwarzen Lederjacken. Ihre langen Haare flattern im Wind.
\nWohin gehen sie? \u2013 Sie fliehen in panische Angst vor sich selbst. Sie suchen Bet\u00e4ubung. Aber nur nicht allein sein mit einer Frau; gef\u00fchllos bleiben, um jeden Preis, sonst wird das Leben unertr\u00e4glich. Weil sie nie Z\u00e4rtlichkeit gekannt haben und sie verzweifelt brauchen, k\u00f6nnen sie sie weder schenken noch ertragen. Hier wird Sexualit\u00e4t zur Sackgasse der Sinnlosigkeit. \u2013 Ich habe viele solcher M\u00e4dchen und Jungen getroffen. Sehr oft ist es schlimmer, als ich beschrieben habe. \u2013 Eines Tages traf ich einen Jungen, der wie verr\u00fcckt weinte; zusammengebrochen in seiner Lederjacke. Er war alleine gewesen mit einem M\u00e4dchen. Er liebte.<\/p>\n

Franzosen fahren besser Auto<\/strong><\/p>\n

\u201eDeutsche M\u00e4dchen, mein Lieber. Ich kann nur sagen: deutsche oder skandinavische.\u201c
\nRoger nagt vertr\u00e4umt an seinem Whiskyglas. Die Kapelle spielt einen Slow. Er scheint bei bester Laune.
\n\u201eBei Franz\u00f6sinnen mu\u00df man meistens lange warten. Aber bei Deutschen. Na, was soll ich dir erz\u00e4hlen. Du kommst aus Deutschland.\u201c
\n\u201eWei\u00dft du\u2026\u201c
\n\u201eSchon gut. Dr\u00fcben kenn‘ ich mich aus. Aber was die deutschen M\u00e4dchen in Paris treiben. Viertausend sind hier. Mensch! Unter uns Studenten gibt es nur noch einen Kriegsruf: europ\u00e4ische Integration. Ich kann schon vierzig Worte deutsch. Erster Satz: \u201aSei nicht sauer, S\u00fc\u00dfe, sei z\u00e4rtlich‘.“
\nEr winkt einem Paar zu, das an uns vor\u00fcbertanzt.
\n\u201eAuch eine Deutsche\u201c, sagte Roger. \u201eWenn du mich fragst: Es ist nat\u00fcrlich nicht dasselbe. Die haben oft wollene Unterw\u00e4sche, stell dir vor, Bauchw\u00e4rmer und so’n Zeug. Mit achtzehn Jahren. Sexy sind eigentlich nur die Augenaufschl\u00e4ge, und die Beine. Aber es geht so schnell. Junge.\u201c Er blickt auf. \u201eDa ist schon wieder eine. Leider in Begleitung.\u201c
\n\u201eWolfgang\u201c, sage ich.
\n\u201eWas hei\u00dft: Wolfgang?\u201c
\n\u201eDer Mann mit der Deutschen. Ein Bekannter.\u201c
\nSie kommen an unseren Tisch. Wir laden sie ein. Wolfgang stellt vor: Karin.
\n\u201eHat sich das Leben doch noch organisiert?\u201c frage ich.
\n\u201eWie du siehst\u201c, meint er.
\n\u201eHeimatliche Gefilde?\u201c
\n\u201eWarum nicht?\u201c
\nWir reden und tanzen. Als Roger bei seinem f\u00fcnften Whisky angekommen ist, fragt er pl\u00f6tzlich:
\n\u201eWas halten Sie von den Franzosen, Karin?“
\n\u201eSie sind charmant.\u201c
\n\u201eBla-bla \u2013 ich will mehr wissen. Gibt es einen Unterschied mit den Deutschen in Bezug auf die Liebe?\u201c
\nKarin wird rot: \u201eSicher \u2013 ja \u2013 es ist schwer zu definieren.\u201c
\n\u201eDann will ich es Ihnen sagen\u201c, ruft er. \u201eDie Deutschen lieben genauso, wie sie Autofahren: stur und brutal. Sobald sie gr\u00fcnes Licht haben, dr\u00fccken sie auf den Gashebel und brummen drauflos. Fu\u00dfg\u00e4nger m\u00fcssen einfrieren. Bummler werden angep\u00f6belt. Vertrauensselige \u00fcberrannt. Sie kennen nur einen Gott: das Reglement. Wenn sie Recht haben, sterben Achtung und Aufmerksamkeit f\u00fcr den anderen Menschen. Stimmt’s? \u00dcbertragen Sie das auf die Liebe, und Sie wissen, was ich meine.\u201c
\nKarin hat mit gesenktem Kopf zugeh\u00f6rt.
\n\u201eHaben Sie uns schon mal Auto fahren gesehen?\u201c fragt er sie.
\n\u201eJa\u201c, sagt Karin.
\n\u201eIch glaube, wir sollten gehen\u201c, meint Wolfgang<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Stern, Heft 29, 22. Juli. 1962 \u201eMein Auto f\u00fcr diese Frau.\u201c \u201eWelche?\u201c \u201eDie nackte\u2026\u201c \u201eSie sind alle nackt, mehr oder weniger.\u201c \u201eNa, die nackteste. Die ganz links mit den Pfundsh\u00fcften.\u201c \u201eNicole?\u201c \u201eWas hei\u00dft Nicole? Du kennst sie?\u201c \u201eWarum nicht?\u201c \u201eAngeber.\u201c \u201eIch kenne die ganze Familie.\u201c Mein Freund Wolfgang kratzt sich am Kopf. Er scheint pl\u00f6tzlich…<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":55394,"parent":54081,"menu_order":3,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":{"_seopress_robots_primary_cat":"","_seopress_titles_title":"","_seopress_titles_desc":"","_seopress_robots_index":"","footnotes":""},"categories":[503],"tags":[],"class_list":["post-54086","page","type-page","status-publish","has-post-thumbnail","hentry","category-frankreich","entry","has-media"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54086"}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/types\/page"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/users\/1"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=54086"}],"version-history":[{"count":3,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54086\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":63119,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54086\/revisions\/63119"}],"up":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54081"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media\/55394"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=54086"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=54086"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=54086"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}