{"id":54087,"date":"2017-03-11T14:10:25","date_gmt":"2017-03-11T13:10:25","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=54087"},"modified":"2024-02-11T12:37:09","modified_gmt":"2024-02-11T11:37:09","slug":"eine-kleine-stadt-in-frankreich","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/unser-nachbar-frankreich\/eine-kleine-stadt-in-frankreich\/","title":{"rendered":"Eine kleine Stadt in Frankreich V"},"content":{"rendered":"
Stern, Heft 30, 29. Juli. 1962 \u201eDer Baum mu\u00df weg.\u201c Ich schaue mir die Sachlage an. Der junge Dufour hat zweifellos recht. Auf weiter Flur gibt es nur diesen einen Baum. Und er steht ausgerechnet so verzwickt am Eingang der Felder, da\u00df der nagelneue Traktor, den Dufour Junior soeben drohend unter die kranken \u00c4ste gefahren hat, nicht durchkommen kann. Ich mu\u00df ihm zustimmen. Wenn er jemals seine \u00c4cker mit dem Traktor bestellen will, muss der Baum weg. Aber wie soll ich es sagen, ohne den alten Herren zu kr\u00e4nken: Eile ist ein schlechter Koch<\/strong><\/p>\n Sonntags wird endlich richtig gegessen. Aber vorher mus\u00dfder Dreck der Woche herunter. Herr Dufour nimmt einen rauen Waschlappen, taucht ihn in hochprozentigen Branntwein und reibt seinen ganzen K\u00f6rper damit ab, bis er rot wird. Dann geht es an die Vorbereitung der Mahlzeit, die man schon seit Tagen bespricht. Alle helfen. Herr Dufour \u00fcberwacht: \u201eMacht nur langsam\u201c, sagt er alle zehn Minuten. \u201eEile ist ein schlechter Koch\u201c. Cherchez la femme<\/strong><\/p>\n \u201eWas gibt’s sonst Neues?\u201c Schmales Foto zwischen den Spalten mit zwei alten Damen in Schwarz vor einem Herren Frisiersalon.<\/em> Als wir an der Kirche vorbeifahren, l\u00e4uten die Glocken zu einem Begr\u00e4bnis. Vierzig M\u00e4nner in Schwarz stehen vor dem Eingang. Die Jungen fliehen das Land<\/strong><\/p>\n \u201eGibt es eine beneidenswertere Lage?\u201c fragt Herr Blondel. \u201eUnd keine Sorgen um Vieh, Wetter, Rentabilit\u00e4t und Gott wei\u00df was. \u2013 Nun schauen Sie sich die Bauern an. 200 Franken (160 Mark) im Monat gilt als sch\u00f6ner Verdienst. Manche Monate gibt es gar nichts. Nur Ausgaben. Bei Krankheiten m\u00fcssen sie selber blechen. Es ist ein Hundeleben. Schuften, bis sie ins Gras bei\u00dfen. Die Kinder verlassen das Land, weil es keine Zukunft und wenig Verdienst verspricht. Sie werden Postboten, Angestellte oder Lehrer und Beamte. Das Durchschnittsalter der aktiven Bauern liegt in unserer Gegend bei 65 Jahren. Haben Sie schon einen jungen Menschen auf den Feldern gesehen? Nein. Hier gibt es 120 Bauern. In zehn Jahren werden es nur noch 80 sein, weil die Kinder abhauen. Mit Recht. Die Tendenz zur Gro\u00dffl\u00e4chenwirtschaft ist unaufhaltbar. Warum nicht gleich die richtige Politik machen und vielen das Elend eines miserablen Alters ersparen?\u201c Um sechs Uhr mu\u00df ich Charles in B\u00fcrgermeisteramt abholen. Ich treffe ihn in seinem B\u00fcro hinter einem kleinen, hellen Schreibtisch. An der Wand h\u00e4ngt ein gro\u00dfes Portr\u00e4t von General de Gaulle\u2013 Kopf nach unten, Bauch nach oben. Ich gehe hin, um es umzudrehen. Der Dragoner mu\u00df raus<\/strong><\/p>\n Es bleibt nicht bei einem Schnaps. Nach dem Essen gehen Herr Dufour. Charles und ich in die Wirtschaft. Richard sitzt immer noch auf seinem Stuhl. Er ist wach, halbwegs n\u00fcchtern und i\u00dft. An der Theke stehen ein Schlachtermeister, der Schmied und der junge Garagenbesitzer von nebenan. Sie diskutieren. Stern, Heft 30, 29. Juli. 1962 \u201eDer Baum mu\u00df weg.\u201c \u201eDer Baum bleibt stehen.\u201c \u201eDann komme ich nachts mit der Axt.\u201c \u201eNur \u00fcber meine Leiche.\u201c \u201eVater, wir sind im 20. Jahrhundert!\u201c \u201eKein Grund, um nicht zu gehorchen.\u201c \u201eDer Traktor hat das letzte Wort. Er mu\u00df durch.\u201c \u201eHier nicht. Der Baum bleibt.\u201c \u201eWeil der Dragoner darunter…<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":61865,"parent":54081,"menu_order":4,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":{"_seopress_robots_primary_cat":"","_seopress_titles_title":"","_seopress_titles_desc":"","_seopress_robots_index":"","footnotes":""},"categories":[503],"tags":[],"class_list":["post-54087","page","type-page","status-publish","has-post-thumbnail","hentry","category-frankreich","entry","has-media"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54087"}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/types\/page"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/users\/1"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=54087"}],"version-history":[{"count":2,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54087\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":62641,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54087\/revisions\/62641"}],"up":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54081"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media\/61865"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=54087"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=54087"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=54087"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}
\n<\/em><\/p>\n
\n\u201eDer Baum bleibt stehen.\u201c
\n\u201eDann komme ich nachts mit der Axt.\u201c
\n\u201eNur \u00fcber meine Leiche.\u201c
\n\u201eVater, wir sind im 20. Jahrhundert!\u201c
\n\u201eKein Grund, um nicht zu gehorchen.\u201c
\n\u201eDer Traktor hat das letzte Wort. Er mu\u00df durch.\u201c
\n\u201eHier nicht. Der Baum bleibt.\u201c
\n\u201eWeil der Dragoner darunter liegt?\u201c
\n\u201eGenau.\u201c
\n\u201eKnochen aus dem Jahre 1815?\u201c
\n\u201eDer preu\u00dfische Dragoner geh\u00f6rt zur Familie, und damit hat sich’s.\u201c \u2013 Herr Dufour klopft energisch gegen den Stamm des uralten Nu\u00dfbaums. \u201eDas ist das Denkmal unseres Patriotismus. Verstanden. Hier steht mein Stolz. Und deiner auch. Wer daran r\u00fcttelt, ist mein Feind. Verstanden?\u201c
\n\u201eNur weil deine Vorfahren den armen Kerl umgebracht und verscharrt haben. Napoleon hat trotzdem verloren.\u201c
\n\u201eDas waren auch deine Vorfahre. Oh\u2026\u201c Herr Dufour wendet sich zu mir: \u201eIn dieser Generation steckt der Wurm\u201c, meint er \u201eda kratzt man Millionen zusammen, damit so was studieren kann, und wenn sie aus Paris zur\u00fcckkommen, wollen sie alles besser wissen.\u201c<\/p>\n
\n\u201eWarum haben Sie den Traktor gekauft, wenn Sie den Baum nicht f\u00e4llen wollen?\u201c frage ich. \u201eDie meisten ihrer Felder liegen doch hier.\u201c
\n\u201eSeinetwegen\u201c, sagt er und zeigt auf seinen Sohn. \u201eDer \u00e4lteste ist Professor in Paris, der zweite ist Arzt in Lyon. Ohne Traktor w\u00e4re Charles nicht mehr nach Hause gekommen. Er will modern arbeiten.\u201c
\n\u201eErz\u00e4hl keine M\u00e4rchen\u201c ruft Charles von seinem Sitze herunter. \u201eDie Nachbarn sollten staunen. Sei doch ehrlich. Das ist der einzige Grund. Da hat bald jeder einen Traktor. Selbst wenn er nur einen halben Hektar besitzt. Die Felder der ganzen Gemeinde k\u00f6nnten mit sechs Traktoren bestellt werden. Aber nein. Die Herren haben f\u00fcnfzig oder mehr. Auf Kredit nat\u00fcrlich. Jeder f\u00fcr sich. Die gute, alte franz\u00f6sische Tour. Mein \u2013 dein. Ich \u2013 die anderen. Haarscharf getrennt. Todfeinde wegen zwei Zentimeter Boden. Man kontrolliert seine Pfl\u00f6cke, mit dem Jagdgewehr unter dem Arm. Um Gottes willen, ja nicht zusammenarbeiten. Da k\u00f6nnte X, Y oder Z besser abschneiden. Nein, Vater, das M\u00e4rchen nimmt dir keiner mehr ab, genau wie die Geschichte mit dem preu\u00dfischen Dragoner. \u2013 La\u00df uns doch mal nachschauen. Nur kontrollieren, ob er da ist.\u201c
\nCharles springt vom Traktor, nimmt einen Spaten und geht auf den Baum zu. Der alte Herr hebt beide Arme zum Himmel.
\n\u201eBist du verr\u00fcckt? Damit er uns nachts an den Beinen zieht? Ah, non!\u201c
\n\u201eIch glaube nicht an Geister.\u201c
\n\u201eDu bist zu jung.\u201c
\n\u201eWir k\u00f6nnen ihn doch auf dem Friedhof beisetzen.\u201c
\n\u201eEin preu\u00dfischer Dragoner auf unserem Friedhof? Bist du verr\u00fcckt? Neben deiner Mutter vielleicht?\u201c
\n\u201eIch dachte, du seist ein echter Republikaner.\u201c
\n\u201eJa, aber es gibt Grenzen.\u201c
\nCharles sagt kein Wort mehr. Er springt auf seinen Traktor und f\u00e4hrt davon. Herr Dufour steigt mit mir in den Wagen.
\n\u201eEs ist alles durcheinander\u201c, meint er. \u201eFr\u00fcher war die Welt kristallklar. Da gab es Rote und Schwarze, das hei\u00dft: Republikaner und Klerikale. Die Frauen lie\u00df man in die Kirche gehen. Aber wir schlugen uns f\u00fcr unsere Prinzipien: f\u00fcr die Freiheit, das Recht, unsere Kinder auf \u00f6ffentliche Schulen zu schicken; gegen die Herrschaften vom Schlo\u00df und ihre Verb\u00fcndeten, die Priester, die uns verdummen wollten. Wenn gew\u00e4hlt wurde, kamen wir erst einmal zusammen und diskutierten. Wir wu\u00dften alle, worum es ging. Da war der Jean der Jean und Pierre war Pierre. Jetzt sitzen wir im Nebel. Es gibt nur noch Hampelm\u00e4nner, die uns f\u00fcr dumm verkaufen: Abgeordnete, die nicht einmal von hier sind, sollen unsere Interessen vertreten. Kurz vor den Wahlen werden sie uns vorgef\u00fchrt und angepriesen wie das letzte Seifenpulver. Das ist keine Politik. Das sind Reklamefeldz\u00fcge. Ich gehe nicht mehr w\u00e4hlen. Ich sage auch nicht mehr, was ich denke. Es kann nur schaden. Die Herren haben lange Arme, wie einst die Schlo\u00dfherren. Meine Vorfahren, die den Dragoner umbrachten, waren richtige Kerle. Die waren konsequent.\u201c
\nMonsieur Dufour spielt mit dem Zigarettenanz\u00fcnder. Seine H\u00e4nde tasten \u00fcber das Armaturenbrett des Wagens. Er l\u00e4chelt.
\n\u201eDie Technik ist doch was Sch\u00f6nes. Unter uns: Charles hat recht. Den Traktor habe ich nur wegen der Nachbarn gekauft. Wir sind keine armen Schlucker. Das soll jeder wissen. Besonders jetzt, da Charles B\u00fcrgermeister geworden ist.\u201c
\nEr versucht seinen Stolz zu verbergen und blickt aus dem Fenster.
\nWir kommen in der kleinen Stadt an: viertausend Einwohner. Alle sind katholisch. Siebzehn M\u00e4nner gehen regelm\u00e4\u00dfig zur Messe. Es gibt: eine Kirche, zwei M\u00e4rkte, eine Zementfabrik, eine Ziegelei, eine Konservenfabrik, einen Abgeordneten, einen Notar, zwei \u00c4rzte, zwei Apotheker, eine Gr\u00e4fin mit Schlo\u00df, vier Hotels, eine elegante Absteige, ein Kino, zwei Schulen (eine staatlich und eine konfessionell), ein Stoffgesch\u00e4ft. Der einzige Konfektionsladen verkauft jetzt K\u00fchlschr\u00e4nke und Gasherde. Sieben Restaurants, f\u00fcnfzehn B\u00e4cker, zehn Schlachter, drei K\u00e4sel\u00e4den mit f\u00fcnfzig verschiedenen Sorten, achtundzwanzig Kolonialwarengesch\u00e4fte, drei\u00dfig Kneipen.
\nSo sieht sie aus, unsere kleine Stadt im Herzen Frankreichs. Das Schwergewicht liegt auf dem Essen. Jeder Haushalt gibt vierzig Prozent f\u00fcr die Ern\u00e4hrung aus, zwanzig Prozent f\u00fcr Getr\u00e4nke, zehn Prozent f\u00fcr Wohnung, elf Prozent f\u00fcr Vergn\u00fcgen (Jagd, Angeln, Reisen). Der Rest ist f\u00fcr Kleidung, Erziehung, Hygiene.
\nDick sein ist ein Zeichen von Kraft und Gesundheit. \u201eDer ist reif f\u00fcr den Friedhof\u201c, sagt man von einem mageren Menschen. Und \u201eWer nicht trinkt, ist kein Mann.\u201c Herr Dufour ist ein Mann: drei Liter Wein, f\u00fcnf Schn\u00e4pse und einige Pernods sind die t\u00e4glichen Beweise.
\nIch habe mir angesehen, was er regelm\u00e4\u00dfig i\u00dft. Der Tag beginnt mit einem Schnaps, \u201eum die W\u00fcrmer zu t\u00f6ten\u201c. Dann kommt das Fr\u00fchst\u00fcck: ein gro\u00dfer Teller Fleischbr\u00fche mit eingebrocktem Brot. Nat\u00fcrlich geh\u00f6rt ein Schu\u00df Wein hinein, \u201eum die Suppe zu entfetten\u201c. \u2013 Um zehn Uhr: drei harte Eier, ein St\u00fcck K\u00e4se, Schinken und Wein. \u2013 Mittags: Fleisch, Kartoffeln, Salat, Brot, Fr\u00fcchte und Wein. \u2013 Um drei Uhr: einen Verdauungsschnaps, \u201eum Platz zu schaffen\u201c. Denn um vier Uhr macht er \u201evier Uhr\u201c: Brot, Wurst, K\u00e4se, Wein. \u2013 Abends l\u00f6ffelt er nur Milchkaffee mit viel Brot drin. So sieht der Wochentag aus.<\/p>\n
\nDas Hauptgericht des Tages mu\u00df als erstes zubereitet werden. Es geht schon fr\u00fch morgens los. Speck, wei\u00dfe Bohnen, Karotten, Zwiebeln, Schmalz, Wurst mit Knoblauch, eine Hammelkeule, ein Huhn, mehrere Schweinskoteletts werden in einen Steinkrug gelegt. Das Ganze wird mit Brotteig zugedeckt und zum n\u00e4chsten B\u00e4cker gebracht, wo es vier bis f\u00fcnf Stunden im Backofen bleibt. Und jetzt hat man genug Zeit, um die anderen Gerichte vorzubereiten.
\nWir haben eine Kostprobe des normalen Sonntagsessens bekommen. 1. Gang: Leberpastete, Hasenpastete, harte Eier, Tomatensalat. 2. Gang: Blutwurst mit Zwiebeln und Apfelmus. 3. Gang: das Steintopfgericht, das hei\u00df vom B\u00e4cker zur\u00fcckkam.
\n4. Gang: Schinken, Salat mit Speck, harte Eier. 5. Gang: sechs K\u00e4sesorten. 6. Gang: Krapfen. 7. Gang: Pudding. 8. Gang: Apfeltorte. 9. Gang: Fr\u00fcchte.
\nOhne nat\u00fcrlich die Aperitifs, Weine und Schn\u00e4pse zu z\u00e4hlen. Wir setzten uns um ein Uhr an den Tisch und standen um f\u00fcnf Uhr auf.
\nHerrn Dufour ist diese Di\u00e4t bis heute ausgezeichnet bekommen. Er tr\u00e4gt seine 71 Jahre wie ein Sechzigj\u00e4hriger und scheint in jeder Hinsicht r\u00fcstig zu sein. Jetzt blinzelt er wie ein \u00fcberm\u00fctiger Junge aus dem Wagenfenster.
\nHalten Sie doch mal schnell an\u201c, ruft er, \u201eich mu\u00df der Mutter Pommard etwas sagen.\u201c
\nEine \u00fcppige F\u00fcnfzigj\u00e4hrige schlie\u00dft vorsichtig eine gr\u00fcne Haust\u00fcr und kommt uns entgegen. Schwarzer Strohhut, graues Kleid, schwarze Sch\u00fcrze, rote Backen.
\n\u201eAuf frischer Tat ertappt\u201c, fl\u00fcstert er, \u201edie kommt gerade von den Br\u00fcdern B\u00e9ry. Seit drei\u00dfig Jahren ist sie die Geliebte dieser beiden Junggesellen. Ihr Mann arbeitet in der Zementfabrik. Haha. Hier haben alle H\u00f6rner. H\u00f6her als der Eiffelturm.\u201c
\nEr dreht die Scheibe runter. \u201eBonjour, m\u00e8re Pommard.\u201c
\n\u201eBonjour, Monsieur Dufour.\u201c
\n\u201eStellen Sie sich vor, mein Sohn will den Dragoner ausgraben.\u201c
\nSie bekreuzigt sich. \u201eJesus Maria, der Jugend ist nichts mehr heilig.\u201c<\/p>\n
\nSie kommt n\u00e4her. Ihre Stimme ist nur noch ein Gefl\u00fcster:
\n\u201eDer Jean hat schon wieder ’ne Neue. Diesmal ist sie drei\u00dfig. Kein Jahr \u00e4lter. Die Familie will ihn schon wieder einsperren lassen. Dabei ist er ganz normal.\u201c
\n\u201eSo normal m\u00f6chte ich auch mit 82 sein. Es ist eine Wonne, wie er seine Erben zur Verzweiflung treibt. Die beten, da\u00df er abkratzt. Ja ja, wenn es um Millionen geht, ist man zu allem im Stande. Erinnern Sie sich noch, m\u00e8re Pommard?“
\nSie schl\u00e4gt schnell das Kreuz: \u201eJesus Maria. Malen Sie den Teufel nicht an die Wand, p\u00e8re Dufour.\u201c
\nAls wir weiterfahren, erz\u00e4hlt er mir, wie Herr Jean seine Erben zur Verzweiflung bringt. Er ist ein reicher Industrieller. Vor zwei Jahren fuhr er \u201ezum Scherz\u201c nach Rum\u00e4nien, um sich einer Verj\u00fcngungskur zu unterziehen. Gleich nach seiner R\u00fcckkehr nahm er eine Geliebte. Kinder und Enkel l\u00e4chelten: \u201eDer will nur zeigen, da\u00df er sein Geld nicht umsonst ausgegeben hat\u201c, sagten sie und lie\u00dfen dem alten Mann seine Laune.
\nAber es war keine Laune. Es war die Kur. Jede Woche wechselte Herr Jean die Geliebte. Es ging hoch her. Er unternahm regelrechte Hochzeitsreisen. Die letzte f\u00fchrte ihn bis nach Kairo. Die Frauen wurden k\u00f6niglich beschenkt.
\n\u201eMeine letzte Viertelstunde soll mein Verm\u00f6gen kosten. Es lebe Rum\u00e4nien. Es lebe die Liebe\u201c, rief er eines Abends im besten Restaurant der Stadt, st\u00fcrzte sich auf die Wirtin, k\u00fc\u00dfte sie vor allen Kunden und entf\u00fchrte sie unter tobendem Beifall mit seinem Auto. Als sie nach zehn Tagen zur\u00fcckkam, schw\u00e4rmte sie von Spanien.
\nJetzt wurden die Erben unruhig. In der Provinz will man erben. Koste es, was es wolle. Einer der S\u00f6hne starb an Herzschlag. Die Witwe riss der Geliebten des Schwiegervaters zwanzig Gramm Haare vom Kopf und die Perlen vom Hals. Man versuchte, den Familienarzt zu bestechen. Der Alte ist verr\u00fcckt. Er mu\u00df ins Asyl.\u201c \u2013 \u201eKeineswegs\u201c, meinte Herr Jean und fuhr mit der Frau des Arztes in die Schweiz, wo er eine neue Verj\u00fcngungskur machte.
\nHerr Dufour schmunzelt. \u201eZuerst waren es die Frauen von f\u00fcnfzig, dann vierzig, jetzt ist er bei drei\u00dfig angelangt. Wo wird er aufh\u00f6ren?\u201c
\n\u201eSieht der denn auch j\u00fcnger aus?\u201c will ich wissen.
\n\u201e\u00dcberhaupt nicht. Aber drei andere Herren sind schon in die Schweiz gefahren, um sich auch verj\u00fcngen zu lassen. Wir sind alle gespannt. Donnerwetter, hier gab’s immer viel zu quatschen. Aber so viel doch noch nie. Wir z\u00e4hlen schon die Tage.\u201c
\nDer Mann mit dem roten Pullover torkelt gegen den Wagen. Er breitet seine Arme aus und lehnt sich \u00fcber den K\u00fchler.
\n\u201eBuh\u201c, schreit er und grinst uns an. \u201eBuh, ich bin der gro\u00dfe Charles. Lang lebe Frankreich.\u201c Er f\u00fchrt seine H\u00e4nde an den Mund und trompetet einen Milit\u00e4rmarsch.
\nHerr Dufour steckt seinen Kopf aus dem Fenster. \u201eGeh aus dem Weg, Richard. Um diese Stunde ist man nicht besoffen. Es ist erst vier Uhr. Hau ab.\u201c
\n\u201eBuh. Ich bin die Leiche der Republik.\u201c Er krabbelt auf die Motorhaube und dr\u00fcckt seine Nase gegen das Fenster. \u201eIch bin die Leiche der Republik. Taratata.\u201c
\n\u201eWo ist der Scheibenwischer?\u201c fragt Herrn Dufour.
\nIch zeige ihm den Knopf. Er stellt an. Unn\u00fctz. Der Wischer klemmt sich unter Richards Nase. Er nimmt ihn zwischen die Z\u00e4hne und zischt:
\n\u201eBuh. Ich bin ein dreckiger Kommunist.\u201c
\nWir steigen aus und helfen ihm wieder auf die Beine. Herr Dufour schl\u00e4gt vor, ihm einen starken Kaffee zu geben. Ein kleiner Schnaps t\u00e4te uns auch gut.\u201c
\nWir gehen in die n\u00e4chste Kneipe. An der Theke steht ein st\u00e4mmiger Arbeiter.
\n\u201eWas ist mit Richard los?\u201c will Herrn Dufour wissen.
\n\u201eAus der Ziegelei entlassen\u201c, sagt der Dicke.
\n\u201eBuh\u201c, lallt Richard, ich bin ein Kommunist.\u201c
\n\u201eDer ist doch schon sieben Jahre dort.\u201c
\n\u201eRichtig. Aber er hat die Dummheit begangen, einer Gewerkschaft beizutreten.\u201c
\n\u201eDas interessiert mich\u201c, sage ich.
\n\u201eKann man entlassen werden, wenn man einer Gewerkschaft beitritt?\u201c
\n\u201eFr\u00fcher nicht\u201c, sagt der Dicke. \u201eAber heute gibt es so viele Spanier, Portugiesen und Araber in dieser Gegend. Vierhundert allein in unserer Gemeinde. Die sind froh, wenn sie Arbeit finden, und ducken sich, um sie zu behalten. In den gro\u00dfen St\u00e4dten gibt’s sowas nat\u00fcrlich nicht. Aber hier auf dem Lande machen die Gro\u00dfen, was sie wollen.\u201c
\n\u201eWie viel verdiente Richard?\u201c
\n\u201eUngef\u00e4hr 400 neue Franken.\u201c (320 Mark).
\n\u201eUnd wie viel bekommt ein Portugiese?\u201c
\n\u201eF\u00fcnfzig weniger.\u201c
\nRichard ist auf seinem Stuhl eingeschlafen. Herr Dufour tut pl\u00f6tzlich sehr wichtig.
\n\u201eIch habe mich heute fast mit meinem Sohn gepr\u00fcgelt. Er will den preu\u00dfischen Dragoner ausgraben.\u201c
\n\u201eRecht hat er\u201c, sagt der Dicke. \u201eWie soll der Traktor sonst auf Ihren Acker? \u201c
\n\u201eUnsinn\u201c, sagt der Wirt. \u201eWir wollen keine Geister in der Stadt.\u201c
\n\u201eIch bin ein Sozialist\u201c, sagt der Dicke. \u201eF\u00fcr mich gibt’s keine Geister.\u201c
\n\u201eIch bin Republikaner\u201c, sagt der Wirt. \u201eF\u00fcr mich gibt’s Geister.\u201c
\n\u201eWir wollen den Knochenbrecher fragen\u201c, meint Herr Dufour.
\nRichard schl\u00e4ft. Der Wirt schlie\u00dft die Kneipe ab, und wir \u00fcberqueren die Stra\u00dfe. Hinter einem kleinen Schaufenster, in dem Kr\u00e4uter, verschiedene Pulver und kleine Amulette liegen, sitzt der Knochenbrecher und reinigt sein Jagdgewehr.
\n\u201eKann man den Dragoner ohne Gefahr ausgraben?\u201c will der Wirt wissen.
\n\u201eDar\u00fcber reden wir bei dir\u201c, sagt der Knochenbrecher. \u201eIch mu\u00df einen trinken.\u201c Er schlie\u00dft den Laden ab, und wir marschieren alle f\u00fcnf wieder in die Kneipe.
\nDer Wirt serviert einen Pernod.
\n\u201eAuf meine Kosten\u201c, sagt Dufour. \u201eAlso?\u201c fragt der Dicke.
\n\u201eWenn ich vom Standpunkt der Wissenschaft ausgehe\u201c, meint der Knochenbrecher, \u201eist es nat\u00fcrlich ganz unm\u00f6glich, einen Erschlagen in seiner Ruhe zu st\u00f6ren. Dann sinnt er auf Rache. Auf wen f\u00e4llt die? Auf dich, Dufour.\u201c
\n\u201eSeht Ihr \u2013 Trink noch einen.\u201c
\n\u201eDanke. \u2013 Betrachte ich es jedoch unter dem Aspekt der astralen Einfl\u00fcsse dieses Monats, dann mu\u00df ich gestehen, da\u00df ich keine Gefahr wittere. Ich mu\u00df nat\u00fcrlich dabei sein. Versteht sich\u2026\u201c
\nHerr Dufour wird unsicher. \u201eIch mu\u00df mit meinem Sohn dar\u00fcber reden\u201c, sagt er. \u201eAuf Wiedersehen.\u201c \u2013 \u201eDer will Geld\u201c, fl\u00fcsterte er mir zu, \u201edieser Kurpfuscher.“<\/p>\n
\nText darunter: Die \u00f6ffentliche Meinung einer kleinen Stadt steht unter dem st\u00e4ndigen Druck von Frauen eines gewissen Alters. Sie kolportieren, kommentieren, beurteilen und verurteilen das Leben eines jeden Mitb\u00fcrgers.<\/em><\/p>\n
\n\u201eWarum dort?\u201c frage ich.
\n\u201eEchte M\u00e4nner setzen nie den Fu\u00df in die Kirche. Das tut kein guter Republikaner. Nur die Frauen sind drin. Wenn der Sarg herauskommt, gehen die M\u00e4nner mit zum Friedhof.\u201c
\n\u201eUnd wo heiratet ein echter Republikaner? Auch vor der Kirche?
\n\u201eUnsinn. Da mu\u00df man nat\u00fcrlich dabei sein. Eine Frau will vor dem Altar getraut werden. Aber Sie sollten sich das mal ansehen. Entweder stehen die Herren da, als h\u00e4tten sie einen Besen verschluckt. Oder sie rei\u00dfen Witze. Ein Roter wei\u00df nie, wie er sich in der Kirche benehmen soll.\u201c
\n\u201eGibt’s hier so viele Kommunisten?\u201c
\n\u201eIch hab Ihnen doch schon erkl\u00e4rt, Rote sind Republikaner, Antiklerikale. Parteien gibt es kaum noch. Wir halten an alten Gewohnheiten fest. Kommunisten haben wir nat\u00fcrlich auch.\u201c
\n\u201eKennen Sie einen kommunistischen Stadtrat?\u201c
\n\u201eSelbstverst\u00e4ndlich. Einer der dicksten Bauern.\u201c
\n\u201eKann ich ihn besuchen?\u201c
\n\u201eSofort.“
\nMonsieur Blondel empf\u00e4ngt uns vor der T\u00fcr seines Hauses. Baskenm\u00fctze, rote Nase, Schnurrbart, Samtjacke, Reithose, Gummistiefel zieren einen Mann von 50 Jahren. Er besitzt 100 Hektar. Viel Land f\u00fcr diese Gegend. Er besch\u00e4ftigt vier Landarbeiter, hat vierzig K\u00fche, produziert Milch, Fleisch, Korn und Wein. Als Herr Dufour ihm sagt, da\u00df ich Journalist sei, f\u00e4llt die einladend auf das Haus gerichtete Hand wieder herunter. Wir bleiben im Hof.
\n\u201eWie viel Kommunisten gibt es hier?\u201c frage ich.
\n\u201eIch bin kein Kommunist.\u201c
\n\u201eHerr Dufour hat es mir doch gesagt.\u201c
\n\u201eHier wird jeder als Kommunist verschrien, der am Privatbesitz r\u00fcttelt. \u00dcbrigens, die Kommunistische Partei ist hier klein. Aber ein Drittel der Bev\u00f6lkerung w\u00e4hlt sie.\u201c
\n\u201eAus \u00dcberzeugung?\u201c
\n\u201eNein, nicht aus \u00dcberzeugung. Franzosen st\u00e4nkern gern. Es gibt nur eine gro\u00dfe Partei in Frankreich: die N\u00f6rgler. Wenn die Kommunisten fest genug auf die Pauke schlagen, kommt immer ein guter Haufen mit ihnen. Es gibt nat\u00fcrlich auch viele Kommunisten aus \u00dcberzeugung. Versteht sich.\u201c
\nHerr Blondel erkl\u00e4rt mir anschlie\u00dfend, da\u00df es heute in der franz\u00f6sischen Landwirtschaft eigentlich nur noch einen beneidenswerten Posten gibt: Landarbeiter. Ihnen geht es bei weitem besser als den kleinen und mittleren Bauern.
\nEin Landarbeiter bezahlt kaum etwas f\u00fcr seine Wohnung auf dem Hof. Er erh\u00e4lt kostenlos die Grundnahrungsmittel. H\u00fchner, Enten, Blumen, Gem\u00fcse geh\u00f6ren ihm. Sein monatlicher Durchschnittslohn betr\u00e4gt rund 300 Franken (240 Mark). Im \u00fcbrigen befolgt er gewissenhaft die offizielle Geburtenpolitik: Er hat viele Kinder und steckt die hohen Zusch\u00fcsse ein. So kann ein Mann mit f\u00fcnf Kindern leicht auf 700 Franken (560 Mark) kommen. Die einzigen Barausgaben hat er f\u00fcr Kleidung. Einen Anzug pro Jahr und pro Kopf. Alles andere kann er nach Gutd\u00fcnken ausgeben oder sparen, denn selbst Arzt und Apotheke braucht er nicht zu bezahlen.<\/p>\n
\n\u201eDas hei\u00dft?\u201c
\n\u201eKollektivierung, nat\u00fcrlich. Ich habe Ihnen doch gesagt: Landarbeitern geht es besser als Durchschnittsbauern. Und dann k\u00f6nnten die Alten auch endlich eine Pension beziehen und sich zur Ruhe setzen, anstatt bis zum Tode ihren Rheumatismus \u00fcber die Felder zu schleppen.\u201c
\n\u201eStimmt das?\u201c frage ich Herrn Dufour.
\n\u201eJedes Wort.\u201c
\n\u201eIst das auch die Linie der Kommunistischen Partei?“
\n\u201eWas hei\u00dft Partei. Die Kommunisten sind hier reaktion\u00e4r\u201c, ereifert sich Blondel. \u201eEs ist die einzige Linie des gesunden Menschenverstandes. Ich. Er. Alle Bauern denken so. Au\u00dfer den gro\u00dfen nat\u00fcrlich und den industrialisierten G\u00fctern.\u201c
\n\u201eW\u00fcrden Sie Ihr Land zur Kollektivierung hergeben, Her Dufour?\u201c
\n\u201eBin ich verr\u00fcckt? Was kann ich dann noch Mein nennen. Nein. Ich habe sogar gegen die Flurbereinigung gestimmt. Man wei\u00df nie, was dabei herauskommt.\u201c
\n\u201eIch w\u00fcrde es tun\u201c, sagt Blondel, \u201eund ich habe dreimal so viel Land wie Sie.\u201c
\nEr begleitet uns zum Wagen. \u201eWas machen Sie mit dem Dragoner?\u201c fragt er.
\nHerrn Dufour blickt ihn mi\u00dftrauisch an. \u201eWoher wissen Sie?\u201c
\n\u201eMan h\u00f6rt so manches.\u201c
\n\u201eWas w\u00fcrden Sie tun?\u201c
\n\u201eFragen Sie doch den Lehrer.\u201c
\nDer Lehrer hat andere Sorgen. Seine Frau erwartet ein Kind, und er bittet uns, sie ins Krankenhaus der n\u00e4chsten Stadt zu fahren. Unterwegs frage ich ihn ein wenig aus. Er verdient 550 Mark und seine Frau 400 Mark. Sie ist auch Lehrerin.
\n\u201eWenn wir zusammenlegen, verf\u00fcgen wir \u00fcber das Budget einer typischen Durchschnittsfamilie\u201c, meint er.
\n\u201eNeunzig Prozent aller Familien verdienen zwischen 400 und 1200 Mark. Drei\u00dfig Prozent davon liegen um 400 Mark. Stellen Sie sich das vor. Ich frage mich immer, wie die auskommen. Bei uns ist es schon nicht einfach. Und f\u00fcnf Prozent der Bev\u00f6lkerung haben sogar weniger als 100 Mark im Monat. Wir sind noch weit entfernt vom deutschen Wirtschaftswunder.\u201c
\n\u201eM\u00fcssen Sie die Entbindung selber bezahlen?\u201c
\n\u201eNat\u00fcrlich nicht. Das Leben mit einem Kind wird jedoch sehr kompliziert sein. Wir m\u00fcssen beide t\u00e4glich zur Schule. Und f\u00fcr ein Dienstm\u00e4dchen reicht das Geld nicht. Vielleicht lassen wir meine Schwiegermutter kommen. Aber Sie wissen, wie es ist, man soll nie mit alten Leuten zusammen wohnen. Verzeihen Sie, Herr Dufour.\u201c
\n\u201eSchon gut\u201c, murmelt Dufour, \u201eich war auch mal jung.\u201c<\/p>\n
\n\u201eLa\u00df ihn nur so\u201c, sagt Charles gelassen. \u201e Er mu\u00df sich sch\u00e4men. Jedes Mal, wenn ich auf ihn w\u00fctend bin, wird er rumgedreht.\u201c
\n\u201eAuch wenn Besucher kommen?\u201c
\n\u201eDer h\u00e4ngt schon drei Wochen so. Seit dem Referendum. Die Besucher brauchen nur an die Wand zu schauen und sie wissen, was ich denke.\u201c
\n\u201eWas hast du gegen de Gaulle?\u201c
\n\u201eEr macht aus dem gescheitesten Volk der Erde eine drittklassige Nation. Er hat die Demokratie begraben. Es gibt keine nationale Aussprache mehr. Wir d\u00fcrfen nicht mehr mitreden. Zur Dummheit verurteilt. Nichts geht uns mehr was an. Alles ist Sache de Gaulles. Wir haben den gro\u00dfen Papa. Der sorgt f\u00fcr die Familie. Er sitzt am Dr\u00fccker und wei\u00df besser, was f\u00fcr unsere Zukunft gut ist \u2013 sagt er. Wir d\u00fcrfen nur noch zwei S\u00e4tze sagen: Ja, Papa \u2013 Nein, Papa. Aber selbst Nein ist unm\u00f6glich. Die Fragen werden so gestellt, da\u00df jeder Neinsager zum schlechten Sohn der Nation wird. Es ist zum Heulen. Kein Wunder, da\u00df niemand sich mehr f\u00fcr Politik interessiert. Deshalb drehe ich das Bild manchmal um. Das zwingt meine B\u00fcrger zum Nachdenken.\u201c
\n\u201eAber sie sagen immer wieder \u201aja‘.\u201c
\n\u201eKunstst\u00fcck. Wenn ich dich frage: Willst du am Leben bleiben und de Gaulle Vollmachten geben? Was w\u00fcrdest du antworten?\u201c
\n\u201eJa.\u201c
\n\u201eAber nicht nur das ist der Grund des Jasagens. De Gaulle behandelt uns meisterhaft an unserer empfindlichsten Stelle: dem nationalen Stolz. Es tut im Grunde jedem weh, da\u00df wir nicht mehr die gro\u00dfe Nation sind und unsere Kolonien verloren haben. Er schafft den Ersatz. Er st\u00e4nkert gegen die UNO, schimpft auf Amerika, spottet \u00fcber England. Er sagt allen: Ihr k\u00f6nnt mir den Buckel ‚runter rutschen, und tut, als g\u00e4be es nur ihn, Frankreich und seine gro\u00dfe Mission. Das kitzelt alle an der empfindlichsten Stelle und gibt ihnen den Eindruck, doch noch \u2013 dank de Gaulle \u2013 der Nabel der Welt zu sein.
\nGeh doch ins Kino und schau dir die Wochenschau an. Da gibt es Br\u00fccken, Dampfer, Lokomotiven, Staud\u00e4mme, B\u00fcstenhalter, Skihosen, die \u2013 vom franz\u00f6sischen Genie geschaffen \u2013 die besten, schnellsten, k\u00fchnsten, sch\u00f6nsten der Welt sind. So f\u00e4ngt man systematisch den Mann auf der Stra\u00dfe. Das ist auf der ganzen Welt so. Wir sind immer gl\u00fccklich, wenn wir zu einem starken Verein geh\u00f6ren.\u201c
\n\u201eDas klingt wie Portugal und Spanien.\u201c
\n\u201eWenn wir so weitermachen\u2026 Komm, das regt mich auf. La\u00df uns einen Schnaps trinken.\u201c<\/p>\n
\n\u201eDie Pariser? Arme Kerle\u201c, sagt der Schlachter. \u201eHast du die Rauchwolke gesehen, die \u00fcber Paris liegt? Darin schuften die acht Stunden am Tag. Und am Sonntag fahren sie ins Gr\u00fcne. Im G\u00e4nsemarsch. Jeder hat das Auspuffrohr des Vordermanns in der Nase. Da sind wir besser dran. In sechs Stunden sind wir in Paris. Am Wochenende nat\u00fcrlich. Und w\u00e4hrend die Pariser sich m\u00fchsam in den Vororten dr\u00e4ngeln, haben wir die ganze Stadt f\u00fcr uns.\u201c
\n\u201eKein Zweifel\u201c, meint der Schmied, \u201ewir haben’s besser.\u201c
\nUnd dabei wollen die uns was vormachen\u201c, wirft der Wirt dazwischen.
\n\u201eWieso denn? Den Twist haben wir zur gleichen Zeit gekannt wir sie. Wie erfahren die was? Durchs Fernsehen. Genau wie wir. Am gleichen Tag und keine Minute fr\u00fcher.\u201c
\n\u201eStimmt\u201c, sagt der Nachbar und bestellt eine Runde.
\n\u201eZuerst komm ich\u201c, protestiert Charles. \u201eBin ich der B\u00fcrgermeister oder bin ich’s nicht?\u201c
\n\u201eEs ist meine Runde\u201c, erkl\u00e4rt Herr Dufour. \u201eIch bin der Vater des B\u00fcrgermeisters.\u201c
\nAlle lachen, aber das letzte Wort beh\u00e4lt der Wirt:
\n\u201eEiner nach dem andern. Ich bin hier zu Hause. Ich fange an.\u201c
\nAls meine Runde kommt, dreht sich alles schon ein wenig.
\n\u201eGut, da\u00df wir nicht zur neuen Generation geh\u00f6ren\u201c, meint Charles. \u201eDie trinken nicht mehr. Motorrad und Fruchts\u00e4fte sind die einzigen Vergn\u00fcgungen. Stell dir das vor.\u201c
\n\u201eZu meiner Zeit wurde richtig diskutiert\u201c, sagt Herr Dufour vertr\u00e4umt.
\nDer Knochenbrecher, der wortlos ein Glas nach dem anderen geleert hat, steht jetzt auf. \u201eDa wir schon von der Vergangenheit sprechen. Was machen wir mit dem preu\u00dfischen Dragoner?\u201c
\n\u201eDer Baum mu\u00df weg\u201c, sagt Charles.
\n\u201eDer Traktor mu\u00df durch\u201c, meint der Nachbar.
\n\u201eDer Preu\u00dfe mu\u00df ‚raus\u201c, ruft der Schmied.
\n\u201eMoment!\u201c Herr Dufour schl\u00e4gt auf die Theke. \u201eIch bin auch noch da. Heute habe ich lange nachgedacht. Der Dragoner soll seine Chance haben. Wir werden abstimmen. Hol‘ deine Frau. Sie mu\u00df mitstimmen. Wir sind f\u00fcr das Wahlrecht der Frau.\u201c
\nDer Wirt ruft seine Frau.
\n\u201eWer ist daf\u00fcr, da\u00df der Baum stehen bleibt?\u201c fragt Herr Dufour und hebt die Hand. \u2013 Richard, Wirt und Wirtin folgen.
\n\u201eVier. \u2013 Gut, wer ist dagegen?“
\nCharles, der Knochenbrecher, der Schmied und der Nachbar rei\u00dfen die Arme hoch.
\n\u201eVier\u2026\u201c Alle schauen perplex im Kreise herum. Dann f\u00fchle ich pl\u00f6tzlich ihrer sechzehn Augen auf mich gerichtet.
\n\u201eIhre Stimme entscheidet\u201c, sagt Herr Dufour.
\n\u201eIch bin Ausl\u00e4nder.\u201c
\n\u201eHier gibt’s keine Ausl\u00e4nder. Demokratie ist Demokratie. Selbst Frauen d\u00fcrfen w\u00e4hlen. Also?\u201c
\n\u201eIch bin f\u00fcr den Fortschritt.\u201c
\n\u201eAlso gegen den Dragoner?\u201c
\n\u201eNein, nicht gegen den Dragoner.\u201c
\n\u201eAlso f\u00fcr den Baum?\u201c
\n\u201eAber nein. Ich glaube nur, da\u00df der Traktor durch mu\u00df.\u201c
\nCharles es klopft mir auf die Schulter. Der Knochenbrecher f\u00fcllt mein Glas. Nachbarn und Richard sch\u00fctteln mir die H\u00e4nde.
\nAlle sprechen jetzt durcheinander. Ich verstehe, da\u00df die demokratische Entscheidung sofort in die Tat umgesetzt werden soll. Wenige Minuten sp\u00e4ter sitzen wir zu sechst in des Nachbars Wagen. Schaufeln ragen aus dem Fenster. Der Wirt hat einen Korb mit Flaschen und belegten Broten auf dem Scho\u00df. Vor uns f\u00e4hrt Charles auf seinem Traktor. Richard folgt ihm mit dem Rad.
\nAls wir am Baum ankommen, wird noch lange hin und her geredet. Dann essen wir zun\u00e4chst und entscheiden, da\u00df wir die Wurzeln ein wenig freilegen und der Traktor anschlie\u00dfend den Baum umrei\u00dft. \u2013 Wir arbeiten im Licht der Scheinwerfer. Es verl\u00e4uft alles programmgem\u00e4\u00df. Der alte Baum wehrt sich kaum. Es bleiben nur noch ein gro\u00dfes Loch und einige Wurzeln.
\n\u201eNichts\u201c, sagt der Knochenbrecher, nachdem er sorgf\u00e4ltig jede Ecke ausgeleuchtet hat. \u201eIch sehe keine Gebeine.\u201c
\n\u201eAlle Wurzeln m\u00fcssen raus\u201c, meint Herr Dufour.
\nWir machen uns wieder an die Arbeit. Das Loch wird immer gr\u00f6\u00dfer. Bald haben vier Mann bequem Platz zum Schaufeln.
\n\u201eHier\u201c, ruft Richard. \u201eIch hab ihn.\u201c
\n\u201eIch bin noch nicht tot\u201c, flucht der Knochenbrecher. \u201e Das ist mein Bein, du Dummkopf.\u201c
\nWir suchen noch eine Stunde. Dann geben wir es auf.
\n\u201eSie haben ihn also doch nicht umgebracht\u201c, meint Herr Dufour ersch\u00f6pft.\u201eWie schade.\u201c
\n\u201eSei doch froh, Vater. Wir haben endlich diese Legende get\u00f6tet.\u201c
\n\u201eAber mein Vater und mein Gro\u00dfvater haben davon gesprochen. Wir haben alle fest daran geglaubt. Die ganze Stadt.\u201c
\n\u201eGott sei Dank, da\u00df es vor\u00fcber ist.\u201c
\n\u201eDas sagst du nur, weil du getrunken hast.\u201c
\n\u201eNein, Vater. Man mu\u00df manchmal besoffen sein, damit die Wahrheit endlich \u00fcber das gewohnte Denken triumphiert.\u201c<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"