{"id":54116,"date":"2017-03-11T14:16:15","date_gmt":"2017-03-11T13:16:15","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=54116"},"modified":"2023-07-26T23:00:37","modified_gmt":"2023-07-26T21:00:37","slug":"ein-tag-wischt-1000-jahre-aus","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/jemen\/ein-tag-wischt-1000-jahre-aus\/","title":{"rendered":"Ein Tag wischt 1000 Jahre aus"},"content":{"rendered":"

Stern, Heft 42, 4. November 1962\u00a0<\/em><\/p>\n

Die Sternreporter Gordian Troeller und Claude Deffarge waren die ersten ausl\u00e4ndischen Reporter in der Republik Jemen. Sie flogen nach Aden, der britischen Kronkolonie am Roten Meer. Dort mieteten sie einen Jeep und fuhren ohne Visum, \u00fcber Stock und Stein, ins \u201eVerbotene Land\u201c. Die Revolution\u00e4re nahmen sie herzlich auf. Sie wollten der Welt zeigen, da\u00df es n\u00f6tig war, endlich den Imam und damit das Mittelalter zu verjagen.<\/em><\/p>\n

Nein, der Jemen ist kein W\u00fcstenland. Der Jemen ist ein gr\u00fcnes Bergland, in dem die Bauern ihre Felder in kunstvollen Terrassen bis auf 3000 Meter H\u00f6he anlegen. Der Jemen ist auch nicht \u201eTausendundeinenacht\u201c. Harems gab es vielleicht vier oder f\u00fcnf. Und dort wurde nicht im Stil orientalischer Hollywoodschnulzen mit nacktem Nabel bauchgetanzt. Nein, gelangweilte, rauschgiftverseuchte, fette Prinzen sammelten die pornographischen Filme der europ\u00e4ischen Hafenst\u00e4dte und machten nach diesen Vorbildern fragw\u00fcrdige Fotos von ihren Frauen, Sklavinnen, Schwestern. Sie tranken heimlich Whisky und Schnaps. Dem einfachen Mann war das unter Todesstrafe verboten. Er hatte auch meistens nur eine Frau, selten zwei. Nur wenige reiche Leute k\u00f6nnen sich die vom Koran erlaubte Anzahl von vier legalen Frauen leisten. Achtzig Prozent der jemenitischen Frauen zeigen ihr Gesicht. Sch\u00f6ne Gesichter mit gro\u00dfen mandelf\u00f6rmigen Augen.<\/p>\n

\"\"<\/p>\n

Sanaa, die Hauptstadt des Jemen, liegt 2300 Meter hoch; eine mittelalterliche Stadt, von hohen Mauern umgeben. Hochh\u00e4user aus Ziegeln oder grauem Stein, die typische jemenitische Architektur, beherrschen das ganze Land. Die Fensterrahmen sind aus Gips und mit wei\u00dfen Arabesken verziert. Erst seit dem Tode des alten Imams Ahmed ist Sanaa wieder Hauptstadt. Er hatte sich in Theis im S\u00fcden des Landes, niedergelassen, weil er den M\u00e4nnern von Sanaa nie verzeihen konnte, 1948 bei einem Revolutionsversuch seinen Vater ermordet zu haben. Mit der Erlaubnis, Sanaa pl\u00fcndern zu d\u00fcrfen, gewann Achmed die wildesten Bergst\u00e4mme des Landes, ihm den Thron des Vaters zur\u00fcckzuerobern. 20.000 Menschen, ein Drittel der Einwohner Sanaa, wurde niedergemetzelt.<\/em><\/p>\n

Der Jemen hat auch keinen St\u00fctzpunkt f\u00fcr russische U-Boote. Im Hafen von Hodeida liegen nicht 19 russische Schiffe mit Waffen und Munition. Dort gibt es eine amerikanische Siedlung mit Air-Condition, in deren N\u00e4he eine Gesellschaft aus USA nach \u00d6l bohrt. Diese Amerikaner haben seit der Erweiterung des Hafens durch russische Ingenieure kaum noch ein Sowjetschiff gesehen. Aber immer noch fahren diese 19 Waffentransporter durch die Spalten der Presse. Sie kommen wieder einmal gelegen. Es ist ja Revolution. Eine Revolution, die sich auch noch \u201esozial\u201c nennt.<\/p>\n

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Sanaa liegt von einer Stadtmauer gesch\u00fctzt 2200 Metern \u00fcber dem Meeresspiegel<\/em><\/figcaption><\/figure>\n

Genau wie damals zur Zeit der Suezkrise. Damals war ich in Syrien wie heute im Jemen. Damals hie\u00df es auch 19 russische Schiffe l\u00e4gen im Hafen von Latakie und MIGs st\u00e4nden auf geheimen Flugpl\u00e4tzen in der W\u00fcste. Ich fuhr nach Latakie: ein winziger jugoslawischer Frachter. Ich fuhr kreuz und quer durch die W\u00fcste; kein Flugplatz. Und jetzt hei\u00dft es:<\/p>\n

    \n
  • Im Jemen ist die Situation un\u00fcbersichtlich.<\/li>\n
  • Der Jemen wird ein neues Kuba. Mit russischen Technikern, chinesischen Beratern, Raketenst\u00fctzpunkten.<\/li>\n
  • Die Revolution\u00e4re haben keine Unterst\u00fctzung im Volk.<\/li>\n
  • Hunderttausend k\u00f6nigstreue Jemeniten marschieren auf Sanaa, die Hauptstadt des Landes.<\/li>\n<\/ul>\n

    Wir fuhren kreuz und quer durch Jemen, mit einem Jeep, ungehindert, unbeschattet, ohne Visum, und wir sahen: Es gib zehnmal mehr M\u00e4nner aus dem Westen als Russen und Chinesen. 180 Amerikaner bauen eine Stra\u00dfe. Norweger, Schweden, Engl\u00e4nder fliegen die Verkehrsmaschinen. Deutsche beraten die Landwirtschaft. Italiener, Franzosen und Deutsche leiten die Krankenh\u00e4user.<\/p>\n

    Waffen aus dem Sowjetblock, ja, die haben wir gesehen. Sie wurden jedoch bereits vom alten Imam Achmed ins Land gebracht, ebenso wie die \u00f6stlichen Techniker.<\/p>\n

    \u201eWelche Waffen sollten wir denn benutzen, wenn wir \u00fcberhaupt schie\u00dfen wollten?\u201c fragte mich ein jemenitischer Offizier. \u201eSollten wir speziell einige Panzerwagen aus den USA kommen lassen, um unsere Revolution nach euren Begriffen \u201asauber\u2019 zu halten? Wenn ein Soldat eine tschechische Maschinenpistole abdr\u00fcckt, ist er noch lange kein Kommunist.\u201c<\/p>\n

    Der Gro\u00dfteil der im Westen verbreiteten Informationen stammt aus Jordanien und Saudi-Arabien. Dort werden im Augenblick die \u201eTatsachen\u201c \u00fcber die jemenitische Revolution fabriziert. Die beiden letzten Tyrannen der arabischen Welt bangen um Thron und Leben. Sie k\u00f6nnen nicht einmal mehr ihren eigenen Truppen trauen. Sie vergiften systematisch die \u00f6ffentliche Meinung des Westens. Sie dr\u00fccken den neuen M\u00e4nnern aus dem Jemen einen Stempel auf, bei dessen Anblick den kalten Kriegern des Westens die G\u00e4nsehaut \u00fcber den R\u00fccken l\u00e4uft: den Stempel des Ostens. Selbst die kleinen Sultane im britischen Protektorat machen mit. Sie geben schon Pamphlete heraus, auf denen Chruschtschow und El Sallal gemeinsam armselige Araber verschlingen.<\/p>\n

    Am 11. Oktober sa\u00dfen wir mit El Sallal beim Mittagessen. Ein Offizier trug einen Transistor herein. Wir h\u00f6rten Nachrichten. \u201eSanaa, die Hauptstadt des Jemens, ist von k\u00f6niglichen Truppen umzingelt\u201c, hie\u00df es auf englisch. \u201eSie sind nur noch einige Stunden von Regierungspalast entfernt.\u201c<\/p>\n

    Wir lachten, denn wir sa\u00dfen in eben diesem Palast und hatten noch am Morgen die Umgebung der Stadt \u00fcberflogen.<\/p>\n

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    Gordian Troeller im Gespr\u00e4ch mit Oberst El Sallal, dem F\u00fchrer der Revolution, und seinem Stellvertreter, Dr. Bedhani (in Zivil). Unsere Reporter wohnten als G\u00e4ste der Revolution\u00e4re im Palast der Republik<\/em><\/figcaption><\/figure>\n

    Aber es ist nicht zum Lachen. Wir stehen wieder ohnm\u00e4chtig vor einer Niederlage des Westens. Es handelt sich nicht um die Tatsache, da\u00df ein Monarch gest\u00fcrzt wurde. Nein. Der Westen erleidet hier im Jemen eine neue Schlappe im Ringen um die Sympathie der Dritten Welt, um das Urteil von zwei Dritteln der Menschheit.<\/p>\n

    \u201eWir sind sehr entt\u00e4uscht, da\u00df die Westm\u00e4chte unsere Regierung immer noch nicht anerkannt haben\u201c, sagt uns Dr. Bedhani, der Vizepremier, in perfektem Deutsch. (Er hat in Deutschland studiert und war Gesandter in Bonn.) \u201eDie Westm\u00e4chte wissen doch genau, was hier los war. Die Presse hat ausgiebig \u00fcber die Grausamkeiten des Imams geschrieben, \u00fcber das Unertr\u00e4gliche des alten Regimes. Und jetzt z\u00f6gert der Westen, es fallenzulassen. Ja, er unterst\u00fctzt die alten Machthaber. Der Westen begeht immer wieder den gleichen Fehler, wenn ein Volk sich gegen die Ungerechtigkeit erhebt. Ich bin \u00fcberzeugt, da\u00df Castro keine Unterst\u00fctzung bei der Sowjetunion gesucht h\u00e4tte, wenn die Amerikaner ihn nicht dazu gezwungen h\u00e4tten. Sie haben ihn den Kommunisten ausgeliefert. Wird man uns in die gleiche Lage dr\u00e4ngen? Hoffentlich nicht.\u201c<\/p>\n

    Ein junges Mitglied des Revolutionsrates dr\u00fcckt es weniger diplomatisch aus. Sieben Jahre Gef\u00e4ngnis \u2013 Tuberkulose, Malaria, Rheumatismus, gebrochene Glieder.<\/p>\n

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    Aus den Kerkern des Imams befreit: Dieser Mann lag drei Jahre in Ketten. Mit Stemmeisen m\u00fcssen die Sodaten der Revolution die Fesseln von seinem Bein brechen<\/em><\/figcaption><\/figure>\n

    \u201eWenn ihr von der brutalen Unterdr\u00fcckung von Millionen Menschen durch einen Irrsinnigen lest, dann sind das f\u00fcr euch erg\u00f6tzliche Geschichten aus Tausendundeinernacht. \u201aStell dir blo\u00df vor, so was gibt es noch!\u2019 Doch was eine Haremsdame auf dem Hintern tr\u00e4gt, interessiert euch mehr als die f\u00fcnf Millionen, die langsam krepieren, weil ein Herr seinen Harem nicht aufgeben will. Wenn diese f\u00fcnf Millionen aber endlich die Nase voll haben, ein j\u00e4mmerliches Kuriosum der Vergangenheit zu bleiben, wenn sie die Verantwortlichen f\u00fcr ihre Misere davonjagen oder umbringen, dann runzelt ihr erschrocken die Stirn und sucht nach ideologischen Motiven, internationalen Intrigen und kommunistischen Agitatoren.\u201c<\/p>\n

    \u201eHier hatte keiner etwas gegen den Westen. Im Gegenteil. Besonders Deutschland war sehr beliebt. Die deutschen Fachleute, die im Auftrag ihrer Regierung unsere Bauern beraten, haben Gro\u00dfartiges geleistet. Aber heute schon ist das anders. Jeder Jemenit wei\u00df, welche Nationen uns anerkannt haben. Er f\u00fchlt sich ihnen verbunden. Automatisch. Sie sind seine Verb\u00fcndeten im Kampf gegen die Tyrannei. Die Blindheit des Westens will, da\u00df nur die kommunistischen und neutralen L\u00e4nder sich von der ersten Stunde an auf unsere Seite geschlagen haben. Auf die Seite des Volkes, mein Herr, vergessen sie das nicht. Denn das hier ist keine Palastrevolution herk\u00f6mmlicher Art, keiner der \u00fcblichen Personalwechsel an der Kasse und am Dr\u00fccker. Hier hat ein ganzes Volk mit tausend Jahren Versp\u00e4tung ganz einfach aufs Mittelalter geschossen.\u201c<\/p>\n

    Der Mann hat recht. Wir haben \u00fcberall begeisterte Menschen gesehen. In den St\u00e4dten, in den D\u00f6rfern fallen sich die M\u00e4nner vor Freude um den Hals.<\/p>\n

    Gewisse Informationen behaupten, El Sallal habe seinen \u201eG\u00f6nner und Besch\u00fctzer\u201c, den Imam El Badr, nur aus pers\u00f6nlichem Ehrgeiz gest\u00fcrzt. Unsinn! Die Revolte schwelt seit drei Jahren. In den letzten drei Jahren seines Lebens, die er in geistiger Umnachtung verbrachte, konnte der alte Imam Achmed sich kaum noch um die Staatsgesch\u00e4fte k\u00fcmmern. Fr\u00fcher hatte er jede Kleinigkeit selbst entschieden, denn Entscheidungen brachten Geld ein. Besonders aufmerksam verfolgte er die Eintreibung des ber\u00fcchtigten \u201eZehnten\u201c. Von allem, was im Jemen erzeugt und verkauft wurde, bekam er zehn Prozent in klingenden Maria-Theresien-Talern. In einem Land ohne Stra\u00dfen steckte er sogar Stra\u00dfengeb\u00fchren ein. Eine Fahrt \u00fcber Stock und Stein von Thais nach Sanaa kostet 18 Taler (60 DM).<\/p>\n

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    Die M\u00e4nner kauen Quat. Ein Rauschgift aus gr\u00fcnen Bl\u00e4ttern, das sie\u00a0\u00a0 stundenlang in der Backe tragen.<\/em><\/figcaption><\/figure>\n

    W\u00e4hrend der Imam dahinsiechte, hielten die Gouverneure die Stunde f\u00fcr gekommen, ihrerseits ihre Bankkonten in der Schweiz zu f\u00fcllen. Sie erh\u00f6hten den Abla\u00df \u2013 in manchen F\u00e4llen bis auf 90 Prozent -, konfiszierten L\u00e4ndereien und lie\u00dfen Widerspenstige niederkn\u00fcppeln.<\/p>\n

    Als El Badr vor f\u00fcnf Wochen die Nachfolge seines Vaters antrat (im Grunde illegal, denn das Imanat ist nicht erblich), versprach er durchgreifende Reformen. Es galt, sich popul\u00e4r zu machen und den Thron zu retten.<\/p>\n

    Die Scheiche begaben sich voller Hoffnung nach Sanaa, um nach altem Brauch die Gefolgschaft ihrer St\u00e4mme zu best\u00e4tigen. Diesesmal jedoch kamen sie nicht zur bedingungslosen Unterwerfung. Sie brachten Klagen, Forderungen, Pl\u00e4ne f\u00fcr eine Verfassung. Sie wollten erfahren, wie El Badr sich die Reformen vorstellte. Der lie\u00df sie wissen, da\u00df er, genau wie sein Vater, mit eiserner Hand regieren w\u00fcrde und schickte sie nach Hause.<\/p>\n

    \u201eFortschrittlich hatte sich El Badr nur so lange geb\u00e4rdet, wie sein Vater noch am Leben war und er die Sympathien der revolutionshungrigen Bauern und Offiziere brauchte, um an die Macht zu kommen. Zur Abschirmung ernannte er El Sallal zum Chef des Heeres. Er glaubte, ihn kaufen zu k\u00f6nnen. Der Rest ist bekannt. El Sallal entfachte die Revolution und beseitigte die tausend Jahre w\u00e4hrende Tyrannei.<\/p>\n

    Weniger bekannt ist die Tatsache, da\u00df schon einige Tage nach der Revolution die Scheiche aus allen Teilen des Landes nach Sanaa kamen, um der neuen Regierung ihre Unterst\u00fctzung zuzusichern.<\/p>\n

    Wir wohnten in Sanaa im Palast der Republik. So haben die Revolution\u00e4re eines der Schl\u00f6sser des Imam getauft, in dem sie ihr Hauptquartier aufgeschlagen haben. Meine Kollegin Claude Deffarge erhielt das sch\u00f6nste Zimmer. Zwei \u00e4gyptische Offiziere wurden ausquartiert, um der einzigen Frau im Palast Platz zu schaffen.<\/p>\n

    T\u00e4glich sahen wir die Scheiche mit El Sallal und Dr. Bedhani konferieren. Wir durften immer dabei sein, fotografieren, Fragen stellen. Es gab keine Geheimnistuerei. Selbst die kriegerischsten unter den St\u00e4mmen, die Zaramik, erschienen schon in den ersten Tagen nach dem Umsturz, um sich auf die Seite der Revolution\u00e4re zu stellen.<\/p>\n

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    Das ist das Empfangszimmer des neuen Ministerpr\u00e4sidenten des Jemen: Der Sekret\u00e4r r\u00e4umt sein \u201eB\u00fcro\u201c auf, sortiert Briefe und legt sie ab, w\u00e4hrend der F\u00fchrer der Revolution, El Sallal, solche empf\u00e4ngt, die von ihren St\u00e4mmen geschickt worden sind, um die Republik zu unterst\u00fctzen. Die neuen M\u00e4nner des Jemen sehen sich Problemen gegen\u00fcber, die f\u00fcr einen Europ\u00e4er unvorstellbar sind: Es gab bisher keine Verwaltung, keine Beamten, keine B\u00fcros, nicht einmal Schreibmaschine. Der Imam widersetzte sich jedem Fortschritt<\/em><\/figcaption><\/figure>\n

    \u201eWie wollen Sie mit diesen M\u00e4nnern Parteien und vielleicht sogar freie Wahlen organisieren?\u201c fragte ich Dr. Bedhani.<\/p>\n

    Er l\u00e4chelte. In einer archaischen Stammesgesellschaft kann zun\u00e4chst von Parteien keine Rede sein. Politik kann im Augenblick nur unter Ber\u00fccksichtigung der herk\u00f6mmlichen Strukturen gemacht werden. Die Scheiche des Landes werden einer Nationalversammlung angeh\u00f6ren. Aus ihr wird ein nationaler Verteidigungsrat hervorgehen.\u201c<\/p>\n

    \u201eWird Ihre Regierung Anspr\u00fcche auf die britische Kronkolonie Aden erheben?\u201c<\/p>\n

    Wir haben keine Anspr\u00fcche im Stil des Imam, dessen Hauptbesch\u00e4ftigung es war, Anspr\u00fcche auf Aden zu erheben und sein Geld in der Schweiz anzulegen. Wir sind jedoch f\u00fcr die Selbstbestimmung der V\u00f6lker. Es ist mithin Sache der Bev\u00f6lkerung von Aden \u00fcber ihre Zukunft zu entscheiden.\u201c<\/p>\n

    \u201eWelche Hilfe erhoffen sie von der Sowjetunion?\u201c<\/p>\n

    Er umging die Antwort: \u201eAlles, was wir von den Russen haben, sind ein paar Waffen, Panzerwagen und Flugzeuge, die vor sechs Jahren vom Imam erstanden worden sind. Sie sind in j\u00e4mmerlicher Verfassung. Wir haben gro\u00dfe M\u00fche, sie instand zu setzen.\u201c<\/p>\n

    \u201eStreben sie eine Union mit \u00c4gypten an?\u201c<\/p>\n

    \u201eIm Augenblick planen wir keine politische Union mit der Vereinigten Arabischen Republik. Wir haben innere Probleme ganz spezieller Art zu l\u00f6sen, die all unsere Kr\u00e4fte in Anspruch nehmen werden. F\u00fcr einen westlichen Menschen mu\u00df es unvorstellbar sein: Wir m\u00fcssen von Null anfangen. Wir haben keine Verwaltung, keine B\u00fcros, nicht einmal Schreibmaschinen, keine Beamten, nicht einmal Techniker oder Menschen, die qualifiziert w\u00e4ren. Wir haben auch keine Einnahmen. Hier hat es nie ein Budget gegeben \u2013 nur den Schatz des K\u00f6nigs. Wir m\u00fcssen zun\u00e4chst einmal Inventur machen. Und wir brauchen Hilfe. Die \u00c4gypter helfen uns schon. Wir haben auch andere Nationen um Beistand gebeten. Gern m\u00f6chten wir uns auch an Deutschland wenden, aber es ist zu schwierig, Abkommen zu schlie\u00dfen mit L\u00e4ndern, die uns nicht anerkannt haben. Wir brauchen dringend Techniker aus Deutschland.\u201c<\/p>\n

    \"\"In den St\u00e4dten gehen die Frauen verschleiert, wie hier in der Hauptstra\u00dfe von Sanaa. Aber der Islam ist im Jemen nicht strenger als in anderen arabischen L\u00e4ndern. Im Gegenteil. Auf den D\u00f6rfern zeigen die Frauen ihre Gesichter. Selbst zur Arbeit auf den Feldern schminken sie sich<\/em><\/p>\n

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    \nSolche Gespr\u00e4che wurden zwischen zwei Empf\u00e4ngen gef\u00fchrt. Es gab keine Wichtigtuerei, kaum ein Protokoll. Mittags und abends sa\u00dfen wir alle zusammen an einem riesigen Tisch mit hundert Gedecken. Alle, das hei\u00dft die Bewohner des Schlosses: Oberst El Sallal, die Minister, \u00e4gyptische Offiziere, Scheiche und W\u00fcrdentr\u00e4ger. Es wimmelte von \u00c4gyptern: Fallschirmj\u00e4gern, Piloten, Technikern, Beamten. \u00dcber hundert wohnten allein in unserem Palast. Jeden Tag bringen Transportflugzeuge aus Kairo Verst\u00e4rkung heran. \u00c4gyptische Soldaten bewachen die Flugpl\u00e4tze und sitzen des Nachts von den T\u00fcren ihrer Offiziere. \u00c4gyptische Journalisten sind mit uns die einzigen ausl\u00e4ndischen Korrespondenten.<\/p>\n

    Nassers Hilfe ist massiv. Au\u00dfer milit\u00e4rischer Unterst\u00fctzung und diplomatischer R\u00fcckendeckung gegen Saudi-Arabien und Jordanien liefert er Funktion\u00e4re, die beim Aufbau der jemenitischen Verwaltung Hilfestellung leisten sollen.<\/p>\n

    Auch an Propagandisten fehlt es nicht. Redakteure des Senders \u201eDie Stimme der Araber\u201c ziehen durch die D\u00f6rfer und nehmen die Begeisterungsausbr\u00fcche der Bev\u00f6lkerung auf Tonband auf. Dabei verpassen sie keine Gelegenheit die Schlagworte der arabischen Einheit ins Mikrophon zu schreien. Parolen, die wie ein Lauffeuer durch die D\u00f6rfer gehen.<\/p>\n

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    \u00a0Das Volk im Jemen feiert seine Freiheit mit Demonstrationen, Spruchb\u00e4nder und mit Bildern von Nasser. Wenn die Revolution\u00e4re von der Bedrohung durch Saudi-Arabien sprechen, werden die S\u00e4bel in die Luft gerissen<\/em><\/figcaption><\/figure>\n

    Kein Zweifel, die \u00c4gypter sind beliebt. Man betrachtet sie als die gro\u00dfen Gelehrte<\/p>\n

    Br\u00fcder, die selbstlos zu Hilfe eilen. Wir sind mit ihnen durch das Land gefahren. \u00dcberall wurden sie wie Befreier gefeiert<\/p>\n

    Hieraus darf man aber nicht schlie\u00dfen, da\u00df die neuen M\u00e4nner im Jemen von den \u00c4gyptern bevormundet oder gar beherrscht werden. Daf\u00fcr sind sie zu stolz. Die fast krankhafte Empfindlichkeit der Jemeniten ist sprichw\u00f6rtlich. Und jeder der f\u00fchrenden M\u00e4nner l\u00e4\u00dft klar durchblicken, da\u00df es hier ausschlie\u00dflich um den Jemen geht, wo Au\u00dfenstehende zwar helfen, jedoch unter keinen Umst\u00e4nden befehlen d\u00fcrfen.<\/p>\n

    Im \u00fcbrigen wird \u2013 wie nach jeder Revolution \u2013 die jetzige Regierung kaum sechs Monate \u00fcberleben. Die Ministerposten wurden in der Eile nach revolution\u00e4ren Verdiensten verteilt.<\/p>\n

    M\u00e4nner, die in Gef\u00e4ngnissen sa\u00dfen, wurden belohnt und geehrt. In kurzer Zeit werden Fachleute sie abl\u00f6sen.<\/p>\n

    Sie sind schon unterwegs. Im Laufe der letzten Jahrzehnte haben \u00fcber eine Million\u00a0Jemeniten im Ausland Zuflucht gesucht. Sie wohnen in Djibuti, in \u00c4thiopien, \u00c4gypten, in Europa und Amerika. Viele haben studiert. Jetzt wollen Tausende zur\u00fcck. Sie werden den Kern der Verwaltung bilden.<\/p>\n

    Auch spezialisierte Arbeiter wird es zur Gen\u00fcge geben. Wahrscheinlich zu viele. In der britischen Kronkolonie Aden arbeiten hunderttausend Jemeniten. Auch viele von ihnen wollen zur\u00fcck in die Heimat. Vor den Gewerkschaftsb\u00fcros rotten sie sich t\u00e4glich zusammen und fordern Transportm\u00f6glichkeiten. \u201eWir wollen die Republik verteidigen\u201c, rufen sie. \u201eGebt uns Lastwagen und Gewehre.\u201c<\/p>\n

    F\u00fcnftausend sind bereits im Jemen angekommen, wo sie sich freiwillig zur Nationalgarde gemeldet haben. Um einer Massenabwanderung vorzubeugen, haben die Engl\u00e4nder schnellstens die L\u00f6hne erh\u00f6ht. Es n\u00fctzt nichts.<\/p>\n

    \u201eWir versuchen, sie zu halten, denn was sollen diese Facharbeiter im Jemen, der noch keine Industrie hat,\u201c erkl\u00e4rte uns der Generalsekret\u00e4r der Gewerkschaften in Aden. \u201eWir verf\u00fcgen im Augenblick \u00fcber viel wirksamere Mittel, der jemenitischen Revolution zu helfen.<\/p>\n

    Wenn die Engl\u00e4nder ernsthaft versuchen sollten, den Imam El Badr oder seinen Onkel Hassan zu unterst\u00fctzen, organisieren wir einen Generalstreik und legen den ganzen britischen St\u00fctzpunkt lahm. Wir haben achtzehntausend Mitglieder und kontrollieren siebzigtausend Arbeiter. Das sind bessere Waffen als ein paar Flinten. Und wie soll der Jemen heute all diese Fachkr\u00e4fte einsetzen? Wie soll er sie ern\u00e4hren?\u201c<\/p>\n

    Die gleiche bange Frage h\u00f6rten wir in Jemens Hauptstadt Sanaa. Sie und die materielle Zukunft des Landes besch\u00e4ftigen die verantwortlichen M\u00e4nner mehr als die Flucht El Badrs oder die Gefechte an der saudi-arabischen Grenze. Dort wird es noch lange Unruhen geben. Im Norden wohnen die wenigen Nomaden des Landes, die diesseits wie jenseits der Grenze zu Hause sind. Sie waren seit jeher k\u00e4uflich. Im Augenblick bezahlt Saudi-Arabien besser. Mit Gold.<\/p>\n

    Aber hier werden keine entscheidenden Schlachten geschlagen. Es wird ein wenig gemordet und gepl\u00fcndert. Das gleiche Spiel trieb der verstorbene Imam jahrzehntelang mit den Sultanaten im britischen Protektorat. Er schickte gedungene St\u00e4mmchen \u00fcber die Grenze, um die Abtr\u00fcnnigen in Atem zu halten.<\/p>\n

    Die Zeiten, in denen Stammesfehden oder bezahlte Nomaden das Schicksal einer Nation bestimmten, sind l\u00e4ngst vor\u00fcber, selbst im Jemen. Messer, Gift und Gold haben auch dort einer neuen politischen Waffe weichen m\u00fcssen: der \u00f6ffentlichen Meinung. Diese Umw\u00e4lzung ist nicht auf die junge Revolution vom 27. September zur\u00fcckzuf\u00fchren. Sie bildet im Gegenteil ihre Grundlage. Sie beginnt mit der Erfindung des Transistors, genau wie die industrielle Revolution des Westens an die Erfindung der Dampfmaschine gebunden ist.<\/p>\n

    Es gibt im Jemen niemanden mehr, der nicht Radio h\u00f6rt. Im \u201eVerbotenen W\u00fcstenk\u00f6nigreich\u201c, wie man es so sch\u00f6n nannte, wei\u00df jeder mehr \u00fcber uns als wir \u00fcber dieses Land. Seit Jahren hat jedes Dorf Verbindung zur Welt. Die Bauern in den h\u00f6chsten Bergen, wild aussehende Menschen, die nie ein Auto gesehen haben, wissen genau, wer Chruschtschow ist und was die Amerikaner \u00fcber Kuba denken, wie viele Sputniks im All herumjagen und da\u00df die Erde sich politisch in drei gro\u00dfe Gruppen aufteilt: den Westen, den Osten und das Niemandsland der Armen.<\/p>\n

    \u00dcberall, wo wir sagten, da\u00df wir aus Deutschland kommen, lautete die erste Frage: \u201eOst oder West?\u201c Es lag noch kein Urteil in dieser Frage. Noch nicht. Meistens jedoch hie\u00df es weiter: \u201eWarum hat Westdeutschland unsere Regierung noch nicht anerkannt? Steht es etwa auf seiten des Tyrannen?\u201c<\/p>\n

    \"\"<\/p>\n

    Die Frauen schm\u00fccken sich mit der W\u00e4hrung des Landes: Maria-Theresien-Taler.
    \n<\/em>Er ist vier Mark 50 wert<\/em><\/p>\n

    Alle herk\u00f6mmlichen Ansichten \u00fcber isolierte und r\u00fcckst\u00e4ndige L\u00e4nder sind hinf\u00e4llig seit\u00a0der Erfindung des Transistors. Es ist fatal f\u00fcr den Westen, wenn er in den Entwicklungsl\u00e4ndern die starken M\u00e4nner von gestern besch\u00fctzt. Es geht darum, viele Freunde zu gewinnen. Die Welt wird langsam im wahrsten Sinne des Wortes eine Demokratie, in der Meinung und Wille der Mehrheit die Zukunft bestimmen.<\/p>\n

    Im Kampf um diese Meinung liegt der Westen weit zur\u00fcck. Seine Haltung im Jemen beeinflu\u00dft nicht nur ein paar Millionen Bergbauern. In der ganzen \u201eDritten Welt\u201c hei\u00dft es wieder einmal: \u201eDer Westen ist der Freund der Tyrannen.\u201c<\/p>\n

    \"\"<\/p>\n

    Wie es mit der Revolution weitergeht,
    \nerfahren Sie in den f\u00fcnf folgenden
    \nStern<\/em> Reportagen aus dem Jahr 1963<\/strong><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

    Stern, Heft 42, 4. November 1962\u00a0 Die Sternreporter Gordian Troeller und Claude Deffarge waren die ersten ausl\u00e4ndischen Reporter in der Republik Jemen. Sie flogen nach Aden, der britischen Kronkolonie am Roten Meer. Dort mieteten sie einen Jeep und fuhren ohne Visum, \u00fcber Stock und Stein, ins \u201eVerbotene Land\u201c. Die Revolution\u00e4re nahmen sie herzlich auf. Sie…<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":59657,"parent":54114,"menu_order":0,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":{"_seopress_robots_primary_cat":"","_seopress_titles_title":"","_seopress_titles_desc":"","_seopress_robots_index":"","footnotes":""},"categories":[602],"tags":[],"class_list":["post-54116","page","type-page","status-publish","has-post-thumbnail","hentry","category-jemen","entry","has-media"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54116"}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/types\/page"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/users\/1"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=54116"}],"version-history":[{"count":5,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54116\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":65051,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54116\/revisions\/65051"}],"up":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54114"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media\/59657"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=54116"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=54116"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=54116"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}