{"id":54138,"date":"2017-03-11T14:18:42","date_gmt":"2017-03-11T13:18:09","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=54138"},"modified":"2024-03-13T18:28:50","modified_gmt":"2024-03-13T17:28:50","slug":"durchs-blutige-kurdistan","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/aufstande-und-freiheitskampfe\/durchs-blutige-kurdistan\/","title":{"rendered":"Durchs blutige Kurdistan I (Kurdistan)"},"content":{"rendered":"

Stern, Heft 3, 19. Januar 1964<\/em><\/p>

Es geht auch ohne Gaskammern und Genicksch\u00fcsse. Um ein Volk zu ermorden, gen\u00fcgen D\u00fcsenbomber gegen schutzlose D\u00f6rfer, Panzer gegen Frauen und Kinder, Hunger in K\u00e4lte und Schnee – gegen zwei Millionen Kurden, die im Norden des Irak leben. – Ihr Verbrechen? Der Wunsch nach Selbstbestimmung. Sonst nichts. Allein. Selbst dem Roten Kreuz untersagten die Iraker, Hilfe zu bringen. Sie wollen keine Zeugen. STERN bat nicht um Erlaubnis. Er schickte seine Reporter auf Schleichpfaden ins blutige Kurdistan.<\/em><\/strong><\/p>

Der Schah von Persien liebt uns nicht. Unsere Berichte \u00fcber sein Land haben ihm nicht gefallen. Wir k\u00f6nnen deshalb kaum damit rechnen, da\u00df die SAVAC, der allm\u00e4chtige Sicherheitsdienst Persiens, die Augen zudr\u00fcckt, w\u00e4hrend wir ins irakische Kurdistan hin\u00fcberwechseln. Und doch f\u00fchrt der einzige Weg \u00fcber Persien.
Durch den Irak zieht sich die Front zwischen Armee und Rebellen. Syrien k\u00e4mpft ebenfalls gegen die kurdischen Partisanen. Die T\u00fcrken ihrerseits haben das hauseigene Kurdenproblem fremden Augen entzogen. Nachdem sie in den zwanziger Jahren Tausende niedergemacht und die \u00dcberlebenden zu \u201eBergt\u00fcrken“ ernannt hatten, erkl\u00e4rten sie ihr Kurdistan zur verbotenen Milit\u00e4rzone, um ungest\u00f6rt die Vert\u00fcrkung der Kurden zu vollenden.
Wir m\u00fcssen also \u00fcber Persien. Auch hier bedarf es einer speziellen Erlaubnis, um ins persische Kurdistan zu gelangen und somit an die Grenze. Aber der Schah hat gro\u00dfe Sorgen. Die St\u00e4mme S\u00fcdpersiens schie\u00dfen auf seinen Soldaten, die Gro\u00dfgrundbesitzer meutern, die Bauern warten ungeduldig auf die versprochenen Reformen, und die Mullahs organisieren den Widerstand. Unter diesen Umst\u00e4nden kann er es sich nicht erlauben, seine kurdischen Untertanen zu ver\u00e4rgern, indem er ihre im Irak k\u00e4mpfenden Br\u00fcder wie Feinde behandelt. In Teheran gern gesehene Journalisten erhalten deshalb ohne Schwierigkeiten Passierscheine. Einige wurden sogar von h\u00f6flichen Sicherheitsoffizieren bis an die Grenze begleitet.<\/p>

Verzeihung – hier wird geschossen<\/h3>

Wir hingegen m\u00fcssen R\u00e4uber und Soldat spielen und k\u00f6nnen nur heimlich, als Kurden verkleidet, an die Grenze fahren. – Dort sind zwei Maultiere p\u00fcnktlich zur Stelle. Die kurdischen Rebellen haben sie aus dem Irak geschickt.
„Ich schw\u00f6re auf den Kopf meiner Mutter, da\u00df ich Sie heil nach dr\u00fcben bringe“, fl\u00fcstert der erste Maultiertreiber und zieht uns ins Geb\u00fcsch, „besonders Madame.“
Ich frage mich gar nicht, warum er diese h\u00f6fliche Einschr\u00e4nkung macht. Mir geht es zun\u00e4chst darum, meine Knochen wieder zusammenzufinden. Nach achthundert Kilometern auf Feldwegen f\u00fchle ich mich wie ger\u00e4dert. W\u00e4hrend unser Wagen mit gel\u00f6schten Lichtern den R\u00fcckweg nach Teheran antritt, k\u00fcmmern sich unsere neuen Freunde um das Gep\u00e4ck. Es ist stockdunkel.
Claude tastet die Maultiere ab.
„Wo sind die Kameras?“
Ich ziehe eine Taschenlampe hervor. Sofort werfen sich unsere beiden Begleiter \u00fcber meinen Arm.
„Verzeihung, mein Herr“, fl\u00fcstert einer. „Aber hier wird geschossen.“
„Sie d\u00fcrfen auch nicht rauchen, au\u00dfer wenn wir’s ausdr\u00fccklich sagen“, f\u00fcgt der Zweite hinzu.
„Wie lange dauert der Ritt?“ will ich wissen.
„Zehn Stunden.“<\/p>

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Die Kurden schieben sich wie ein Keil ins Herz des Nahen Ostens. Ein Bergvolk mit eigener Sprache, einheitlicher Zivilisation und einem starken Gef\u00fchl der Zusammengeh\u00f6rigkeit. Und doch haben sie nie einen eigenen Staat gehabt. Die Grenzen fremder Nation schneiden durch ihr Gebiet und verteilen rund acht Millionen Kurden auf f\u00fcnf verschiedene Staaten. Russland und Syrien haben den kleinsten Anteil. In der T\u00fcrkei jedoch eben fast drei, im Irak zwei und in Persien weiter drei Millionen Kurden.<\/em>
In den letzten 500 Jahren hat es in diesen L\u00e4ndern mehr Kurdenaufst\u00e4nde gegeben als Jahrzehnte. Aber fremde Interessen waren jedesmal st\u00e4rker als der kurdische Drang nach Autonomie und Einheit.<\/em>
Vor zwei Jahren haben sich die Kurden im Irak erhoben. <\/em>
Sie verlangen ein autonomes Kurdistan innerhalb des irakischen Staates: eigene Schulen in ihrer Sprache, eigene Verwaltung und aktive Beteiligung an der Regierung des Iraks. Ein m\u00f6rderischer Krieg ist im Gange, dessen Ausgang eine entscheidende Verschiebung der Machtverh\u00e4ltnisse im Nahen Osten zur Folge haben kann.<\/em><\/p>

In Kurdistan ist pokern sinnlos<\/h3>

In Teheran hatte man uns gesagt, es sei ein kurzer, gem\u00fctlicher Spaziergang. Die Kurden scheinen Humor zu haben. Zwei Stunden sp\u00e4ter verschwindet Claude in einem Sumpf. Wir ziehen sie mit meinem Mantel wieder heraus. Und sie darf nicht einmal weinen. „Nicht laut, denn hier wird geschossen“, wiederholen unsere F\u00fchrer mit eindringlicher Monotonie.
Als wir wieder aufsitzen, bin ich froh, da\u00df der Mond nicht scheint und wir nichts sehen. Unsere Kurden haben den Weg verloren. Sie f\u00fchren die Maultiere im Zickzack \u00fcber eine steile Felswand, um den Pfad wieder zu finden. Unter den Hufen br\u00f6ckelt das Gestein. Die Tiere rutschen. Wo bleibt meine Angst? Die \u00dcberm\u00fcdung zaubert Bilder hervor. Ein Strauch schl\u00e4gt mir ins Gesicht. Er wird zur Hand. Wessen Hand? Gutes Zeichen? Schlechtes Zeichen? Warum fragen? Sternschnuppen. Blaue. Gr\u00fcne. Rote. Sie fallen nicht. Sie steigen kerzengerade zum Himmel empor und werden pl\u00f6tzlich zu Pelikanen. Zwei Kamele versperren den Weg. „Notausgang“, sagt das eine und sperrt sein Maul auf. Ich reite hindurch. Neben mir w\u00e4chst eine Tankstelle aus dem Boden. Der Tankwart gr\u00fc\u00dft: „Super mein Herr?“ – „Ja, f\u00fcllen Sie auf.“ Der Mann wird zum persischen Polizisten er z\u00fcckt ein Messer, schneidet meinem Maultier den Schwanz ab und schl\u00e4gt mir damit ins Gesicht. Schon wieder ein Strauch. Nebelschleier tanzen um uns herum. Geister. Der gr\u00f6\u00dfte hat einen Schnurrbart. Er schwebt auf den Kurden zu, der unsere Gruppe f\u00fchrt, packt ihn bei der Hand und zieht ihn nach links. Gemeinsam springen sie \u00fcber einen Felsen und laufen ein paar Schritte.
„Wir haben den Pfad gefunden“, sagt der Kurde. „Jetzt k\u00f6nnen wir ausruhen.“
Wir sitzen ab. Das Blut beginnt wieder normal durch die Glieder zu flie\u00dfen. Der Spuk ist verschwunden.
Einige Stunden sp\u00e4ter durchqueren wir ein kleines Dorf. Die Maultiere m\u00fcssen sich durch enge Tore zw\u00e4ngen. An einem Querbalken bleibe ich h\u00e4ngen und werde abgeworfen. Als ich wieder auf den Beinen stehe, bin ich allein. Auf mein leises Rufen antwortet nur das Bellen der Hunde. Sie kommen n\u00e4her, bilden einen Kreis. Gro\u00dfe Sch\u00e4ferhunde mit gestutzten Ohren. Sie sind, Gott sei Dank, auf B\u00e4ren und W\u00f6lfe abgerichtet, nicht auf Menschen. Ich habe trotzdem Angst, denn sie lassen mich nicht durch, und irgendwo in der Nacht entfernen sich Claude und unsere F\u00fchrer, die wahrscheinlich nicht einmal gemerkt haben, da\u00df ich zur\u00fcckgeblieben bin.
Ein Mann tritt aus der n\u00e4chsten H\u00fctte. Seine Petroleumslampe erleuchtet ein zerfurchtes Gesicht.
„Was suchst du?“ fragt er.
Ich wei\u00df nicht, ob ich noch in Persien bin oder schon im Irak, und mir f\u00e4llt nur die d\u00fcmmste Antwort ein: „Ich gehe spazieren.“
Er l\u00e4chelt nicht einmal und bittet mich in sein Haus. Ich wehre ab und gestehe: \u201eIch habe meine Freunde verloren.“
„Wohin wollten deine Freunde?“
Was n\u00fctzt es, hier im wilden Kurdistan pokern zu wollen? Ich bin diesem Mann ausgeliefert, und er wei\u00df es.
„Wir wollen zu den kurdischen Rebellen im Irak. Wir sind Journalisten. Bin ich schon im Irak?“
„Nein, das hier ist Persien.“
Ich w\u00fchle in meinen Taschen und ziehe Geld heraus. Viel Geld.
„Hier bring mich nach dr\u00fcben. Bitte.“
Er hebt langsam seine Lampe, und meine ausgestreckte Hand verschwindet im Dunkeln. Im Lichtstrahl bleiben nur unsere Gesichter.
„Komm schnell, sonst schnappen sie dich.“<\/p>

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Nach wenigen Minuten schon finden wir Claude und unsere F\u00fchrer. Als ich mich bei dem alten Mann bedanken will, sagt er nur: \u201eIch bin Kurde\u201c, und er verschwindet im Dunkel. Nicht zehn, nein vierzehn Stunden vergehen, bevor wir P. erreichen, die erste Stadt im irakischen Kurdistan. Nach solchen Anstrengungen gibt es eigentlich nur eine Reaktion: sich selbst bedauern und ein Bett suchen. Vor dem Anblick jedoch, der sich uns darbietet, verschwindet jedes selbstgef\u00e4llige Mitleid. Zwei Drittel des St\u00e4dtchens liegen in Tr\u00fcmmern. Zerst\u00f6rt von Bomben der irakischen Luftwaffe.
Ausgebombte Gro\u00dfst\u00e4dte wirken oft unwirklich, und es ist nicht immer leicht, eine Beziehung herzustellen zwischen den Menschen, die dort lebten, und jenen surrealistischen Fetzen aus Beton und Eisen. Hier aber glaubt man noch das Leben zu f\u00fchlen, das unter diesen kleinen H\u00e4usern pulsierte, von denen jetzt nur noch Sand und Steine \u00fcbrig geblieben sind. Tote Armut r\u00fchrt menschlicher an als zerst\u00f6rter Reichtum. Mir wenigstens will es hier so scheinen.<\/p>

Ziegen sind gute Kinderm\u00e4dchen<\/h3>

Eine Delegation kurdischer Partisanen kommt uns durch die Ruinen entgegen. \u00dcberall wird wieder gebaut. Wer nicht erfrieren will, braucht ein Dach f\u00fcr den Winter. Jeder arbeitet. Kinder, Greise, Frauen. Sie gr\u00fc\u00dfen, ohne zu l\u00e4cheln. Der Ernst dieser Menschen \u00fcberrascht uns ebenso wie ihre stille Gesch\u00e4ftigkeit. Es ist die Lautlosigkeit der Angst. Als wolle niemand verraten, da\u00df ein Drang nach Sicherheit nur neue Ziele baut f\u00fcr neue Bomben. Jeden Tag k\u00f6nnen sie wieder fallen. Nicht ein einziges Flakgesch\u00fctz bewacht die Stadt \u2026
\u201eNur die Hunde heulen, bevor die Flugzeuge kommen“, erz\u00e4hlt eine Frau, die eine T\u00fcr aus alten Kisten nagelt, „dann rennen wir in die Berge.“
Sie ist blond und hat blaue Augen wie viele Kurden, die im Gegensatz zu den semitischen Arabern der indoeurop\u00e4ischen V\u00f6lkergruppe angeh\u00f6ren. Auch tr\u00e4gt sie keinen Schleier. Die kurdischen Frauen zeigen ihr Gesicht, obwohl sie Mohammedanerinnen sind. Sie schminken ihre Augen umrahmen die Stirn mit goldenen M\u00fcnzen. Selbst bei der Arbeit tr\u00e4gt diese Frau einen S\u00e4ugling auf dem R\u00fccken.
\u201eWoher wissen die Hunde, wann die Flugzeuge kommen?“ frage ich.
\u201eTiere f\u00fchlen immer, wann der Tod kommt. Auf dem R\u00fccken einer Ziege w\u00e4re mein Kleiner besser aufgehoben als bei mir.“
Was mir nach dieser Nacht noch an gesundem Menschenverstand \u00fcbrig bleibt, ruft zum Widerstand auf. Soviel ich wei\u00df, reagieren Tiere mit Panik, wenn Gefahr droht – und die Eule heult auch dann, wenn niemand stirbt. Ich bitte den Partisanen, der uns begleitet und der in Bagdad studiert hat, meine wankende Logik zu st\u00fctzen.
Er zupft verlegen an seinem Turban. „Eins ist sicher. Sobald Flugzeuge kommen, laufen alle in die Berge. Ziegen und Hunde sind immer als Erste in Deckung.“
Die Frau wird sch\u00f6n vor Zorn. „Sie glauben mir nicht? Gut. Wie erkl\u00e4ren Sie, da\u00df bei jedem Angriff viele Menschen sterben und nur selten Tiere? Meine Mutter ist tot, aber meine Ziegen leben. Alle.“
Sie wendet sich wieder ihrer T\u00fcr zu. Auf dem oberen Brett steht „Ceylon Tea“ und der Bestimmungshafen „Bassorah\u201c – Basra. Auf dem anderen wirbt ein rot-gr\u00fcner Clown f\u00fcr die beste Seife der Welt. Sie nagelt das Brett so, da\u00df er auf dem Kopf steht.
„Haben Sie Farbe f\u00fcr die T\u00fcr?“
Schreck st\u00fcrzt in ihre Augen. „Pscht – um Gottes willen. Im Ungl\u00fcck darf man keine Pl\u00e4ne machen. Dies ist das dritte Haus, das wir in acht Monaten aufbauen, und hoffentlich das letzte.“
„Schon gut – schon gut“, die Stimme geh\u00f6rt einem Mann, der einen schweren Felsblock auf seinem R\u00fccken heranschleppt. „Meine Frau schw\u00e4tzt zu viel. Alles liegt in Allahs Hand. Er hat uns genug Zeit gelassen, noch vor dem Winter ein neues Haus zu bauen. Wir haben Reis und Tee. Er wird uns weiter besch\u00fctzen. – Na, komm schon, nimm mir den Stein ab.“
Vier nackte W\u00e4nde und ein Dach aus Reisig und feuchter Erde – etwas Reis, viel Tee, ein wenig Zucker, Milch, einige Zwiebeln und manchmal einen Happen Fleisch – mehr verlangen diese Menschen nicht, um leben zu wollen.<\/p>

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Vor f\u00fcnf Minuten hatte dieses Kind eine Mutter und ein Heim. <\/em>Jetzt sch\u00fctzen es nur noch Felsen vor den Bomben der irakischen Luftwaffe. Das <\/em>Haus ist zerst\u00f6rt. Die Mutter liegt unter den Tr\u00fcmmern. <\/em>Und die Piloten \u00fcben sich im Scharfschie\u00dfen auf fliehende Kinder und Tiere<\/em><\/p>

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Nur die Reichen kann man z\u00e4hlen<\/h3>

Hier sind sie weit von der Front entfernt und k\u00f6nnen sich den Luxus der Hoffnung leisten. Die letzten Bomben sind vor acht Wochen gefallen. Im Inneren des Landes sieht es anders aus. Auf unserem Weg zur Front begegnen wir Tausenden, die vor dem Winter zittern wie vor ihren Henker. Sie haben keine Zeit mehr, keine Werkzeuge, keinen Platz, ein Haus zu bauen. Und die noch halbwegs stehenden D\u00f6rfer haben keinen Platz, die Flut der Fl\u00fcchtlinge aufzunehmen. In normalen Zeiten wohnen f\u00fcnf bis zehn Personen in einem Zimmer. Wenn heute alle ein Dach haben sollen, m\u00fcssen die Kurden stehend schlafen.
„Salam aleikum – der Friede sei mit dir.“
Ich kann den Gru\u00df nicht erwidern. Der alte Mann ist so pl\u00f6tzlich hinter dem Felsvorsprung erschienen, da\u00df mein Pferd scheut. Auf engen Bergpfaden ist schon eine Begegnung auf gerader Strecke ein Risiko; in den Kurven kann man nur noch beten. Maultiere und Esel bleiben stur stehen, aber Pferde sind nun einmal edel und haben Nerven. Meins mu\u00df besonders edel sein. Gott sei Dank sind die Kurden echte Bauern. Der alte Mann hebt den Kopf und zischt leise durch die Z\u00e4hne. Zwei j\u00fcngere M\u00e4nner, die hinter ihm erscheinen, machen gierig Schl\u00fcrfger\u00e4usche und die wiegen sich langsam hin und her.
Dieses Schauspiel scheint mein Pferd ebenso zu faszinieren wie mich selbst. Wir haben beide den Abgrund vergessen, der eben noch einige Zentimeter zur Rechten unwiderstehlich g\u00e4hnte. Und ehe wir Zeit zu neuer Angst haben, hat ein Kurde die Z\u00fcgel ergriffen, w\u00e4hrend ein anderer mich vom Sattel zieht.
\u201eAleikum es-salam“, sage ich, \u201emit euch sei der Friede“, und selten hat ein Gru\u00df so echt geklungen.
Hinter dem Felsvorsprung sitzt eine Gruppe von vier Frauen und drei M\u00e4nnern. Ich setze mich zu Ihnen, um auf Claude zu warten, die mit Maultier und Eskorte weniger schnell vorw\u00e4rtskommt als mein Pferd.
Nachdem die \u00fcblichen H\u00f6flichkeitsfloskeln die Runde gemacht haben, bringt ein Mann mir etwas Wasser. Die Frauen blicken stumm zur Erde. Eine weint. Sie ist vielleicht zwanzig. Pl\u00f6tzlich pre\u00dft sie H\u00e4nde gegen ihre Br\u00fcste und schluchzt laut auf.
„Es ist die Milch“, sagt der alte Mann. „In ein paar Tagen ist es vorbei \u2026 „Und er erz\u00e4hlt mir die Geschichte seiner kleinen Gruppe.
Sie wohnten in einem Dorf wenige Kilometer n\u00f6rdlich von Sulaimanija. Im Niemandsland. Das hei\u00dft, tags\u00fcber kamen oft irakische Soldaten und nachts manchmal kurdische Partisanen.
Sulaimanija ist eine der drei gro\u00dfen St\u00e4dte im irakischen Kurdistan. Die anderen sind Kirkut und Arbil. Alle drei sind von irakischen Truppen besetzt. Die Stra\u00dfe jedoch, die diese St\u00e4dte verbindet, und die Berge und Hochebenen, die sie umgeben, werden von den Partisanen kontrolliert. Diese St\u00e4dte sind praktisch eingeschlossen und k\u00f6nnen nur aus der Luft oder von starken Geleitz\u00fcgen versorgt werden.
Die D\u00f6rfer um Sulaimanija boten beiden Seiten Vorteile. Die irakischen Truppen fanden hier Lebensmittel, die Rebellen Unterschlupf auf ihren n\u00e4chtlichen Streifz\u00fcgen in die Stadt, wo sie ihrerseits K\u00e4ufe t\u00e4tigten, Waffen stahlen oder Funktion\u00e4re entf\u00fchrten, die sich bei der Unterdr\u00fcckung der kurdischen Bev\u00f6lkerung besonders hervorgetan hatten.
In solch einem Dorf wohnten diese Leute. Vorgestern nun hatte der Regen begonnen, verfr\u00fcht, und alle Erwachsenen mussten in den Feldern Hand anlegen. – Als sie zur\u00fcckkamen, war das Dorf nicht mehr da. Panzer hatten die H\u00e4user niedergewalzt.
„Und die Kinder, die Alten?“
„Die waren davongelaufen, au\u00dfer dem M\u00e4dchen dieser jungen Frau. Man hatte es im Haus vergessen.“
Mir will es nicht in den Kopf, da\u00df diese Leute zu den Rebellen fl\u00fcchten. Warum gehen Sie nicht nach Sulaimanija, wo es Licht gibt und Heizung und keine Bomben fallen?
„Weil die Soldaten uns davonjagen. Selbst wenn wir ‚reink\u00f6nnten, wovon sollten wir leben?“
„Ich war noch vor sechs Tagen in Sulaimanija“, sagt einer der jungen M\u00e4nner. „Ich hatte zehn Dinar (ungef\u00e4hr hundert Mark). Wir brauchten Tee, Zucker und Petroleum. Was soll ich Ihnen sagen? Ich konnte mich nicht von dem Geld trennen. Alles war so teuer. Zehn-, nein, zwanzig Mal teurer als fr\u00fcher.“
„Und wie leben die Leute in Sulaimanija?“
„Die Armen verhungern.“
„Wie viele Menschen gibt es dort?“
„Mehr als hunderttausend.“
„Wie viele sind arm?“
Er sieht mich an, als mache mein Unwissen die ganze Unterhaltung sinnlos.
„Nur die Reichen kann man z\u00e4hlen.“
Auf einem vorgeschobenen Posten der Rebellen, f\u00fcnf Kilometer nur von Sulaimanija entfernt, erfahren wir mehr \u00fcber die Ausma\u00dfe der Not.
Die irakischen Truppen haben die H\u00e4user durchk\u00e4mmt und die H\u00e4lfte aller Vorr\u00e4te beschlagnahmt. Feuerung ist so knapp geworden, da\u00df die Familien ganzer Stra\u00dfen sich zusammentun, damit nur eine K\u00fcche f\u00fcr alle kocht. Die Gef\u00e4ngnisse der Stadt sind \u00fcberf\u00fcllt. Die Frauen jener M\u00e4nner, die sich zu den Partisanen schlagen, werden mi\u00dfhandelt, deportiert, einige zu Tode gefoltert. Ganze Stadtteile werden aufgefordert, Polizei- und Spitzeldienste f\u00fcr die irakischen Beh\u00f6rden zu leisten. Die meisten M\u00e4nner weigern sich. Zur Vergeltung werden ihre H\u00e4user zerst\u00f6rt. Obdachlos geworden, m\u00fcssen Tausende die Stadt verlassen. \u00dcberall auf unserem Weg begegnen wir M\u00e4nnern mit Maultieren und Eseln. Sie folgen dem Appell der Partisanen und schleichen sich nachts an Sulaimanija heran, um die Fl\u00fcchtlinge in die Berge zu f\u00fchren. Diese stumm durch die Nacht wandernden Bauern und ihre Tiere sind der eindrucksvollste Beweis der kurdischen Solidarit\u00e4t, den wir auf dieser Reise erlebten. Viele kommen von weit her, sind Tage unterwegs. Beim Rendezvous erscheinen sechshundert Mann mit \u00fcber tausend Tieren.
Was in Sulaimanija geschieht, wiederholt sich in den meisten D\u00f6rfern der Umgebung. Der Zerst\u00f6rung entgehen nur die D\u00f6rfer kurdischer Gro\u00dfgrundbesitzer, die mit ihren Bauern auf irakischer Seite k\u00e4mpfen. \u00c4hnliche Zust\u00e4nde herrschen in Kirkut und Arbil und Umgebung. \u00dcber die Front im Norden k\u00f6nnen wir nicht berichten; der verfr\u00fcht einsetzende Winter hinderte uns daran, Gebiete n\u00f6rdlich von Arbil zu besuchen.
Den Zweck dieser systematischen Vertreibung erkl\u00e4rt uns der Kommandant des Vorpostens.
„Die Iraker wollen uns unter der Flut der Fl\u00fcchtlinge erdr\u00fccken. Mit Waffen k\u00f6nnten sie keine Entscheidung erzwingen. Ihr seht selber, vor uns liegt Sulaimanija, aber sie k\u00f6nnen uns nicht davonjagen. Deshalb greifen sie zur letzten Waffe: zum Hunger. Da sind wir machtlos.“
F\u00fcr massive Hilfe fehlen Geld und Mittel. Die Partisanen und ihre politische Organisation, die PDK (Demokratische Partei Kurdistans) tun, soweit wir sehen konnten, das Menschenm\u00f6gliche. Sie schickten \u00c4rzte und Helfer, und bauen Krankenh\u00e4user und Unterk\u00fcnfte, verteilen Reis, Tee und Zucker. Soldaten, die abk\u00f6mmlich sind, schleppen Kranke oder evakuieren Fl\u00fcchtlinge.
Aber wo soll das Geld herkommen f\u00fcr Decken, Kleider, Medikamente, Lebensmittel? Die Kassen sind leer. Seit vier Monaten k\u00e4mpfen die Partisanen, ohne einen Pfennig Sold zu erhalten. Sie bekommen zu essen, das ist alles.
Die vorhandenen Mittel stammen aus den Abgaben der Bauern. Jeder gibt zehn Prozent seiner Ernte an die PDK. Davon wird die eine H\u00e4lfte an die Armen verteilt, die andere an die Partisanen und Fl\u00fcchtlinge. Viele Bauern geben freiwillig mehr, andere spenden Geld. Es sind Tropfen auf den hei\u00dfen Stein. In einer Gegend, die seit zwei Jahren von der Welt abgeriegelt ist, und wo t\u00e4glich neue M\u00e4uler zu stopfen sind, gibt es nur Not und Tod im \u00dcberflu\u00df.
Die Tabakernte, die fr\u00fcher Devisen und Waren brachte, verfault. Vierhunderttausend Kisten guten Orienttabaks suchen einen K\u00e4ufer. Er kann sie f\u00fcr Pfennige haben, wenn es ihm gelingt, die T\u00fcrken oder Perser zu \u00fcberzeugen, da\u00df sie ihre Grenzen \u00f6ffnen und den Transit erlauben. Die Chancen sind jedoch gering. Selbst Rotkreuzpakete und Spenden barmherziger Freunde wurden beschlagen.<\/p>

\"Diese
Diese Frauen sind Lehrerinnen sind. Ihre Schule wurde ausgebaut. Jetzt helfen Sie den vielen Fl\u00fcchtlingen und \u2013 wenn es sein muss \u2013 ihren M\u00e4nnern, die in den Bergen k\u00e4mpfen<\/em><\/figcaption><\/figure>

Die einfachste L\u00f6sung ist Mord<\/h3>

Schon seit Jahrhunderten ist das Kurdensterben ein gern gesehener Prozess, den alle beteiligten Nationen mehr oder weniger offen beschleunigen. Was auch immer die Differenzen zwischen Persien, Syrien, der T\u00fcrkei und dem Irak sein m\u00f6gen, in einem Punkt sind sie sich einig: je weniger Kurden, desto besser.
In Sulaimanija und Kirkut arbeiten t\u00fcrkische und iranische Sicherheitsoffiziere Hand in Hand mit ihren irakischen Kollegen.
Als wir vor einigen Jahren durchs t\u00fcrkische Kurdistan reisten und einen Offizier nach seiner Meinung zum kurdischen Problem befragten, sagte der l\u00e4chelnd: \u201eEs gibt nur eine L\u00f6sung \u2013 ratsch …“ Und sein rechter Zeigefinger demonstrierte unmi\u00dfverst\u00e4ndlich an meiner Gurgel, was er meinte.
Aber die Kurden sind nun einmal da. Acht Millionen Menschen, vielleicht auch nur sechs oder sogar neun. Auf eine Million kommt es nicht an. Dort, am gleichen Ort, wohnen sie seit mindestens dreitausend Jahren. Weit l\u00e4nger als jene, die sie im Norden und S\u00fcden, im Osten und Westen regieren. Sie sprechen die gleiche Sprache, haben die gleichen Sitten, eine zusammenh\u00e4ngende Zivilisation, und daraus ergibt sich ihr Wunsch, als e i n Volk anerkannt zu werden.
Der t\u00fcrkische Offizier hatte schon Recht: Solange die Kurden leben, gibt es ein Kurdenproblem.<\/p>

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Goli ist blond wie viele kurdische M\u00e4dchen, denen wir begegnet sind. Als wir sie fragten, warum ihre Br\u00fcder und ihr Vater in den Bergen gegen die Iraker k\u00e4mpfen, sagte sie nur: \u201eWir sind Kurden und keine Araber \u2013 und ich m\u00f6chte so gern zu Schule gehen …“<\/em><\/p>

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Am falschen Ort geboren<\/h3>

Da\u00df die Kurden sich \u00fcber f\u00fcnf Staaten verteilen, ist ebenso wenig ihre Schuld wie die Tatsache ihrer Existenz. Die Grenzen, die das ethnisch einheitliche Kurdistan wie einen Kuchen zerlegen, wurden nach dem Ersten Weltkrieg von den Gro\u00dfm\u00e4chten gezogen. Es war der \u00fcbliche Kuhhandel um Einflu\u00dfsph\u00e4ren, \u00d6lvorkommen (der Gro\u00dfteil des irakischen \u00d6ls zu kommt aus dem kurdischen Teil des Landes), strategische Vorteile, Prestigefragen und was sonst die so genannte Realpolitik ausmacht. Die Realit\u00e4t Kurdistan wurde internationalen Interessen geopfert.
Nachdem 1920 im Frieden von S\u00e8vres, der die Aufsplitterung des Osmanischen Reiches staatsrechtlich besiegelte, noch ein unabh\u00e4ngiges Kurdistan vorgesehen war, ist in der Lausanner Revision dieses Vertrages aus dem Jahre 1923 davon nicht mehr die Rede. Zwar wurde auch darin vom Selbstbestimmungsrecht der V\u00f6lker gesprochen und den Kurden autonome Verwaltung zugesagt, aber niemand k\u00fcmmerte sich anschlie\u00dfend darum, au\u00dfer den Kurden nat\u00fcrlich, die jeden Versuch, dieses Recht zu beanspruchen, teuer bezahlen mu\u00dften.
In diesen Gebieten geh\u00f6rt die Statistik zur Dichtung. Es ist deshalb unm\u00f6glich, die Zahl derjenigen zu nennen, die in den letzten Jahrzehnten niedergemacht oder in den Tod getrieben wurden. Vorsichtige Sch\u00e4tzungen sprechen von f\u00fcnfhunderttausend Menschen.<\/p>

Das letzte Wort haben die W\u00f6lfe<\/h3>

In diesem Winter rechnet man damit, da\u00df die Zahl der Opfer sich um zehntausend erh\u00f6ht. Wir sind den Todeskandidaten auf allen Wegen begegnet. Mit einigen Schafen, einem Hund, wenigen H\u00fchnern und ein paar S\u00e4cken Reis suchen sie die Berge nach H\u00f6hlen ab. Aber dort haben bereits andere Zuflucht gefunden: W\u00f6lfe, Adler und B\u00e4ren. Solange die Sonne noch scheint, mag der Mensch im Vorteil sein. Wenn aber der Schnee zwei Meter hoch liegt und das Quecksilber bei 20\u00b0 minus steht, m\u00f6chte ich nicht Zeuge der K\u00e4mpfe sein, die hier ausgefochten werden.
Erst verschwinden die H\u00fchner, dann die Schafe. Die wenigsten werden von den Menschen gegessen. Das letzte Opfer mag der Hund sein. Und dann? – Es w\u00e4re nicht das erste Mal, da\u00df in diesen wilden Bergen die Not zum Kannibalismus treibt, w\u00e4hrend die W\u00f6lfe auf den letzten Lebenden warten.<\/p>

Im n\u00e4chsten Stern:<\/p>

WIR MARSCHIEREN AUF BAGDAD<\/p>

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Stern, Heft 3, 19. Januar 1964 Es geht auch ohne Gaskammern und Genicksch\u00fcsse. Um ein Volk zu ermorden, gen\u00fcgen D\u00fcsenbomber gegen schutzlose D\u00f6rfer, Panzer gegen Frauen und Kinder, Hunger in K\u00e4lte und Schnee – gegen zwei Millionen Kurden, die im Norden des Irak leben. – Ihr Verbrechen? Der Wunsch nach Selbstbestimmung. Sonst nichts. Allein. Selbst…<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":60206,"parent":54136,"menu_order":0,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":{"_seopress_robots_primary_cat":"","_seopress_titles_title":"","_seopress_titles_desc":"","_seopress_robots_index":"","footnotes":""},"categories":[558,624],"tags":[],"class_list":["post-54138","page","type-page","status-publish","has-post-thumbnail","hentry","category-kurdistan","category-naher-und-mittlerer-osten","entry","has-media"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54138"}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/types\/page"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/users\/1"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=54138"}],"version-history":[{"count":5,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54138\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":65208,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54138\/revisions\/65208"}],"up":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54136"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media\/60206"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=54138"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=54138"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=54138"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}