{"id":54139,"date":"2017-03-11T14:18:42","date_gmt":"2017-03-11T13:18:09","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=54139"},"modified":"2024-03-13T18:30:33","modified_gmt":"2024-03-13T17:30:33","slug":"durchs-blutige-kurdistan-wir-marschieren-auf-bagdad","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/aufstande-und-freiheitskampfe\/durchs-blutige-kurdistan-wir-marschieren-auf-bagdad\/","title":{"rendered":"Durchs blutige Kurdistan II – Wir marschieren auf Bagdad (Kurdistan)"},"content":{"rendered":"

Stern, Heft 4, 26. Januar 1964 <\/em>                                                                                      <\/em><\/p>

Im Irak ist Krieg. Die Kurden, die ein Drittel der Bev\u00f6lkerung ausmachen, k\u00e4mpfen f\u00fcr Selbstbestimmung, f\u00fcr ein autonomes Kurdistan. Sie wollen eigene Schulen in ihrer Sprache, eigene Verwaltung und aktive Beteiligung an der Regierung in Bagdad. Seit zwei Jahren halten schlecht ausger\u00fcstete Partisanen eine moderne Armee in Schach. Ohne Hilfe von au\u00dfen. Ohne Freunde.
<\/strong> Das Foto zeigt  Dschalal Talabani<\/em><\/p>

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Die Flasche Whisky kommt im rechten Augenblick. Wir haben zwei Tage lang in einem Graben gelegen, um die angesagte Offensive der irakischen Truppen zu fotografieren. MiG\u2018s und Ilyushins haben uns bombardiert. Wir haben vierzig Stunden lang die K\u00f6pfe eingezogen, und dann ist pl\u00f6tzlich ein Bote erschienen, um uns zu erkl\u00e4ren: „Die Iraker greifen weiter n\u00f6rdlich an. In der N\u00e4he von Kirkuk.“
Wir sind die ganze Nacht marschiert. Immer dem M\u00fcndungsfeuer der Kanonen entgegen. Wir sind an feindlichen Stellungen vorbeigekrochen, um pl\u00f6tzlich einer Gruppe von Partisanen in die Arme zu laufen, die erkl\u00e4rte: „Die Schlacht ist vor\u00fcber. Wir haben gewonnen. Die Iraker sind nicht durchgekommen.“
Als wir zwei Tage sp\u00e4ter wieder im Hauptquartier eintreffen, steht die Flasche Whisky vor dem Eingang der H\u00f6hle. Eine richtige Flasche Whisky, vor einer echten H\u00f6hle, in wilden Bergen, hingestellt von M\u00e4nnern, die keinen Alkohol trinken.
Jamal Talabani setzte sich zu uns. „Um Ihre Entt\u00e4uschung herunterzusp\u00fclen“, sagte er. „Die Flasche kommt direkt aus Bagdad. Per Hubschrauber.“
Talabani kommandiert die s\u00fcdliche Front. Er ist Mitglied des politischen B\u00fcros der PDK (Demokratische Partei Kurdistans). Obwohl er erst drei\u00dfig Jahre alt ist, wird seine Autorit\u00e4t von den \u00e4lteren Herren, die hier herumsitzen und den Generalstab bilden, nicht in Frage gestellt. Vor dem Krieg haben die meisten von ihnen hohe Posten in der irakischen Armee innegehabt. Talabani war nur ein Leutnant der Reserve. Aber es geh\u00f6rt zum Wesen jeder Guerilla, da\u00df bei ihr die Hierarchie der Litzen nichts gilt und nur echtes K\u00f6nnen sich durchsetzt. Jamal Talabani ist ein brillanter K\u00f6nner.
„Diese Flasche haben zwei Unterh\u00e4ndler aus Bagdad mitgebracht. Vor zehn Tagen sollte wieder einmal verhandelt werden. Sie kamen mit dem Hubschrauber nach Shedala, eine Tagesreise von hier. Zur Begr\u00fc\u00dfung dr\u00fcckten sie uns den Whisky in die Hand. \u201a Kommt, Br\u00fcder, la\u00dft uns zusammen trinken.\u2018 Sie k\u00f6nnen sich das Bild ja vorstellen: Besuch bei armen Verwandten. Und dabei wei\u00df man in Bagdad genau, da\u00df kein Partisan trinkt. Wir lehnten also h\u00f6flich ab. Unsere Besucher hingegen waren in wenigen Minuten bei bester Laune.“
„Was kam dabei heraus?“
„Nat\u00fcrlich nichts. Was sollen wir mit zwei Offizieren, die keine Vollmachten haben, besprechen k\u00f6nnen? Wir haben ihnen eine Botschaft mit auf den Weg gegeben: Verhandelt wird nur noch auf h\u00f6chster Ebene, und nachdem unsere Bevollm\u00e4chtigten, die in Bagdad verhaftet wurden, wieder frei sind.“
„Die haben sie einfach vom Verhandlungstisch weg ins Gef\u00e4ngnis geworfen“, ruft ein junger Offizier.
„Wir sind immer verraten worden“, wirft ein anderer ein.
Es geht pl\u00f6tzlich laut durcheinander.
„Die k\u00f6nnen sich selbst nicht regieren und wollen hier die Herren spielen.“ – „Politik des Wortbruchs.“ – „Feiglinge.“ – „Die haben selbst ihre Frauen verraten.“ – „Haha. Wenn wir nach Bagdad kommen, werden wir ein paar Ministerfrauen anderweitig verheirateten.“ – „Die wissen noch gar nichts von ihrem Gl\u00fcck.“
Nachdem das Gel\u00e4chter sich gelegt hat, bitten wir um Aufkl\u00e4rung.
„In dieser Gegend der Welt werden viele Eide geleistet – und gebrochen“, sagt ein Oberst. „Wir sind seit Jahrhunderten verraten worden. Die Perser schworen immer auf den Koran, und versprachen freies Geleit und gute Bedingungen. Und wenn unsere Leute zur Verhandlung kamen, wurden sie umgebracht. Nicht immer schnell und sauber. Da gab es das ber\u00fchmte Kurdenrennen. Eine verfeinerte Art des Toto – wenn Sie so wollen. Die Kurden wurden in Reih und Glied aufgestellt, w\u00e4hrend persische Soldaten eine Eisenplatte zur Glut brachten. Die Herren Offiziere standen herum und wetteten: \u201aHundert Toman, da\u00df er zwanzig Meter laufen wird.‘ \u2013\u201aDreihundert, da\u00df er vierzig schaffen wird.‘ \u2013 \u201aVierhundert, das er nur ein paar Schritte macht.‘ Dann wurde dem Kurden der Kopf abgeschlagen und in Blitzeseile eine gl\u00fchende Eisenplatte auf den Rumpf gest\u00fclpt. Der Mann lief. Viele liefen noch f\u00fcnfzig Meter.
Das geschah nicht etwa im vorigen Jahrhundert. Nein. In den drei\u00dfiger Jahren unter Reza Khan , dem Vater des heutigen Schah. Man nannte das \u201a Befriedigung‘ der kurdischen Provinzen. Die T\u00fcrken haben auf \u00e4hnliche Art in ihrem Teil Kurdistans Eide gebrochen.“
„Fa\u00df dich k\u00fcrzer. Erz\u00e4hle die Geschichte mit den Ministerfrauen!“ ruft ein junger Partisan.
Wir allein trinken. Aber au sie scheint schon der blo\u00dfe Anblick der Flasche zu wirken.
„Moment. Journalisten wollen die Zusammenh\u00e4nge wissen. Ohne sie k\u00f6nnen unsere Freunde kaum begreifen, warum ein paar Ministerfrauen nur noch Konkubinen sind. Wie gesagt, es gab hier eine Inflation von Meineiden. Deshalb griff man – angesichts der Entwertung Allahs und des Korans als heilige Zeugen – auf Eide zur\u00fcck, die direkte und ernsthafte Folgen auf das eigene Leben haben. Zu diesen Eiden geh\u00f6rt Talak (Scheidung). Wer auf den Koran schw\u00f6rt, hat eigentlich nur Gottes Zorn zu f\u00fcrchten, wer aber auf Talak schw\u00f6rt, erkl\u00e4rt damit feierlich, seine Frau zu versto\u00dfen, falls er seinen Eid bricht. F\u00fcr das koranische Recht ist solch ein Schwur verbindlich. Wer ihn bricht, ist offiziell von seiner Frau geschieden. Sie kann sofort einen anderen heiraten.“
„Die Frau des Kriegsministers gef\u00e4llt mir“, meint der junge Mann, der offensichtlich den Anblick des Whiskys nicht vertragen kann.
„Hat er auf Talak geschworen?“ will ich wissen.
„Drei irakische Minister haben uns solche Eide geleistet“, sagte der Oberst, „und sie dann gebrochen.“
„Da\u00df wir unter diesen Umst\u00e4nden nicht die Waffen niederlegen, selbst wenn Bagdad uns den Himmel auf Erden verspricht, d\u00fcrfte verst\u00e4ndlich sein.“ Talabani wird unterbrochen. Man verlangt ihn am Telefon. Alle H\u00f6hlen dieses Tales sind durch Telefon verbunden.
„Gute Nachrichten“, sagt Talabani, als er sich wieder zu uns setzt.
„Der Bote ist mit den Telegrammen unterwegs.“<\/p>

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Talabani (rechts), Der Kommandant der s\u00fcdlichen Front<\/em><\/p>

Nur f\u00fcnfhundert Meter trennen das Hauptquartier von der Radiostation, die mit allen wichtigen Partisanstellungen in Verbindung steht. Die Techniker sind Kurden, die fr\u00fcher in der irakischen Armee Dienst taten und nach Ausbruch der K\u00e4mpfe \u00fcbergelaufen sind. Auch die Sendeger\u00e4te stammen von den Irakern. Sie wurden erbeutet, genau wie die Waffen und die Munition, die hier gebraucht werden. Die Revolte begann vor zwei Jahren mit nur sechzig Gewehren. Heute haben die Kurden eine regelrechte Armee von rund 20.000 Soldaten, die ausschlie\u00dflich mit erbeuteten Waffen ausger\u00fcstet sind.
Die Telegramme sind da. Talabani \u00fcberfliegt sie mit sichtlicher Genugtuung.
„Eine schwere Panzerkolonne versucht, von Sulaimanija nach Kirkuk durchzusto\u00dfen. Erfolglos „, erkl\u00e4rt er. „Ein Bataillon wollte Jafan nehmen. Es mu\u00dfte umkehren. Achtzig Gewehre fielen in unserer H\u00e4nde. Zwei Bataillone waren von Dakhan nach Koi Sandjak unterwegs. Sie kamen nicht durch und verloren \u00fcber hundert Mann.“
„Und wie viele Tote habt ihr?“
Betretenes Schweigen. Man schaut sich verlegen an und will auf ein anderes Thema \u00fcbergehen. Aber ich gebe nicht nach.
„Die Antwort auf diese Frage stellt jedes Mal unsere Glaubw\u00fcrdigkeit in Frage“, sagt Talabani. „Die Zahl unserer Toten ist so gering, da\u00df niemand sie uns glauben will und wir uns damit die Sympathien unserer besten Freunde verderben. Seit dem Beginn der K\u00e4mpfe, das hei\u00dft seit zwei Jahren, haben wir nur zweihundert Mann verloren. Jaja – ich wei\u00df, Sie k\u00f6nnen es nicht glauben. Aber es ist nun einmal so.“
„Gegen die beste Armee des Nahen Ostens?“
„Das war sie einmal. Vergessen Sie nicht, da ein Drittel davon Kurden waren. Und die machen nicht mehr mit. Sie sind entweder hier bei uns – oder in den irakischen Gef\u00e4ngnissen. Das ist e i n Grund. Der zweite: die vielen S\u00e4uberungsaktionen. Als Kassim die Macht ergriff, jagte er die k\u00f6nigstreuen und nasserfreundlichen Offiziere aus der Armee und besetzte ihre Stellen mit Liberalen und Kommunisten. Sp\u00e4ter ersetzte er die Kommunisten durch eigene Gefolgsm\u00e4nner. Als die Kommunisten wieder im Kommen zu sein schienen, brachte man Kassim um, und Arif ergriff mit der Baath-Partei die Macht. Sie massakrierten die Kommunisten und ersetzten die nasserfreundlichen und liberalen Offiziere durch ihre Leute. Glauben Sie, da\u00df eine so behandelte Armeen noch Kampfgeist haben kann?
Wir werden immer weniger bombardiert. Warum? Weil 135 Piloten im Gef\u00e4ngnis sitzen – aus politischen Gr\u00fcnden. Nein, die irakische Armee ist nur noch der Schatten ihrer selbst. Wenn wir nur ein paar Panzer und Kanonen h\u00e4tten, k\u00f6nnten wir in wenigen Tagen in Bagdad sein.“
„Gegen eine moderne Armee?“
„Sehen Sie diese Bazookas? Wir haben f\u00fcnfzehn davon. Heimlich in Westdeutschland gekauft. F\u00fcr achthundert Mark das St\u00fcck. Sobald eine davon an der Front erscheint, machen die feindlichen Panzer kehrt. Kurdische Kommandos stehen jetzt schon f\u00fcnfzig Kilometer vor Bagdad. Aber das ist das Lieblingsthema meines Freundes Karakdaghi Salar.“
Der Mann mit dem blonden Schnurrbart r\u00fcckt n\u00e4her. Er sieht aus wie ein schottischer Gentleman, der sich als Sch\u00e4fer verkleidet hat. Vor sechs Monaten war er noch irakischer Konsul in Nigeria. Jetzt ist er Generalsinspektor der kurdischen Armee.
„Aus Bagdad droht keine ernste milit\u00e4rische Gefahr mehr“, sagt er. Das Regime ist zu schwach. Der Irak ist krank. Die Massenmorde der letzten Jahre haben das Land gespalten. Es ist deshalb sinnlos, mit einer Regierung zu verhandeln, die binnen kurzem zum Verschwinden verurteilt ist. Aber nicht nur das: Es w\u00e4re Verrat am Irak. Ja – wenn wir mit Bagdad verhandeln, erkennen wir das Regime an, jene Handvoll Faschisten, die nur durch Terror herrschen.“
Ein \u00e4lterer Herr in Zivil ist ganz rot geworden. „Das kann uns egal sein“, ruft er. „Hauptsache ist, sie nehmen unsere Bedingungen an. Je schw\u00e4cher sie sind, desto eher werden sie Zugest\u00e4ndnisse machen. Wir m\u00fcssen jetzt verhandeln.“
„Da h\u00f6ren Sie die nationalistische Stimme“, f\u00e4hrt Salar fort. „Das sind unsere Extremisten, die volle Unabh\u00e4ngigkeit verlangen. Wenn wir jedoch – und das ist unsere Absicht – als kurdischer Teil im irakischen Staatsverband bleiben, dann haben wir die gleichen Rechte und Pflichten wie jeder andere Partei des Landes. Milit\u00e4risch und politisch bedeutet das: Unsere Aktion darf nur die kurdische Autonomie zum Endziel haben. Sie mu\u00df zum Umsturz in Bagdad f\u00fchren. Nur eine Regierung mit breiter Grundlage kann dem Land Ruhe bringen und im kurdischen Teil zu einer allseitig befriedigenden L\u00f6sung f\u00fchren. – Da\u00df nicht nur wir so denken, beweist die Anwesenheit dieser beiden Herren.“
Die beiden Herren sind irakische Offiziere. Der eine ist Oberst, der andere Hauptmann. Sie sind desertiert, um mit den Kurden zu k\u00e4mpfen. Bis jetzt sind f\u00fcnfundzwanzig h\u00f6here Offiziere der irakischen Armee ihrem Beispiel gefolgt, darunter zwei Gener\u00e4le. Einige dienen als milit\u00e4rischer Berater. Mit ihrem kurdischen Kollegen sind sie dabei, eine Milit\u00e4rakademie zu gr\u00fcnden. Andere k\u00fcmmern sich um die irakischen Soldaten, die von den Kurden gefangen genommen wurden. Sie machen revolution\u00e4re Propaganda und werben um Freiwillige, die gegen das Regime in Bagdad k\u00e4mpfen wollen. Siebzig Prozent der Gefangenen lassen sich \u00fcberzeugen, und bald werden arabische Bataillone Schulter an Schulter mit den Kurden gegen Bagdad k\u00e4mpfen.<\/p>

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In diesen H\u00f6hlen lebten vor vielen tausend Jahren Menschen, die das erste Getreide anbauten. Jetzt haben die kurdischen Partisan hier bombensicheren Schutz gefunden<\/em><\/figcaption><\/figure>

Diese Entwicklung ist neu. Eine Rebellion, die zun\u00e4chst nationalistische Akzente hatte, wird zu einer revolution\u00e4ren Bewegung mit sozialem Inhalt. Das „wilde Kurdistan“ wird zur Festung einer gesamt-irakischen Opposition, die sich demokratisch nennt und fortschrittlich denkt.
„Und was h\u00e4lt euer gro\u00dfer Chef davon? Ist General Barsani mit dieser Entwicklung einverstanden? Stimmen die Ger\u00fcchte \u00fcber die Unstimmigkeiten zwischen ihm und dem politischen B\u00fcro der PDK (Demokratische Partei Kurdistans)?“
Unsere Frage wird nicht klar beantwortet. „Barsani ist das Symbol des Widerstandes.“ – „Er ist immer noch der Chef unserer Partei.“ – „Ein gro\u00dfer Mann mit vielen Verdiensten.“ \u2013 \u201eIn jeder Partei gibt es Differenzen.“<\/p>

Deutsche Techniker helfen den Rebellen<\/h3>

Das Fu\u00dfvolk ist pr\u00e4ziser. Unterwegs erfahren wir von einfachen Partisanen, da\u00df Barsani, der legend\u00e4re F\u00fchrer vieler Kurdenaufst\u00e4nde, zwar verehrt wird, da\u00df aber der Apparat der Partei heute die Revolution leitet. – Und es ist nicht verwunderlich. Einem Mann, der im traditionellen Stammesmilieu gro\u00df geworden ist und seine Autorit\u00e4t zun\u00e4chst aus ihm bezog, mu\u00df es schwerfallen, die sozialrevolution\u00e4ren Ideen der Intellektuellen gutzuhei\u00dfen, die heute das R\u00fcckgrat der PDK bilden.
Auf Schritt und Tritt dr\u00e4ngt sich eine Gewi\u00dfheit auf: Die Kurden geh\u00f6ren nicht mehr ins Bilderbuch unserer Gro\u00dfv\u00e4ter. Die Zeit verwegener Aufst\u00e4nde wilder St\u00e4mme ist vor\u00fcber. Wir haben es hier mit modernen Revolution\u00e4ren zu tun, mit einem neuen Algerien. Wir sp\u00fcren es in jedem Dorf.
Fr\u00fchere Reisende berichten, da\u00df sie immer vom Besitzer oder reichsten Mann des Dorfes empfangen wurden und in seinem Haus wohnen mu\u00dften. Wir werden nicht mehr zum traditionellen Chef gef\u00fchrt. Eine Abordnung der Bauern empf\u00e4ngt uns.
„Willkommen in Sa\u2018zie“, sagt der Wortf\u00fchrer der zwanzig M\u00e4nner, die uns am Eingang des Dorfes erwarten. „Willkommen im Namen der PDK und alle Einwohner.“
„Und der Partisanen“, f\u00fcgt ein Mann in Uniform schnell hinzu.
Kinder springen herum und gaffen. Frauen erscheinen auf den D\u00e4chern der H\u00e4user, w\u00e4hrend wir zu Moschee gef\u00fchrt werden. Claude Deffarge scheint sie zu faszinieren.
„Ist das eine Frau?“ – „Ja.“ – „Mit zu kurzen Haaren?“ – „Das ist praktisch.“ – „Aber nicht sch\u00f6n!“ – „Vielleicht.“ – „Nein, sie ist keine Frau.“ – „Doch.“ – „Auf den Koran?“ – „Sie hat Hosen an.“ – „Warum nicht?“ – „Sie ist doch ein Junge.“ – „Nein.“ – „Auf den Koran?“ – „Auf den Koran.“
Sie tuscheln und sto\u00dfen sich, w\u00e4hrend ich auf den Koran schw\u00f6ren mu\u00df, da\u00df Claude Deffarge eine Frau ist. Die M\u00e4nner l\u00e4cheln und geben sich sehr modern. Sie helfen meiner Kollegin vom Maultier und f\u00fchren sie zum besten Platz. Sie z\u00f6gert. Ein alter Reflex aus fr\u00fcheren Reisen durch islamische L\u00e4nder. Ausl\u00e4ndische Frauen sind nicht immer gern gesehene G\u00e4ste in Moscheen.
Hier ist es anders. Die Moschee dient als Gemeindehaus, Versammlungsraum, Festsaal und Gotteshaus zugleich. Man bringt und Tee. F\u00fcnf M\u00e4nner setzen sich zu uns.<\/p>

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Die Partisanen ziehen Z\u00e4hne gratis. Sie schicken \u00c4rzte und Helferinnen alle D\u00f6rfer<\/em><\/figcaption><\/figure>

„Ich habe schon zwei Deutsche kennengelernt“, sagt der Bauer mit den traurigen Augen, nachdem er sich erkundigt hat, aus welchem Land wir kommen. „Das war im politischen B\u00fcro der PDK. Ein \u00e4lterer Herr und ein junger Mann, der den ganzen Tag mit zwei Revolvern herumscho\u00df.“
„Die kamen sicher aus der Sowjetzone, aus Ostdeutschland.“
„Nein, nein. Aus M\u00fcnchen. Es waren Ingenieure. Die haben den gro\u00dfen Sender der PDK gebaut. Sie kamen heimlich hierher.“
W\u00e4hrend ich mir vorstelle, welche Reaktionen diese Nachricht in Bonn ausl\u00f6sen mag, kommt ein Junge und meldet, da\u00df die Maultiere gesattelt sind.
Ich habe schon immer die Frage stellen wollen, wer f\u00fcr unsere Maultiere sorgt. „Werden sie von der PDK requiriert?“
Der Mann in Uniform und sein dicker Nachbar antworten im Chor: „Die PDK requiriert nie.“ Sie m\u00fcssen \u00fcber ihren eigenen Eifer lachen, und der Dicke f\u00e4hrt fort: „Ich bin der Vertreter der PDK. Mein Freund vertritt die Partisanen. Wenn wir ein Maultier brauchen, bezahlen wir dem Besitzer einen Dinar (ungef\u00e4hr zehn Mark) pro Tag f\u00fcr Tier und Begleiter.“
„Und wen vertreten die drei anderen Herren?“
„Das Dorf. Sie werden von den Bauern gew\u00e4hlt. Wir beide werden ernannt. Mein Freund von der Armee, ich von der Partei.“
„Wer trifft Entscheidungen?“
„Es wird abgestimmt.“
„Kann die PDK sich das erlauben? Im Krieg? Ihr seid nur zwei – gegen drei Vertreter des Dorfes, die vielleicht eure politischen Ziele ablehnen.“
„Der irren Sie“, sagt der Mann mit den traurigen Augen. „Auch wir wissen, worum es geht. Fr\u00fcher wurde meist der brutalste Kerl zum Chef ernannt, von den Irakern, meist auch der reichste. Mit Hilfe der Polizei machte er, was er wollte. Jetzt d\u00fcrfen wir mitreden. Wir w\u00e4hlen den besten.“
„Warum sind Sie nicht in der Partei?“<\/p>

Die Guerilla: ein Treibhaus der Demokratie<\/h3>

„Das ist nicht so einfach. Man mu\u00df politisch gebildet sein, um aufgenommen zu werden. Die Partisanen organisieren Abendkurse. Aber ich habe wenig Zeit. Ich bin auch schon alt. Mein Sohn ist Partisan.“
Die Situation ist in D\u00f6rfern und St\u00e4dten die gleiche. \u00dcber alle haben Partei und Partisanen-Armee Fu\u00df gefa\u00dft und werden von der Bev\u00f6lkerung unterst\u00fctzt.
Die alte Ordnung ist zerbrochen. Eine neue wird aufgebaut. Gemeinsam von den M\u00e4nnern, die zu den Waffen gegriffen haben, und den Bauern, die sie ern\u00e4hren und ihre S\u00f6hne in den Kampf schicken. Techniker, \u00c4rzte, Richter, Beamte, Rechtsanw\u00e4lte, die in Bagdad, Kirkuk oder anderen St\u00e4dten verfolgt werden, weil sie Kurden sind, fliehen in die Berge. Zum ersten Mal sind Elite und Bauern in einem Schicksal verbunden. Sie m\u00fcssen zusammenarbeiten, um zu \u00fcberleben. Zum ersten Mal sind Klassenunterschiede keine Barrieren mehr. Der Intellektuelle sitzt im gleichen Dreck wie der Bauer und hat die gleiche Probleme. Sie sitzen im Treibhaus der Demokratie – und was als Guerilla begann, wird zur revolution\u00e4ren Bewegung.
Es ist verst\u00e4ndlich, da\u00df Bagdad bef\u00fcrchtet, ein autonomes Kurdistan w\u00fcrde letzten Endes zur vollst\u00e4ndigen Unabh\u00e4ngigkeit der kurdischen Provinzen f\u00fchren. Diese Gefahr besteht, so lange im Irak selbst keine tief greifenden Reformen durchgef\u00fchrt werden. Es ist in der Tat unm\u00f6glich, in ein und demselben Staat Diktatur und Freiheit regional zu trennen. In Kurdistan leben Bauern, die zum demokratischen Bewu\u00dftsein erwacht sind. Im \u00fcbrigen Irak hingegen vegitiert ein Volk, f\u00fcr das Verwaltung und Regierung noch Synonyme f\u00fcr Korruption, Gewalt und Terror sind.<\/p>

Die Kurden haben keine Freunde<\/h3>

Aus diesem Grund und nicht aus nationalistischen \u00dcberlegungen k\u00e4mpft Bagdad so verbittert gegen die kurdischen Autonomieanspr\u00fcche. Denn keine Diktatur kann es sich erlauben, das\u00dfsich in einer Ecke des Landes ein demokratisches Experiment vollzieht. Ein autonomes Kurdistan w\u00fcrde in kurzer Zeit das Ende des Bagdader Regimes bedeuten – oder aber zur endg\u00fcltigen Teilung des Irak f\u00fchren.
Wir haben diese Entwicklung in langen Abend in mit F\u00fchrern der PDK und einfachen Bauern besprochen. In all diesen Diskussionen klang eine gewisse Niedergeschlagenheit mit. Wenn die Begeisterung \u00fcber milit\u00e4rische und politische Erfolge sich gelegt hatte, kamen die bangen Fragen:
„Wie lange k\u00f6nnen wir gegen den Hunger durchhalten? Wieviel Tausende werden diesem Winter wieder sterben?“
Und die Gegenfrage, meist aus dem Mund einfacher M\u00e4nner: „Warum haben wir keine Freunde?“
Wenn diese Frage f\u00e4llt, r\u00fccken die M\u00e4nner n\u00e4her zusammen. Sie lassen nicht locker, bis sie glauben, alles verstanden zu haben. Sie suchen die ganze Welt nach Freunden ab.
„Ja, da waren die Mongolei. Sie hat die kurdische Frage vor die UNO gebracht und sie am letzten Tag fallen gelassen.“ – „Warum?“ – „Das war Verrat.“ – „von Ru\u00dfland kommandiert.“ – „Ganz sicher. Die Kommunisten sind gegen uns.“ – „Nehru?“ – der hat von uns gesagt: \u201a Wie ist es m\u00f6glich, ein Volk zu vernichten, das f\u00fcr seine Freiheit k\u00e4mpft und bereit ist, den Preis daf\u00fcr zu zahlen?\u2018“ – „Und ob wir zahlen \u2026“ – „Was helfen sch\u00f6ne Worte?“ – „Wir brauchen Decken, Geld, Lebensmittel, Medikamente. Warum schickt man uns die nicht? Wir wollen ja keine Waffen.“ – „Niemand will sich mit den Arabern anlegen. Wenn einer uns hilft, werden alle Araber von Marokko bis Bagdad \u00fcber ihn herfallen.“ – „Wir sind doch keine Araber.“ – „Wir geh\u00f6ren aber zu einem arabischen Land.“ – „Die Westm\u00e4chte sind doch stark genug, um auf die Araber zu pfeifen.“ – „So siehst du aus. Sie haben deutlich gesagt: Das kurdische Problem ist eine innere Angelegenheit des Irak, in die wir uns nicht einmischen k\u00f6nnen.“ – „Problem nennen das – den V\u00f6lkermord?“ „Verdammt noch mal ich m\u00f6chte diese Herren doch mal fragen, ob das Judenmorden in Deutschland auch nur eine innere Angelegenheit war.“ – „Ja, solange man daraus kein politisches Kapital schlagen konnte.“ – „Es kommt eben immer darauf an, wo du verreckst – und wer dich umbringt \u2026“
Wenn die Kurden irgendwo in Afrika leben w\u00fcrden, k\u00e4men ihnen viele zu Hilfe. Sie brauchten nur Imperialismus und Kolonialismus f\u00fcr ihre Not verantwortlich zu machen, um in k\u00fcrzester Zeit Autonomie oder Unabh\u00e4ngigkeit zu erlangen. Sie haben jedoch das Pech, nie von einer der traditionellen Kolonialm\u00e4chte unterdr\u00fcckt worden zu sein – wenigstens nicht direkt.
F\u00fcr die Aufteilung sind Imperien verantwortlich, die l\u00e4ngst tot sind: das arabische, das osmanische, das persische. Nationen also, die ihrerseits Opfer eines weltweiten Imperialismus – des britischen – wurden und das heute, mit Ausnahme der T\u00fcrken, von allen D\u00e4chern schreien.
Fanatische Anti-Imperialisten nun ihrerseits als Imperialisten anzuprangern, ist ein aussichtsloses Vorhaben. Die Kurden haben es versucht. Die ganze Welt hat gelacht. – Und doch ist es so. Die Kurden haben eben Pech. Sie werden von den Falschen unterdr\u00fcckt, von den Staaten, die selbst mit viel \u00dcberzeugung die Opfer spielen. Aus diesem Grund haben sie weder die Menschenrechtler noch die Welt\u00f6ffentlichkeit f\u00fcr ihre Sache gewinnen k\u00f6nnen.
Von den Politikern ganz zu schweigen. F\u00fcr sie ist Kurdistan eines der wichtigsten strategischen Gebiete der Welt. Der Angelpunkt des Nahen Ostens. Hier Grenzen in Frage zu stellen, w\u00fcrde zu einer Neuverteilung der politischen Kr\u00e4fte f\u00fchren, deren Folgen niemand voraussehen kann.<\/p>

Die Stiefkinder der Geschichte<\/h3>

Den Kurden zu Liebe wird es kaum ein westlicher Politiker riskieren, sich mit den Staaten zu verfeinden, die sich den kurdischen Kuchen teilen. Auch Ru\u00dfland will seine Rolle im Nahen Osten nicht aufs Spiel setzen. Die Kurden dienen Moskau zur Erpressung. „Seid nett zu uns, sonst helfen wir euren kurdischen Minorit\u00e4ten“, fl\u00fcstern die russischen Diplomaten in Bagdad, Damaskus, Teheran und Ankara, und die „Prawda spricht ein wenig von V\u00f6lkermord und Ungerechtigkeit. Aber dabei bleibt es.
Selbst als Bagdad dem Internationalen Roten Kreuz untersagte, in Kurdistan Hilfe zu leisten, erhoben sich kaum Proteste.
So diskutieren die Kurden unter sich, die Stiefkinder der Geschichte, wie sie sich selber nennen. Es dauert jedes Mal Stunden. Bis zur Ersch\u00f6pfung suchen sie nach einem Freund in der Not und schlafen mit geballten F\u00e4usten ein, denn sie k\u00f6nnen ihn nicht finden.<\/p>","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Stern, Heft 4, 26. Januar 1964                                                                                        Im Irak ist Krieg. Die Kurden, die…<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":60207,"parent":54136,"menu_order":1,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":{"_seopress_robots_primary_cat":"","_seopress_titles_title":"","_seopress_titles_desc":"","_seopress_robots_index":"","footnotes":""},"categories":[558,624],"tags":[],"class_list":["post-54139","page","type-page","status-publish","has-post-thumbnail","hentry","category-kurdistan","category-naher-und-mittlerer-osten","entry","has-media"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54139","targetHints":{"allow":["GET"]}}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/types\/page"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/users\/1"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=54139"}],"version-history":[{"count":5,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54139\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":65209,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54139\/revisions\/65209"}],"up":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54136"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media\/60207"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=54139"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=54139"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=54139"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}