{"id":54142,"date":"2017-03-11T14:18:42","date_gmt":"2017-03-11T13:18:09","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=54142"},"modified":"2020-07-30T00:16:18","modified_gmt":"2020-07-29T22:16:18","slug":"die-hohe-schule-der-liebe-indien","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/die-frauen-dieser-welt\/die-hohe-schule-der-liebe-indien\/","title":{"rendered":"Die hohe Schule der Liebe (Indien)"},"content":{"rendered":"

Stern, <\/em>Heft 40, 3. Oktober 1965
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Indien reicht eine beneidenswert sch\u00f6ne Visitenkarte in der Welt herum: Vergeistigung, N\u00e4chstenliebe, Gewaltlosigkeit, Achtung vor dem kleinsten Tier, Weisheit, Yoga, alte Kultur, gro\u00dfe Philosophen und heilige M\u00e4nner in Massen. \u2013 Es scheint die einzige Nation zu sein, der es gelungen ist, im Alltag Gut und B\u00f6se zu vers\u00f6hnen. Kein Wunder also, wenn die indischen Lehren \u00fcberall begeisterte Anh\u00e4nger fanden, die Zivilisationskranken der gro\u00dfen St\u00e4dte Europas und Amerikas glaubten, an ihnen zu genesen. Vom moralischen Wiederaufbau bis zum erquickenden Kopfstand, vom rhythmischen Atmen bis zur Meditation \u2013 ja, sogar \u00dcbungen zur Steigerung der sexuellen Potenz wurden eifrig imitiert. Der Inder betreibt sie nat\u00fcrlich nur, um diese Kraft in Geist umzusetzen. Im materialistischen Europa dagegen\u2026 Wie dem auch sei, Indien brachte und bringt heute noch vielen mit erprobten Rezepten die Hoffnung auf ein sinnvolleres Leben.
In solch einem Land kann auch die Frau nicht unterdr\u00fcckt oder mi\u00dfhandelt werden. Beweise: Frauen sind Botschafter, Anw\u00e4lte, \u00c4rztinnen, Abgeordnete. Die Inderin hat zu allen Berufen Zugang. Es gen\u00fcgt schon, sie zu beobachten, wenn sie in ihrem Sari durch europ\u00e4ische St\u00e4dte schreitet. Alles an ihr strahlt Sicherheit und inneres Gleichgewicht aus. Unsere Frauen blicken neidisch auf ihre Eleganz, ihren k\u00f6niglichen Gang. Die M\u00e4nner starren neugierig auf die paar Dutzend Quadratzentimeter nackter Taille, die vom kunstvoll gefalteten Sari unverdeckt bleiben. Sie glauben auch zu wittern, da\u00df hier die H\u00fcterin erotischer Geheimnisse einherschreitet. Eine Priesterin der Liebe. Denn auch auf diesem Gebiet hat Indien den Ruf, ein Paradies zu sein.<\/p>

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Wer hat noch nichts \u00fcber Kamasutra geh\u00f6rt, das gr\u00f6\u00dfte Lehrbuch in der Kunst des Liebens? Wer hat nicht vom Tadsch Mahal geh\u00f6rt, einem der Weltwunder, das nur aus Trauer \u00fcber den Tod einer geliebten Frau errichtet wurde und heute noch unwiderstehlich auf die Tr\u00e4nendr\u00fcsen aller weiblichen Touristinnen wirkt. Und die indischen Tempel sollte man kennen. Dort wird die Erotik als fr\u00f6hliche Beteiligung des Menschen am kosmischen Geschehen dargestellt. Ohne Scham. Ohne die Verh\u00fcllung des kleinsten Details. Reigen sich Liebender tanzen in un\u00fcbersehbarer Zahl gen Himmel. Sogenannte Perversionen werden ins religi\u00f6se Weltbild eingegliedert wie Liebesakrobatik und z\u00e4rtlich umschlungene Paare.<\/p>

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Was in den Augen unseres pr\u00fcden 19. Jahrhunderts noch verwerfliche Pornographie war, wurde langsam zur Kunst ernannt und endlich als eine Verherrlichung der sch\u00f6pferischen Kr\u00e4fte der Erotik verstanden. Seither liegen Bildb\u00e4nde \u00fcber die indischen Tempel in allen B\u00fcchereien aus.
In ihrer grenzenlosen Weisheit hatten die Inder uns abermals eine Lektion erteilt: Obwohl sie \u2013 von der Sinnlosigkeit alles irdischen Seins \u00fcberzeugt \u2013 nur nach der Einheit mit dem G\u00f6ttlichen streben, um so, vom Fluch irdischer Wiedergeburt befreit, endlich im Nirwana das absolute Gl\u00fcck zu finden, hatten sie erkannt, da\u00df die physische Ekstase vielleicht ebenso zur besagten Einheit f\u00fchren kann wie Meditation, Askese und Entsagung. Die auf den Tempelmauern in die Wolken st\u00fcrmenden Figuren zeigen nur einen der vielen Wege zum Nirwana.
Man sollte annehmen, da\u00df ein so weises Volk auch die Beziehung zwischen Mann und Frau harmonisch gel\u00f6st und sexuelle Tabus auf ein Minimum beschr\u00e4nkt habe. \u2013 So wenigstens glaubten wir, als wir in Bombay ankamen.
Auf dem Flugplatz ist Hochbetrieb. Besonders fr\u00f6hlich benimmt sich eine Gruppe von zw\u00f6lf Europ\u00e4ern, die trotz des Alkoholverbots halb betrunken sind.
Eine kameradschaftliche Hand legt sich auf meine Schulter: \u201eSie Gl\u00fcckspilz kommen wohl aus Bangkok \u2013 was?\u201c
\u201eNein.\u201c
\u201ePoor chap (armer Knabe)\u201c, lallt die Whiskyfahne. \u201eSie sollten nach Bangkok fliegen. \u2013 Indien ist ein sexuelles Notstandsgebiet. Wir m\u00fcssen alle paar Monate raus, sonst kriegen wir einen Koller.. Kneif ein M\u00e4dchen, und du wirst ausgewiesen \u2013 aber Bangkok. das ist das Paradies \u2026\u201c<\/p>

Indien ist mit Tempeln und G\u00f6ttern \u00fcbers\u00e4t. Tausende von Sekten und Kasten sind eben so viele Gef\u00e4ngnisse f\u00fcr die Frau. Zur Unterw\u00fcrfigkeit verurteilt dient sie  Gott und dem Mann<\/em><\/p>

Es ist fr\u00fch am Morgen. Die Stadt erwacht. Auf dem Weg vom Flugplatz zum Zentrum erkennen wir im Morgengrauen Tausende von Menschen vor ihren H\u00fctten und H\u00e4uschen. Sie reiben sich nicht den Schlaf aus den Augen. Sie sitzen da mit ihren nackten Hintern. Es sieht gespenstisch aus. All diese nackten Gestalten, die ihre Notdurft verrichten, als s\u00e4\u00dfen sie bequem und allein hinter geschlossener T\u00fcr. Das Land der Reinheit begr\u00fc\u00dft uns nicht gerade von seiner sch\u00f6nsten Seite.
Wir haben ein paar Adressen. Menschen aus allen Schichten. Wir beginnen bei einem Ingenieur:
\u201eMein Vater ist nicht zu Hause\u201c, antwortet uns ein Junge von vielleicht zw\u00f6lf Jahren.
\u201eK\u00f6nnen wir dann vielleicht mit deiner Mutter sprechen?\u201c
\u201eNein. Das geht leider nicht. Sie kommt erst \u00fcbermorgen aus ihrem Zimmer heraus.\u201c
Unrein! Ich h\u00e4tte es fast vergessen. Frauen sind einmal im Monat unrein und m\u00fcssen sich f\u00fcr vier Tage zur\u00fcckziehen, damit niemand angesteckt wird. Deshalb arbeiten in unserem Hotel auch keine Frauen. Wie k\u00f6nnte man wissen, wann sie unrein sind. Nur wenige Inder w\u00fcrden ein solches Risiko eingehen.
Rein oder Unrein regelt den Verkehr zwischen Menschen, wie bei uns Rot und Gr\u00fcn die Flut der Autos. Dabei kommt es weniger auf Kot, Bazillen, Schmutz oder Blut an; geregelt wird, wer wem was reichen darf und was wie von wem verrichtet werden mu\u00df.
Im Hotel besucht uns ein Offizier mit seiner Schwester und einer jungen Anw\u00e4ltin. Die beiden Frauen sind aufgeschlossen, intelligent, h\u00fcbsch, redegewandt, selbstsicher. Das moderne Indien, wie man es sich vorstellt.
Nur Ausl\u00e4nder haben die Erlaubnis Bier zu trinken. Als der Ober sich weigert, mehr als zwei Gl\u00e4ser auf den Tisch zu stellen, bieten Marie-Claude Deffarge und ich den indischen G\u00e4sten an, aus unseren Gl\u00e4sern mitzutrinken. Betretenes Schweigen, besonders Krishna, die Anw\u00e4ltin, sieht aus, als habe sie einen Stock verschluckt.
Wie konnten wir vergessen, da\u00df es sich in Indien nicht schickt, etwas an den Mund zu f\u00fchren, was andere bereits mit den Lippen ber\u00fchrt haben.
\u201eK\u00fc\u00dft Ihr Euch denn nie?\u201c, fragt -Marie-Claude rundheraus.
\u201eNur die ganz modernen tun das, die dem Westen nacheifern.\u201c
\u201eSind Sie modern?\u201c, frage ich Krishna.
\u201eMein Beruf ist modern, aber ich k\u00fcsse nicht.\u201c
\u201eWeil es unrein ist?\u201c
\u201eAuch darum \u2013 aber mein Fall ist komplizierter \u2026\u201c
Krishna ist eine Kaschmiri Brahmanin, das ist die exklusivste Kaste, das h\u00f6chste an Heiligkeit, menschlicher W\u00fcrde und gesellschaftlicher Stellung. Aber es ist irref\u00fchrend, soziale Begriffe als Vergleich zu nutzen. Die Kaste ist nicht als Klasse zu verstehen. Ein Brahmane (h\u00f6chste Kaste) ist keineswegs mit unseren Krupps oder Thyssens zu vergleichen. Er kann sogar arm sein. Und ein Unber\u00fchrbarer (unterste Kaste) ist nicht mit einem Handlanger, Landstreicher oder Bettler gleichzusetzen.
In die Kaste wird man hineingeboren. Die jeweilige Stufe h\u00e4ngt von den Verdiensten des vorigen Lebens ab. Unsere europ\u00e4ische Klassengesellschaft staffelt sich nach T\u00fcchtigkeit und Geld, die man zu Lebzeiten vorzuweisen hat. Man kann in seinem Leben sogar mehrere Male die soziale Leiter hinauf und wieder herunterrutschen. Das ist im indischen Kastensystem ausgeschlossen. Die Kaste ist ein Gef\u00e4ngnis. Es geht weder vorw\u00e4rts noch zur\u00fcck. Die gesellschaftliche Pyramide ist eingefroren.
Krishna also geh\u00f6rt zur Creme der Brahmanen. Sie ist bildsch\u00f6n, zweiunddrei\u00dfig Jahre alt, unverheiratet, Jungfrau und sogar ungek\u00fc\u00dft. Warum? Weil es nur wenige Kashmiri Brahmanen gibt und die unverheirateten M\u00e4nner dieser Kaste sehr selten sind. Krishnas Eltern geben regelm\u00e4\u00dfig in allen Teilen des Landes Heiratsanzeigen auf \u2013 ohne Erfolg.
\u201eWie k\u00f6nnen Sie sich das gefallen lassen?\u201c, ruft Marie-Claude, \u201eSie, eine Anw\u00e4ltin, eine Frau, die mit beiden Beinen im modernen Leben steht \u2026“
Sie kommt nicht weiter. Der Leutnant der Luftwaffe unterbricht:
\u201eGottlob, da\u00df Kasten noch respektiert werden! Ich bin auch modern. Aber schauen Sie sich doch die Regierung an. Schlamassel. Warum? Weil dort Leute sitzen, die nicht zum Regieren geboren sind. Das war fr\u00fcher Sache der Radschputen. Unsere Kaste hatte die Aufgabe zu herrschen und zu k\u00e4mpfen. Man sollte uns wieder das Kommando geben, dann w\u00fcrden wir auch mit Pakistan aufr\u00e4umen.\u201c<\/p>

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Wenn die Herren Krieg f\u00fchren, dr\u00fccken Sie den Frauen Flinten in die Hand. F\u00fcr Sterben sind sie gleichberechtigt. Im Leben m\u00fcssen sie dienen, gehorchen, kuschen. Seine Freuden teilt der Inder mit hochqualifizierten Fachkr\u00e4ften. Ihnen verdankt Indien heute noch den Ruf, ein erotisches Paradies zu sein<\/em><\/figcaption><\/figure><\/div>

Der Leutnant singt ein Loblied auf seine Kaste. Und auch die Sikhs werden in den Himmel gehoben, jene Kaste, die geschworen hat, Bart und Haare erst dann wieder zu schneiden, wenn alle Mohammedaner aus dem Land verjagt sind. Dieser Schwur ist f\u00fcnfhundert Jahre alt. Und so sehen die Herren Sikhs auch aus.
\u201eTolle Kerle\u201c, meint der Leutnant. \u201eDie h\u00e4tten Sie an der Arbeit sehen sollen, als die Mohammedaner nach der Unabh\u00e4ngigkeit Indiens davonrannten. Und die Sikhs haben ihre S\u00e4bel nicht weggeworfen. Warten Sie mal ab, bis es wieder losgeht.\u201c
Ich erinnere an Gandhis Lehre von der Gewaltlosigkeit. Aber er winkt ab. Gandhi sei ein Spinner gewesen. Ihm habe man diese Legende zu verdanken.
In Indien gibt es Kasten, deren Aufgabe es ist, zu k\u00e4mpfen und zu t\u00f6ten. Dazu geh\u00f6rt auch er. Die Radschputen lernen bereits im Mutterleib, wie sie der Hebamme das Messer entrei\u00dfen k\u00f6nnen, um selber die Nabelschnur durchzuschneiden.
Unser Leutnant ist hoch begl\u00fcckt, da\u00df die allgemeine Wehrpflicht nicht eingef\u00fchrt worden ist. Dann w\u00e4ren die Kasten eingezogen worden, die den Kampfgeist der Truppe gebrochen h\u00e4tten.
\u201eStellen Sie sich vor\u201c, sagt er, \u201eam Bombenausl\u00f6ser meiner Maschine s\u00e4\u00dfe ein Dschain. Das sind die Leute, die nur durch Taschent\u00fccher atmen, um nicht aus Zufall kleine Insekten zu verschlucken und zu t\u00f6ten. So ein Kerl mu\u00df doch versagen \u2013 denn eine Bombe t\u00f6tet.\u201c
\u201eUnd zwar nicht nur Soldaten, auch Frauen und Kinder.\u201c
\u201eUnsinn \u2013 M\u00fccken, V\u00f6gel, Spinnen \u2013 oder noch schlimmer: eine heilige Kuh. K\u00f6nnen Sie sich solche Kerle als Soldaten vorstellen? Da lobe ich mir meine Sikhs, Radschputen, Gurkas und Bilhs.\u201c
Radschputen d\u00fcrfen reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, sie haben das Recht, Wein zu trinken, Fleisch zu essen, zu lieben und das Leben in vollen Z\u00fcgen zu genie\u00dfen.
Die Anw\u00e4ltin Krishna darf das nicht. Eine Kaschmiri Brahmanin mu\u00df gelassen hinnehmen, als alte Jungfrau zu sterben.Marie-Claude bringt den temperamentvollen Leutnant zum Schweigen. Sie wendet sich an Krishna.<\/p>

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Selbst die modernen M\u00e4dchen zeigen mehr Fanatismus gegen Pakistan als Willen zur Gleichberechtigung.<\/em><\/p>

\u201eSoviel ich wei\u00df, ist das Kastensystem verurteilt worden. Von Gandhi, Nehru, von der Kongre\u00dfpartei.\u201c
\u201eWas k\u00f6nnen Gesetze gegen Religion und Sitte ausrichten? Schauen Sie sich unseren Oberkellner an, er mu\u00df Brahmane sein.\u201c
\u201eWieso?\u201c
\u201eWie sollten G\u00e4ste h\u00f6herer Kasten sonst bedient werden k\u00f6nnen, ohne unrein zu werden? Es hat sich vieles in Indien ge\u00e4ndert. Das Kastensystem ist elastischer geworden \u2013 aber nur im Beruf. Zwei Tabus bleiben nach wie vor unantastbar: das Essen und die Ehe. Man setzt sich nicht mit einer tieferen Kaste an einen Tisch \u2013 und man heiratet nicht in eine andere Kaste. Ausnahmen z\u00e4hlen nicht.\u201c
Krishna spricht sachlich, gelassen, ohne zu verurteilen oder zu loben. Sie scheint nicht einmal zu bedauern, in ihrem Alter noch keinen Mann gefunden zu haben. Jeder hat seinen vorbestimmten Platz. Sie den ihren. Ihn richtig auszuf\u00fcllen ist die h\u00f6chste Pflicht.<\/p>

In mir d\u00e4mmert der Verdacht, da\u00df die vielgepriesene indische Weisheit nichts anderes ist als diese stolze Resignation. Die widerspruchslose Hinnahme des \u00fcberlieferten Weltbildes. Etwa unter dem Motto: Was wir tun, mu\u00df gut und richtig sein \u2013 wurde es doch von uns erfunden.
Ich frage Krishna: \u201eUnd die Liebe? Durchbricht sie nicht manchmal die Schranken der Kasten?\u201c
\u201eSelten. Es ist Aufgabe der Eltern, die Ehepartner ihrer Kinder auszusuchen.\u201c
Jetzt kann ich die indische Selbstbeherrschung nicht mehr mitmachen: \u201eIhr seid alle verr\u00fcckt. Krishna, Sie als Anw\u00e4ltin k\u00f6nnen sich doch nicht irgendeinen Mann unterjubeln lassen. Und wenn Ihr Brahmane nun ein Idiot ist?\u201c
\u201eRegen Sie sich nicht auf\u201c, sagt sie mit nahezu unertr\u00e4glicher W\u00fcrde und Gelassenheit. \u201eDer Fall wird sowieso nicht eintreten. Meine Eltern sind nicht reich genug, um es sich leisten zu k\u00f6nnen, mir einen ebenb\u00fcrtigen Brahmanen zu kaufen.\u201c
Also bezahlen lassen sich die raren Herren auch noch.<\/p>

Es lohnt sich, so einen Herrn einmal n\u00e4her zu betrachten. Viele sind uns \u00fcber den Weg gelaufen. Einer jedoch scheint uns ein Musterbeispiel zu sein.
\u201eNennen Sie mich B.C.\u201c, sagt er, als er uns vorgestellt wird. \u201eDas sind meine Initialen. Es klingt vertraulich und h\u00e4lt doch Distanz.\u201c
B.C. ist Brahmane \u2013 nicht aus der kleinen Gruppe der Kaschmiri. Er stammt aus dem Pandschab, dem Norden, was auch nicht zu verachten ist. Im Pandschab ist die Hautfarbe heller. Von dort kamen einst die arischen Eroberer und dr\u00e4ngten die einheimische, dunkelh\u00e4utige Urbev\u00f6lkerung nach S\u00fcden ab. Folglich f\u00fchlt sich jeder Nordinder als der direkte Nachfolger der hellfarbigen Herrenrasse und jedem S\u00fcdinder haushoch \u00fcberlegen. Ein Brahmane aus dem Norden, selbst ein barf\u00fc\u00dfiger, w\u00fcrde es seiner Tochter nicht erlauben, einen Brahmanen aus dem S\u00fcden zu heiraten. So kommt zum Gef\u00e4ngnis der Kasten auch noch die Barriere zwischen Rassen und Hautschattierungen. Die einzelnen Gruppen werden immer kleiner und der Abstand zwischen ihnen immer gr\u00f6\u00dfer.<\/p>

Fr\u00fchehe \u2013 Kindergarten der Erotik<\/strong><\/p>

B.C. hatte das Pech, uns gerade im S\u00fcden des Landes begleiten zu m\u00fcssen. Sein Chef, der Pr\u00e4fekt, wollte es nicht verantworten, uns allein durch den Dschungel reisen zu lassen. So wurden wir f\u00fcr eine Woche unzertrennliche Gef\u00e4hrten.
Eines Tages treffen wir zwischen zwei D\u00f6rfern eine kleine Karawane. Musikanten an der Spitze. Sieben Wagen, wie man sie aus Wildwestfilmen kennt. Lachende Menschen und zwei Kinder, deren Gesichter wir nicht sehen k\u00f6nnen. Goldpapier und Blumen h\u00e4ngen vom Kopf bis zur Brust.<\/p>

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Kinderehe \u2013 gesetzlich verboten, aber immer wieder arrangiert. Der Junge ist zw\u00f6lf, das M\u00e4dchen acht. Gestern kannten sie sich noch nicht. Viele Inder behaupten, die Kinderehe erhalte das sexuelle Gleichgewicht des Mannes \u2013 die Wahl durch die Eltern vermeide das aufreibende, Seele und Studium zerr\u00fcttende Flirten im europ\u00e4ischen Stil<\/em><\/figcaption><\/figure><\/div>

B.C.s angeborene Autorit\u00e4t kommt uns zugute. Er hebt die Schleier. Wir entdecken einen zw\u00f6lfj\u00e4hrigen Jungen und ein achtj\u00e4hriges M\u00e4dchen, jungverheiratet. Die Karawane geleitet die Braut im Triumphzug ins Dorf der Schwiegereltern. Eine Kinderhochzeit \u2013 offiziell verboten und doch immer wieder arrangiert. Keineswegs geheim. Was sollen die Beh\u00f6rden gegen alte Sitten ausrichten?
B.C. \u2013 ich verga\u00df zu sagen, da\u00df er ein studierter Mann ist und eine brillante Karriere vor sich hat \u2013 entpuppt sich als energische Verfechter der Kinderehe. Zun\u00e4chst gibt es den jungen M\u00e4nnern die Gelegenheit, sich sexuell zu bet\u00e4tigen, sobald die Dr\u00fcsen es verlangen. Das ist lebenswichtig in einem Land, wo Jungen und M\u00e4dchen kaum miteinander sprechen d\u00fcrfen. \u201eEs verh\u00fctet gef\u00e4hrliche Verdr\u00e4ngungspsychosen\u201c, erkl\u00e4rt B.C. \u201eSo bleiben die M\u00e4nner seelisch gesund.\u201c
\u201eUnd das junge M\u00e4dchen?\u201c
\u201eDie Frau soll schon fr\u00fch an ihre Rolle gew\u00f6hnt werden: dienen, gehorchen, den Mann verehren wie einen Gott \u2013 oder fast wie einen Gott.\u201c
\u201eMit acht Jahren?\u201c
\u201eWarum nicht? Spielen bei Euch die Kinder vielleicht nicht Doktor und so. \u2026? Verheiratet ist das moralischer, oder nicht?\u201c<\/p>

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Heute ist Dienen die Hauptaufgabe der Frau. Sie mu\u00df den Mann wie einen Gott verehren. Selbst in den besten Familien ist es \u00fcblich, dem Herrn Gemahl abends die m\u00fcden F\u00fc\u00dfe und Waden zu massieren<\/em><\/p>

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Topfakrobatik als Beweis weiblicher T\u00fcchtigkeit. Indiens Energien verpuffen in sinnlos geworden Br\u00e4uchen
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B.C. erkl\u00e4rt uns auch die wirtschaftlichen Vorteile am eigenen Beispiel: \u201eMein Schwiegervater ist ein Idiot. H\u00e4tte er auf der Heirat bestanden, als ich noch f\u00fcnfzehn war, dann h\u00e4tte ihn der Spa\u00df nur 20 000 Rupien anstatt 80 000 gekostet. Mit zweiundzwanzig war ich bereits viermal so viel wert. Akademiker, Beamter der Regierung mit gesicherter Zukunft. So was hat seinen Preis. Je j\u00fcnger, desto billiger. Verstehen Sie?\u201c
\u201eHalbwegs.\u201c
\u201eDeshalb sind besonders die Familien mit vielen T\u00f6chtern f\u00fcr die Kinderehe – oder wenigstens eine Verlobung im Kindesalter. Denn sie haben gro\u00dfe Ausgaben. Also liegen sie auf der Lauer und sagen sich: Schau mal, der Herr Soundso hat nur zwei S\u00f6hne. Er hat Geld. Diese Knaben werden was. La\u00dft uns sie kaufen, solange sie Kinder sind. Wenn die mal Karriere gemacht haben, kosten sie das F\u00fcnffache und sind f\u00fcr uns unerschwinglich. \u2013 Und es wird verhandelt und gehandelt. \u2013 Nat\u00fcrlich gibt es Risiken und Reinf\u00e4lle. So ein Knabe kann sich als Null entpuppen. Die richtige Nase mu\u00df man haben \u2013 und die richtigen Tipps. Daf\u00fcr sorgen Informanten, die man n\u00f6tigenfalls bezahlt. Vom Koch bis zum Hausarzt.\u201c
Jetzt begreifen wir es. Es mu\u00df aufregend sein, wie in einem Wettb\u00fcro. Man setzt auf einen Schwiegersohn wie auf ein Pferd. Wenn er das Rennen macht, hat man f\u00fcr billiges Geld einen Unterstaatssekret\u00e4r eingekauft oder sogar einen Minister. Bleibt er als Buchhalter stecken, hat man eben Pech gehabt, und Gott wollte es nicht anders.<\/p>

Schwiegerpapa ist immer der Dumme<\/strong><\/p>

\u201eUnd ich\u201c, f\u00e4hrt B. C. fort, \u201ebin jetzt das Opfer unserer Zollgesetze. Mein Schwiegervater konnte mir nicht einmal den versprochenen Sportwagen geben, weil die Regierung die Einfuhr ausl\u00e4ndischer Wagen verboten hat. Ich geh\u00f6re zur Sportwagenklasse.\u201c
So gibt es den Chevrolet-Schwiegersohn, den Mercedes-Schwiegersohn, den Ferrari-Jungen.  –  Hier handelt es sich nat\u00fcrlich nur um das Gesellschaftsspiel hoher Kasten, besonders der Brahmanen, jener Menschen, die von Gott berufen sind, anderen Menschen die heiligen Schriften zu erkl\u00e4ren, ein beispielhaftes Leben zu f\u00fchren und auf irdische G\u00fcter zu verzichten, um so, unbeschmutzt von Gier und Geld, leichten Schritts ins Nirwana zu wandeln.
B. C. ist eine unersch\u00f6pfliche Informationsquelle. Er erkl\u00e4rt uns, da\u00df seine Schwiegereltern Bett und Kost zahlen m\u00fcssen, wenn sie zu ihm zu Besuch kommen. Und wenn seine Frau ihre Eltern besuchen will, dann mu\u00df ihr Herr Vater oder ein Bruder sie gef\u00e4lligst abholen und die Reise bestreiten. Sie d\u00fcrfen doch nicht ihr Gesicht verlieren. Und eine Frau allein reisen zu lassen, hat es das in guten Kreisen schon mal gegeben?
\u00dcbrigens hat B. C. noch ein gewichtiges Argument f\u00fcr die Kinderehe auf Lager. Liebe darf nie im Spiel sein, und die jungen Ehepartner m\u00fcssen von den Eltern ausgesucht werden.<\/p>

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T\u00e4towierungen und Zeichnungen magischer Symbole sollen den K\u00f6rper gegen das Eindringen unheilbringender Geister sch\u00fctzen. Urspr\u00fcnglich diente der Schmuck dem gleichen Zweck. Heute ist er nur noch eine magische Mauer, vor allem jedoch ein Beweis materieller Sicherheit. Die Frauen haben kein anderes Recht auf Besitz. Ihnen geh\u00f6rt nur das Gold und Silber, das an ihnen h\u00e4ngt<\/figcaption><\/figure><\/div>
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Der Flirt ist ein sinnloser Affentanz<\/strong><\/p>

Es liegt doch auf der Hand: Wenn ein Junge nicht zu w\u00e4hlen und zu werben braucht, kann er in Frieden und Harmonie leben. Es gibt hier nicht die aufreibende Konkurrenz, die in Europa die Energien der Jugend auffri\u00dft. Dort m\u00fcssen junge M\u00e4nner den Hof machen und sich wie Affen benehmen. Sie m\u00fcssen z\u00e4rtlich sein, aufmerksam, herrisch oder verlogen, je nach Laune und Charakter des umworbenen M\u00e4dchens. Werben \u2013 das Wort allein l\u00e4sst B.C. erblassen. Hat man schon M\u00e4nner werben sehen? Ein Mann befiehlt.
Was ist das f\u00fcr eine Zivilisation, die ihre M\u00e4nner so erniedrigt? Dort m\u00fcssen Angst und Unsicherheit wie Unkraut in der Seele des Jungen wuchern. Und wenn er dann noch in der Liebe versagt, schleppt er seinen Liebeskater durchs ganze Leben. Das ist Barbarei, Entmannung. Mehr noch: Es lenkt vom Studium ab, vom Streben nach h\u00f6heren Zielen. Wieviel Zeit wird da f\u00fcr nichts und wieder nichts vergeudet? Ein halbes Leben. Dieser ganze sentimentale Unsinn macht die M\u00e4nner zu Memmen. Alles Wertvolle geht verloren. Der geistige Funke springt nicht in Gottes Scho\u00df, er wird von den Tr\u00e4nen eines Weibes in den erotischen Dreck gesp\u00fclt. \u201eDas ist bei uns vern\u00fcnftiger\u201c, schlie\u00dft B.C. \u201eDie Eltern, die weit mehr Erfahrung haben als wir jungen Leute, legen uns eine Frau in die Arme. Und wenn wir versagen, dann kennt die Frau ihre Pflicht. Sie massiert uns liebevoll die F\u00fc\u00dfe und die Waden. \u2013 Nein, nicht umsonst sind wir Gott n\u00e4hergekommen als irgendein Volk der Erde. Wir verbrauchen unsere Kraft nicht im Kampf der Geschlechter.\u201c
Ich wage nochmals die Frage nach der Liebe.
\u201ePflicht, mein lieber Herr, das ist unser oberstes Gesetz. Mein Vater hat meine Mutter f\u00fcr f\u00fcnf Jahre in ihre Familie zur\u00fcckgeschickt, weil sie ihre Pflichten vernachl\u00e4ssigte.\u201c
\u201eHat sie ihn betrogen?\u201c
B.C. ist, wie alle Brahmanen, v\u00f6llig Herr seiner Gef\u00fchle und Regung. Er zeigt nicht, wie tief ich ihn jetzt beleidigt habe. Er erkl\u00e4rt nur: \u201eDie Milch war kalt. Jeden Abend um sechs Uhr mu\u00dfte sie meinem Vater ein Glas warmer Milch bringen. Aber zwei Tage hintereinander war die Milch kalt …\u201c<\/p>

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Die Frauen dieser Welt. Gordian Troeller und Claude Deffarge setzen ihre Serie mit einem Bericht \u00fcber Indiens Frauen fort <\/em><\/figcaption><\/figure><\/div>","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Stern, Heft 40, 3. Oktober 1965 Indien reicht eine beneidenswert sch\u00f6ne Visitenkarte in der Welt herum: Vergeistigung, N\u00e4chstenliebe, Gewaltlosigkeit, Achtung vor dem kleinsten Tier, Weisheit, Yoga, alte Kultur, gro\u00dfe Philosophen und heilige M\u00e4nner in Massen. \u2013 Es scheint die einzige Nation zu sein, der es gelungen ist, im Alltag Gut und B\u00f6se zu vers\u00f6hnen. Kein…<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":55423,"parent":54141,"menu_order":1,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":{"_seopress_robots_primary_cat":"","_seopress_titles_title":"","_seopress_titles_desc":"","_seopress_robots_index":"","footnotes":""},"categories":[548],"tags":[],"class_list":["post-54142","page","type-page","status-publish","has-post-thumbnail","hentry","category-indien","entry","has-media"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54142"}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/types\/page"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/users\/1"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=54142"}],"version-history":[{"count":5,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54142\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":63028,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54142\/revisions\/63028"}],"up":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54141"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media\/55423"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=54142"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=54142"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=54142"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}