{"id":54223,"date":"2017-03-11T16:19:31","date_gmt":"2017-03-11T15:19:31","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=54223"},"modified":"2021-08-02T16:41:19","modified_gmt":"2021-08-02T14:41:19","slug":"im-karibischen-paradies-ist-der-teufel-los","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/mittelamerika\/in-costa-rica-und-panama\/im-karibischen-paradies-ist-der-teufel-los\/","title":{"rendered":"Im Karibischen Paradies ist der Teufel los"},"content":{"rendered":"

Zwischen Kennedy und Castro<\/strong><\/p>\n

Stern, Heft 19, 7. Mai 1961<\/em><\/p>\n

Fidel Castro hat gesiegt. Der schnelle Zusammenbruch der Invasion zeigt, da\u00df der b\u00e4rtige Regierungschef die Mehrheit des Volkes hinter sich hat. Allen, deren Denken nicht von Wunschtr\u00e4umen bestimmt wird, war dies bekannt. Umso erstaunlicher ist es, da\u00df Washington eine Aktion unterst\u00fctzt hat, die, selbst, wenn sie erfolgreich gewesen w\u00e4re, nur Ha\u00df und Verbitterung in Lateinamerika ausl\u00f6sen konnte. Und um Lateinamerika geht es hier.
Der Glaube, mit Pr\u00e4sident Kennedy sei die Zeit der amerikanischen Einmischung vor\u00fcber, ist zerst\u00f6rt worden. Andererseits hat Castro gezeigt, da\u00df man sich erfolgreich gegen den industriellen Riesen des Nordens stellen kann. Jetzt werden die anti-amerikanischen Gef\u00fchle \u00fcberall explosive Formen annehmen. Im karibischen Raum ist die Lage bereits dramatisch. Ich komme gerade von dort. Meine letzte Station war Kuba.<\/p>\n

\"\"Das S\u00fcndenbabel Amerikas<\/strong> nannte man Havanna unter der Diktatur Batistas. Es gab f\u00fcnfzigtausend Prostituierte, unz\u00e4hligen Spielh\u00f6llen, Hunderttausende von Touristen. Jetzt wird dort geschossen. Die Kunden bleiben aus.\u00a0<\/em><\/p>\n

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Anstelle der Werbung <\/em>\u00a0f\u00fcr Rundfahrten und Nachtlokale h\u00e4ngt\u00a0<\/em>politische Propaganda an den W\u00e4nden. Prostitution ist verboten. Aber die Probleme bleiben<\/em><\/p>\n

Die Hauptstadt Havanna war wie immer; sie schien vor Leben und Temperament aus den N\u00e4hten zu platzen. Als ob niemand f\u00fchlte, da\u00df dieses Land einer Krise entgegentrieb, tanzten die Menschen auf den Stra\u00dfen. Sie feierten in einem verl\u00e4ngerten Karneval die Siege der Revolution: die Landreform, das \u201eJahr der Erziehung\u201c, die Nationalisierungen, neue Bauernd\u00f6rfer. Die erste \u201eZuckerernte des Volkes\u201c wurde von \u00fcppig gewachsenen, sparsam bekleideten M\u00e4dchen auf reich geschm\u00fcckten Wagen dargestellt. B\u00e4rtige Revolution\u00e4re regelten den Verkehr. Die Rhythmen des Cha-Cha-Cha waren \u00fcberall in der Luft.
\u201eKomm, Yankee, tanz\u2019 mit mir!“ –\u00a0 \u201eSchau, Yankee, was wir erreicht haben!“ – \u201eSag, Yankee, ihr werdet uns doch nicht angreifen?“ – \u201eH\u00f6r, Yankee, wir sind keine Kommunisten. Bitte, Yankee, sei unser Freund!“ Jeder fremde Besucher wird hier automatisch f\u00fcr einen Amerikaner gehalten. Ohne jeden Ha\u00df.
Ein westlicher Diplomat, der mich seit Tagen \u00fcberzeugen wollte, da\u00df Kuba dem Kommunismus verfallen sei, machte seinem \u00c4rger Luft: \u201eDas ist doch nur elendes Gesindel aus den Vorst\u00e4dten und der Altstadt. Die echten Kubaner sind nicht hier. Die richtigen Leute haben keine Zeit zu feiern. Sie fabrizieren Bomben und planen die Invasion. Sie sollen mal sehen, wie diese Bande n\u00fcchtern wird, wenn es hier knallt.“
\u201eMu\u00df es dazu kommen?“
Er schaut mich mitleidig an.
\u201eWollen Sie etwa, da\u00df Kuba kommunistisch bleibt?“
Aber ist es denn kommunistisch? Diese Frage besch\u00e4ftigt alle. Die Vereinigten Staaten behaupten: Ja.
Der Gro\u00dfteil der westlichen Presse auch.\u00a0Fidel Castro sagt: \u201eWir suchen Gerechtigkeit f\u00fcr alle. Aber wir wollen kein Brot ohne Freiheit, keine Freiheit ohne Brot. Wir haben uns unsere Freunde nicht ausgesucht. Es blieb uns keine andere Wahl. Jetzt m\u00fcssen wir denen danken, die uns in der Not geholfen haben. Aber wir verkaufen uns keinem.\u201c
Trunken von seiner neuen Selbstst\u00e4ndigkeit wird ein Volk pl\u00f6tzlich in den Strudel der Weltpolitik gezogen. Es wollte sich selbst befreien und geriet dabei zwischen die Fronten des Kalten Krieges, dessen Spielregeln es nicht kennt.
Seit Wochen gr\u00f6lte die kubanische Presse kommunistische Schlagworte gegen den \u201eamerikanischen Imperialismus\u201c. Die Invasion lag in der Luft, und je n\u00e4her sie r\u00fcckte desto hysterischer wurde der Ton. M\u00e4nner drehten dem Regime den R\u00fccken und suchten Zuflucht in Florida. Je mehr Pl\u00e4tze frei wurden, umso sicherer r\u00fcckten die Kommunisten vor; denn je gr\u00f6\u00dfer die Spannung wird, umso notwendiger werden sie f\u00fcr Castros Regime. Sie sind treue Verb\u00fcndete gegen Amerika und die Garantien \u00f6stlicher Freundschaften.
Die kommunistische Partei z\u00e4hlt 26 000 Mitglieder, sie kontrolliert einen gro\u00dfen Teil der Presse und die meisten Gewerkschaften der St\u00e4dte. Jeder wei\u00df, da\u00df es ohne sie nicht mehr geht. Jeder wei\u00df aber auch, da\u00df sie nicht regiert, noch nicht.
In den Hotels treffen wir Russen, Tschechen, Polen, Chinesen. Sie sehen nicht aus wie Eroberer. Sie stellen sich die gleiche Frage wie wir: Ist Kuba kommunistisch?
Schon das allein klingt seltsam aus dem Munde von Menschen, die angeblich die Herren des Landes sein sollen. Aber h\u00f6ren wir ihnen zu:
\u201eIch werde nicht klug aus dieser Revolution“, sagt mir ein polnischer Schriftsteller, der seit drei Monaten versucht, ein Buch \u00fcber Castro zu schreiben. \u201eHier gibt es keine Theorie, keine feste Linie. Es ist zum Verr\u00fccktwerden. Wenn man Ma\u00dfnahmen der Regierung gefunden hat, die in ein System passen, schmei\u00dft die n\u00e4chste Verordnung alles wieder um. Wie soll ich ohne jeden Anhaltspunkt schreiben k\u00f6nnen? Die einzige Definition, die ich bis heute gefunden habe, ist: \u201aRevolution\u00e4rer Pragmatismus\u2019 oder \u201aPragmatische Dynamik mit Linksdrall\u2019. Komisch, wie?“ Er fa\u00dft sich verzweifelt an die Schl\u00e4fen. Schwei\u00dftropfen perlen zwischen zwar seinen Fingern.<\/p>\n

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Millionen Menschen ohne Hoffnung, ohne W\u00fcrde, ohne Religion, ohne Brot \u2013 sie sind die Lieblingskinder des Staates geworden<\/strong><\/em><\/figcaption><\/figure>\n
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Man gibt ihnen Arbeit. Man baut ihnen H\u00e4user. Die Maurer und Tischler stellt das Heer, die Anstreicher die Marine<\/strong><\/em><\/figcaption><\/figure>\n

Ein tschechischer Ingenieur ist pr\u00e4ziser: \u201eWenn das, was die uns hier vorexerzieren Kommunismus ist, dann bin ich John F. Kennedy pers\u00f6nlich. Allenfalls sind das Gerechtigkeitsfanatiker, romantische Kinder, Gleichheitsapostel. Die wollen Jesus wiederfinden und glauben, Recht haben gen\u00fcgt, um stark zu sein. – Ohne Castro k\u00f6nnte man sich vielleicht zur Vernunft bringen. Aber was soll’s?“
Mit einem Augenzwinkern: \u201eWo l\u00e4\u00dft es sich so sch\u00f6n leben wie hier? Was? P\u00fcnktlich um sechs Uhr abends h\u00f6re ich auf, Kommunist zu sein. Und glauben Sie nicht, ich sei der einzige. Hier wird der sturste Dogmatiker korrupt. Die Kubaner glauben so intensiv ans Leben, da\u00df sie nicht einmal ihre Revolution in Zwangsjacken stecken k\u00f6nnen. Geschweige denn sich selbst. Ha, ha \u2026\u201c Er schl\u00e4gt mir auf die Schulter. „Kommen Sie, ein kleiner Bummel durch die Bars kann nicht schaden. \u2026“
Ein russischer Wirtschaftsexperte geht durch die Halle des Hotels \u201eNacional\u201c. Ein alter Bekannter, den ich in \u00c4gypten zuletzt sah. Ich sprinte hin und frage: \u201eGeh\u00f6rt Kuba jetzt euch?“
\u201eGott beh\u00fcte“, sagt er, nachdem wir uns umst\u00e4ndlich begr\u00fc\u00dft haben, \u201euns w\u00e4re es lieb, wenn Castro sich mit Amerika vers\u00f6hnen w\u00fcrde. Wir werden sonst noch in Dinge hineingezogen, die wir nicht kontrollieren k\u00f6nnen. Denn von Kontrolle kann hier keine Rede sein. Auf der anderen Seite m\u00fcssen wir Kuba unterst\u00fctzen, wenn wir nicht die Sympathien der neutralen und der jungen Nationen verlieren wollen.“
\u201ePolitische Vorteile bringt es Ihnen doch“, sage ich.
„Quatsch! Castro ist eine Belastung und kein Triumph. Durch seinen radikalen Kurs verdirbt er unsere ganzen Pl\u00e4ne f\u00fcr Lateinamerika.“ Er schaut auf die Uhr. Schnell noch die Frage, die zur Plage geworden ist: \u201eW\u00fcrden Sie Kuba als kommunistisch bezeichnen?“ Er sucht einen Augenblick nach einer Formulierung, dann sagt er l\u00e4chelnd: \u201eIm Vergleich zu Kuba sind die Chinesen konservativ und wir Russen alberne Reaktion\u00e4re. Die Kommunistische Partei Kubas steht auf der \u00e4u\u00dfersten Rechten der Revolution. Urteilen Sie selber.“
Damit l\u00e4\u00dft er mich stehen und verspricht mir eine l\u00e4ngere Unterredung in den n\u00e4chsten Tagen.
Sie wird nicht stattfinden. Denn wir haben die Nase voll von dieser Stadt, wo das Volk unbek\u00fcmmert tanzt, wo geschossen wird und – erschossen. Wo einem die abgedroschenen Schlagworte des Kalten Krieges um die Ohren geschlagen werden, da\u00df einem H\u00f6ren und Sehen vergeht. Und alles im Rhythmus des Cha-Cha-Cha.
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Die Schlacht um den Zucker wird zum Picknick.<\/strong> In sonnt\u00e4glichem Ausflug ziehen die St\u00e4dter mit Fahne und Machete, mit Kind und Kegel am Wochenende aufs Land, um den Bauern beim Schneiden des Zuckerrohres zu helfen. Sie folgen dem Aufruf Fidel Castros zur Steigerung der Produktion und ernten Blasen und blaue Flecke. Zucker ist die Plage der Insel. Ein Drittel der Weltproduktion kam aus Kuba. Das Zuckerrohr bedeckte drei F\u00fcnftel des bebauten Landes. Jedes Jahr von neuem bestimmte der Zucker \u2013 und er\u00a0 allein \u2013, ob die Insel reich war oder arm. Heute versucht Kuba diesem Fluch des s\u00fc\u00dfen Unkrauts zu entrinnen. Dazu mobilisiert Castro das ganze Volk. Er will einen gro\u00dfen Teil der Zuckerplantagen in Ackerland und Obstg\u00e4rten verwandeln und endlich Pflanzen anbauen lassen, die den Kochtopf des Volkes f\u00fcllen<\/em><\/p>\n

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Wir wollen sehen, was auf dem Land passiert, denn um das Land geht es doch bei dieser Revolution. Mit einem gemieteten Wagen machen wir uns auf den Weg, und schon beim Verlassen von Havanna gibt es die erste \u00dcberraschung: Wir werden nicht kontrolliert. In Europa w\u00e4re das normal. Aber hier, in einem Polizeistaat \u2013 so ist es ja \u00fcberall zu lesen \u2013, denkt man zun\u00e4chst an Schlamperei. Das ist es nicht. Wir fahren zweitausendsechshundert Kilometer, schlafen in St\u00e4dten und D\u00f6rfern, sprechen mit Bauern, mit Revolution\u00e4ren und Rebellen, ohne da\u00df jemals ein Polizist oder Soldat uns fragt, wer wir sind, was wir wollen, woher wir kommen. Denn auch wenn wir spanisch sprechen, wir sehen nicht wie Kubaner aus.
Das Fehlen jeglicher Kontrolle f\u00e4llt um so mehr auf, als wir gerade aus Mittelamerika kommen. Von San Salvador bis nach Venezuela haben wir keine f\u00fcnfzig Kilometer im Auto fahren k\u00f6nnen, ohne von der Polizei angehalten und ausgefragt zu werden. Und das sind \u2013 soviel ich gelesen habe \u2013 keine Polizeistaaten, sondern mehr oder weniger liberale L\u00e4nder, in denen die Regierungen reformwillig sind und das Volk ruhig.
Die n\u00e4chste \u00dcberraschung stellt sich ein, als wir die Ergebnisse der Landreform an Ort und Stelle vergleichen mit den Behauptungen der gegenrevolution\u00e4ren Propaganda oder mit den Erkl\u00e4rungen gewisser westlicher Diplomaten in Havanna. Zwischen zwei Cocktails und einem galanten Abenteuer entscheiden sie: \u201eDie Leute verhungern, die Industrie steht still, die Landreform ist eine Pleite, achtzig Prozent aller Kubaner sind gegen Castro. Viertausend Rebellen sind in den Bergen.\u201c
Beweise? Sie k\u00f6nnen keine bringen. Dazu fehlt die Zeit. Sie m\u00fcssen schnell zur\u00fcck ins Cocktail-Getto der feinen Leute:
Wir aber sind jetzt bei den \u201edreckigen Bauern\u201c und fragen: \u201eWieviel verdienen Sie?\u201c
\u201eZwei Pesos achtzig (11,20 DM) am Tag.\u201c
\u201eUnd vor der Revolution?\u201c
\u201eManchmal 50 Cents, manchmal einen Peso oder sogar mehr. Aber es gab nie Arbeit f\u00fcrs ganze Jahr. H\u00f6chstens f\u00fcr 4-5 Monate\u201c
\u201eSind Sie ein freier Bauer?\u201c
\u201eIch war nur Landarbeiter. Jetzt geh\u00f6re ich zu einer Staatsfarm.\u201c
\u201eZufrieden?\u201c
\u201eMit soviel Geld, das ich regelm\u00e4\u00dfig bekomme? Ohne Angst vor der Zukunft und mit einem neuen modernen Haus? Wie soll ich da nicht zufrieden sein?\u201c
\u201eMan hat mir gesagt, ihr bekommt euren Lohn in Form von Warengutscheinen ausbezahlt, die ihr in den Volkskantinen in Waren umtauschen m\u00fc\u00dft? Stimmt das?\u201c
\u201eNein, wir bekommen alles in barem Geld. Hier.\u201c Er zieht strahlend drei\u00dfig Pesos aus der Tasche \u2013 120 DM. \u201eDas ist der Lohn der letzten zwei Wochen.\u201c Soviel Geld hat er fr\u00fcher nie auf einem Haufen gesehen.
Das ist ein Fall. Einer von zahllosen. Wir haben etliche hundert Menschen gefragt. Landarbeiter, freie Bauern,\u00a0Mechaniker und Soldaten, Techniker und Chauffeure. Neunzig Prozent sind begeistert, weil sie glauben, am Aufbau ihrer neuen Zukunft zu arbeiten. Hier, hat man das Gef\u00fchl, wird die Revolution gemacht. Nicht in Havanna. Hier entstehen Stra\u00dfen, D\u00f6rfer, Fabriken \u2013 ja ,Fabriken, die unter Batistas Diktatur stilllagen, arbeiten wieder. Hier wird die Landwirtschaft neu aufgebaut, um der Sklaverei des Zuckers zu entrinnen.<\/p>\n