{"id":54225,"date":"2017-03-11T16:19:31","date_gmt":"2017-03-11T15:19:31","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=54225"},"modified":"2021-08-02T16:49:12","modified_gmt":"2021-08-02T14:49:12","slug":"in-haiti-3","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/mittelamerika\/in-haiti-3\/","title":{"rendered":"In Haiti"},"content":{"rendered":"

Zwischen Kennedy und Castro<\/strong><\/p>

Stern<\/strong>, Heft 20,\u00a0 14. Mai 1961<\/em><\/p>

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\u201eHe Mister, Sie brauchen einen F\u00fchrer durch Haiti.\u201c-
\u201eHe Mister, Sie brauchen einen Hut.\u201c-
\u201eSch\u00f6ne Mahagoniteller bitte, Hand gemacht\u201c –
\u201eMister, kommen Sie mit mir, ich hab‘ sehr sch\u00f6ne Schwester.\u201c –
\u201eIch hab‘ kleinen Bruder, Sir.\u201c-
\u201eGib mir einen Nickel, Johnny.\u201c –
\u201eHe Mister, ich kenne die Sch\u00f6nsten in ganz Port-au-Prince, hier …\u201c
In der knochigen schwarzen Hand, die sich vor meine Augen schiebt, liegen drei nackte Negerinnen* auf einer Strohmatte und zeigen ihre wei\u00dfen Z\u00e4hne in einem verkrampften Lachen. Das Foto ist abgegriffen und zerfetzt. Es sieht ebenso alt aus wie der hagere Neger*, der es mir zeigt.
<\/em>\u201eDie sind jetzt sicher schon Gro\u00dfm\u00fctter\u201c, versuche ich zu scherzen.
Alle lachen. Alle. Das sind zehn bis zw\u00f6lf Neger* in bunten Hemden und malerischen Strohh\u00fcten, die sich sto\u00dfen und dr\u00e4ngen, um mir ihre Waren anzubieten.
\u201eAber Monsieur\u201c, ruft einer, \u201eSie sprechen ja franz\u00f6sisch wie wir.\u201c
\u201eH\u00e4tten gleich sagen sollen, da\u00df sie kein Amerikaner sind. Franzosen kriegen alles billiger als die Yankees.\u201c
\u201eSogar die Gro\u00dfm\u00fctter\u201c, schreit der Alte und schiebt mir wieder seine Hand unter die Nase.
\u201eLes fran\u00e7ais aiment l’amour – Franzosen lieben die Liebe\u201c, ruft einer, der elf H\u00fcter auf dem Kopf tr\u00e4gt und seine Worte lachend mit unanst\u00e4ndigen Gesten unterstreicht.\u201eHaitianer auch.\u201c –
Die Stimme ist ernst. Sie geh\u00f6rt einem jungen Neger*. Mit seiner dicken Hornbrille und den feinen Gesichtsz\u00fcgen scheint er der Intellektuelle dieser Gruppe zu sein. Er war es, der sich mir als Fremdenf\u00fchrer angeboten hatte. \u201eWas bleibt uns dann sonst vom Leben \u00fcbrig, Monsieur?\u201c
Seine kurzsichtigen Augen flackern unruhig. Pl\u00f6tzlich rei\u00dft er dem Alten das Foto aus der Hand und schl\u00e4gt darauf herum, als wolle er die M\u00e4dchen pr\u00fcgeln.
\u201eEine Negerin*. Was? Das fa\u00dft ihr zu Hause nicht an. Das k\u00f6nnte abf\u00e4rben. Man hat Angst. Vor der Polizei. Vor der Frau. Vor der Braut. Aber hier. Warum nicht? Hier kann man mal im Dreck w\u00fchlen. Es sieht ja kein Mensch. Es sehen ja nur Neger*.\u201c
\u201eTa gueule \u2013 Halt’s Maul\u201c, ruft einer dazwischen, der in beiden Armen riesige Ebenholzfiguren tr\u00e4gt. Erb\u00e4rmliche Imitationen afrikanischer Masken. \u201eMonsieur ist doch kein Amerikaner. Der spricht franz\u00f6sisch. Franzosen scheren sich einen Dreck um die Farbe.\u201c
Der junge Mann nimmt seine Brille ab, putzt sie mit ungeschickten Bewegungen an seinem Hemd. \u201eAber ich konnte das nur auf Franz\u00f6sisch sagen. Begreif‘ doch. Wer kann schon genug Englisch, um einem Yankee ins Gesicht zu spucken.\u201c Er gibt dem Alten das Bild zur\u00fcck und bahnt sich einen Weg durch die lachenden M\u00e4nner.<\/p>

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Haiti hat kaum Stra\u00dfen. Um die Waren auf den Markt zu bringen, sind die Bauern oft tagelang auf dem Meer<\/strong><\/em><\/figcaption><\/figure>

Und es geht wieder los:
\u201eKauf einen Hut, Monsieur.\u201c –
\u201eEin paar Teller.\u201c- \u201eDrei Gro\u00dfm\u00fctter, haha.\u201c- \u201eKomm mit mir, Joe.\u201c
Ich will gerade erkl\u00e4ren, da\u00df ich kein Tourist bin, als ein Stock \u2013 ein Mahagonistock, wie ich sp\u00e4ter feststelle \u2013 durch die Luft saust, um mit dumpfem Knall auf der Schulter eines der M\u00e4nner zu landen. Die Holzteller fallen aus seinen Armen und rollen klappernd hinter den Negern* her, die Rei\u00dfaus nehmen.
Neben mir steht jetzt ein Mann in Khaki-Reithosen, blitzenden Stiefeln und perfekt geschneidertem Milit\u00e4rrock. \u00dcber seinem schwarzen Gesicht sitzt ein Stahlhelm mit der Aufschrift Police \u2013 Polizei.
\u201eWir Zivilisierten\u201c, sagt er gelassen, und meint wahrscheinlich damit sich und mich, \u201em\u00fcssen auf der Hut sein, sonst treibt dieses Gesindel noch den letzten Touristen von der Insel.\u201c
Er blickte nachdenklich auf seinen Mahagonistock. \u201eEs ist nicht leicht, diese Kerle zu zivilisieren. Es sind so viele.\u201c
\u201eEs scheint ganz Haiti zu sein.\u201c
Er hat den sp\u00f6ttischen Unterton nicht bemerkt. Die haben keinen Pfennig. Von Erziehung gar nicht zu reden. Wenn die in ihren D\u00f6rfern nichts mehr zu fressen haben, kommen sie in die Stadt und leben hier wie Vieh.\u201c
\u201eVielleicht suchen sie Arbeit.\u201c
\u201eNat\u00fcrlich suchen sie Arbeit. Aber es gibt keine. Darum sollten sie zu Hause bleiben und sich dort begraben lassen, wo Gott sie zur Welt kommen lie\u00df.\u201c
Er hebt wieder seinen Stock. Wie ein Schulkind, das sorgf\u00e4ltig ein Landschaftsbild nachzeichnet, umrei\u00dft er langsam den Horizont von Port-au-Prince.<\/p>

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Halbinsel Haiti.<\/strong> Erste selbstst\u00e4ndige Neger*republik der Welt. Vier Millionen Einwohner. Eines der \u00e4rmsten L\u00e4nder der Welt: Jahreseinkommen pro Kopf 200 Mark. Die Regierung hofft auf Kennedy, dass Volk auf Castro<\/em><\/p>

\u201eSchauen Sie, wie meine Hauptstadt daliegt. Eine schillernde Perle im Leib einer tiefgr\u00fcnen Muschel. Ihre Lippen k\u00fc\u00dft z\u00e4rtlich das Karibische Meer. Ihren R\u00fccken streicheln die Palmen, die wie Regentropfen an den Bergen h\u00e4ngen. Ist dies nicht das Paradies?\u201c
\u201eDonnerwetter, Sie h\u00e4tten Fremdenf\u00fchrer werden sollen.\u201c
\u201eIch bin Dichter\u201c, sagt er stolz. \u201eWenn man das Gl\u00fcck hat, im Paradies zu wohnen, mu\u00df man seine Sch\u00f6nheit besingen. Hier …\u201c
Schon wieder wird mir etwas unter die Nase geschoben. In Haiti hat anscheinend jeder etwas zu verkaufen. Diesmal ist es eine d\u00fcnne Brosch\u00fcre in schmutzig-gelbem Papier.
\u201eMeine Werke\u201c, sagt der Polizist mit einer Stimme, die keinen Widerspruch kennt. \u201eDas kostet einen Dollar. Mit Widmung 50 Cents mehr. Ich mache Ihnen diesen Sonderpreisen nur, weil Sie franz\u00f6sisch sprechen.\u201c
Schon z\u00fcckt er seinen Federhalter \u2013 einen teuren Parker 61 -, aber ich komme ihm zuvor und lege eilig einen Dollar in seine offene Hand.
\u201eGeschenk\u201c, sagt er schmunzelnd und zeigt mir den Parker. \u201eTo my darling Pierre\u201c, steht auf dem vergoldeten Kopf.
Dieses Symbol galanter Dankbarkeit einer einsamen Touristin scheint ihn zu inspirieren.
\u201eWenn nur diese Kerle nicht so hungrig w\u00e4ren. Es kostet viel Arbeit, sie im Zaum zu halten.\u201c Er betrachtet den Geldschein, den ich ihm gegeben habe. \u201eF\u00fcr einen Dollar w\u00fcrde jeder auf dem Mast eines Schiffes kopfstehen. Hungrige Augen erschrecken die Touristen. Hungrige Augen geh\u00f6ren nicht ins Paradies. Sie verstehen? Die Touristen bleiben aus. Angst vor Unruhen. Was sonst!\u201c Er klopft auf seine Pistole. \u201eAber wir sind auch noch da.\u201c
Wir \u2013 damit meint er die Herren an der Macht, die H\u00fcter ihrer Ordnung, die amerikanischen Waffen und die Mahagonikn\u00fcppel, von denen ausgiebig Gebrauch gemacht wird, um die Hungrigen in ihre L\u00f6cher zu treiben und das Paradies sicher zu machen f\u00fcr reiselustige Dollarspender.<\/p>

Politik und krause Haare<\/strong><\/p>

Mein dichtender Paradiesh\u00fcter scheint noch viel auf dem Herzen zu haben, aber mir gen\u00fcgt es. Als ich mich verabschiede, erstaunt er mich nochmals durch seine Vielseitigkeit.
\u201eWenn Sie sich abends langweilen, Monsieur, kann ich Sie f\u00fchren. Il ya de tr\u00e8s jolies filles ici. Nicht teuer. Man mu\u00df nur die richtigen Adressen kennen. Und mit mir sind Sie sicher.\u201c
\u201eWas, Monsieur l’agent, Sie auch?\u201c
\u201eMan mu\u00df leben, Monsieur …\u201c
Und leben lassen, m\u00f6chte ich ihm nachrufen. Aber wie sollte er mich verstehen. Der kleine Brillentr\u00e4ger h\u00e4tte sofort begriffen. Es ist eben nicht dasselbe, ob man in den Lauf einer Pistole schaut oder am Dr\u00fccker sitzt. Die Stellung bestimmt die Weltanschauung.
Ich habe kaum hundert Schritte gemacht, das starre ich selber in den Lauf eines Gewehrs. Den Dr\u00fccker h\u00e4lt ein kleiner Neger* von vielleicht sechs Jahren, dem die Rotze bis zum nackten Nabel h\u00e4ngt.
\u201eGeld \u2013 Yankee\u201c, schreit er, \u201eGeld, sonst tot.\u201c
Sichtbar ist sein englischer Wortschatz damit ersch\u00f6pft, denn er f\u00e4ngt immer wieder von vorne an. Nachdem ich beruhigt festgestellt habe, da\u00df das Gewehr ein Blechrohr ist, interessiert mich nur noch sein Nabel, der sich wie ein gequ\u00e4lter Wurm aufw\u00e4rts ringelt.
Das also ist ein \u00dcberlebender. Man hat mir erz\u00e4hlt, da\u00df drei\u00dfig Prozent aller Kinder das erste Lebensjahr nicht erreichen. Sehr viele m\u00fcssen schon in der ersten Woche sterben, weil ihre M\u00fctter den offenen Nabel mit Erde beschmieren. Sie glauben, da\u00df er dann besser abheilt.
\u201eMesdames, Messieurs!\u201c br\u00fcllt es pl\u00f6tzlich so laut durch die Stra\u00dfe, da\u00df selbst mein kleiner Gangster zusammenf\u00e4hrt. \u201eMeine Damen und Herren. Dies ist eine offizielle Bekanntmachung: Saboteure, Kommunisten und Verr\u00e4ter sind am Werk gegen die Interessen des Volkes. Pr\u00e4sident Duvalier, unser geliebter Landesvater, fordert alle zur absoluten Ruhe auf. Wer den Verr\u00e4tern, Kommunisten und Vagabunden Geh\u00f6r schenkt, stellt sich au\u00dferhalb des Gesetzes. Wer die Regierung kritisiert, macht sich strafbar. Im Interesse der allgemeinen Sicherheit bleiben Schulen und Universit\u00e4ten bis auf weiteres geschlossen. Schlu\u00df der Bekanntmachung. – Aber vergessen Sie nicht das Wichtigste. Vergessen Sie nicht ihr \u00c4u\u00dferes. Jean Jolie Fl\u0153ur b\u00fcgelt ihre Haare mit k\u00fcnstlerischer Vollkommenheit. Jean Jolie Floeur ist der Besieger des krausen Haares. Drei Monate Garantie. Ja, kommen Sie zu Jean Jolie Fl\u0153ur, und Sie werden ein neuer Mensch.\u201c
Der alte Ford rattert m\u00fcde an mir vorbei. Auf seinem Dach preisen die Lautsprecher jetzt ein Parfum an, das M\u00e4nner anzieht und M\u00fccken in die Flucht gejagt. Wenn es Frauen bestricken w\u00fcrde und M\u00e4nner absto\u00dfen k\u00f6nnte, k\u00e4me so was f\u00fcr mich in Frage. Denn in Port-au-Prince scheinen gewisse Grenzen recht elastisch zu sein.
Ich k\u00f6nnte mir auch vorstellen, da\u00df solche Wagen, von der Regierung geschickt, in den D\u00f6rfern Haitis Wunder wirken. Sie brauchten nur zu gr\u00f6len, da\u00df Dreck, auf offenem Nabel, Wundbrand erzeugt. Aber ich vergesse: Es gibt kaum Stra\u00dfen. Und wen k\u00f6nnte die Kindersterblichkeit schon interessieren? F\u00fcr manche sterben immer noch nicht genug Kinder. Man kann ohnehin kaum mit den vier Millionen M\u00e4ulern fertig werden, die nach Reis und Arbeit schreien.
Als ich einen Nickel aus der Tasche ziehen, sehe ich nur noch eine Hand, die blitzschnell danach schnappt. Da klemmt der kleine Neger* das Blechrohr zwischen die Beine und reitet davon wie ein Hexenlehrling, dem das Meisterst\u00fcck gegl\u00fcckt ist.
Das Zentrum von Port-au-Prince gleicht einem Ameisenhaufen. Man kann keine f\u00fcnf Schritte tun, ohne einen Bogen schlagen zu m\u00fcssen. \u00dcberall sitzen Frauen und Kinder hinter erb\u00e4rmlichen Waren, die sie zum Verkauf anbieten. M\u00e4nner schleppen Lasten oder rufen N\u00e4gel, N\u00fcsse, Bananen, Strohdecken aus. Das ganze Land scheint hier versammelt, um einen Karneval des Handels zu feiern.
Es wird gescherzt, geflirtet, gelacht oder einfach hinter der Auslage von sieben Abziehbildern und drei Lockenwicklern geschlafen. Der Humor dieser Neger*, die Fantasie in Kleidung und Haltung lassen fast vergessen, da\u00df dieser improvisierte Riesenmarkt die Endstation der Armut ist. Hier warten jene, die von ihrer Arbeit nicht satt werden. Hier hoffen sie auf einige Pfennige. Hier ist das Vorzimmer zur Bettelei.
Dieser Markt reicht nicht nur von einer Ecke der Stadt zur anderen. Er \u00fcberzieht das ganze Land. Wo auch immer die Chance besteht, da\u00df ein Mensch vorbeikommt \u2013 und sei es im letzten Winkel der haitianischen Berge – dort sitzt eine Frau oder ein Kind und bietet etwas an. Was? Ein Ei, zwei Bananen, ein Hemd, das man billig erworben hat, und hofft, mit Gewinn \u2013 Cents, die man an einer Hand abz\u00e4hlen kann \u2013 weiterzuverkaufen. Leere B\u00fcchsen, eine Eidechse (zum Essen) oder Kr\u00e4uter gegen Bandw\u00fcrmer und Fu\u00dfgeschw\u00fcre, alles wird hier zur Handelsware.
Viele dieser Menschen machen drei\u00dfig Kilometer am Tag zu Fu\u00df, um einen Groschen nach Hause zu bringen. Es sind alles Bauern. 95 Prozent aller Haitianer sind Bauern. Aber sie sind genauso unfrei wie ihre Gro\u00dfv\u00e4ter, die auf Sklavenschiffen hier ankamen.<\/p>

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Der Markt brennt oft.<\/strong> Ein Funke gen\u00fcgt, um diese erb\u00e4rmlichen Holzh\u00fctten in Brand zu setzen. Der vorige Pr\u00e4sident wollte Abhilfe schaffen und befahl den Bau einer Markthalle (im Hintergrund). Aber bevor sie fertig war, wurde er gest\u00fcrzt. Und sein Nachfolger dachte nicht im entferntesten daran, ein Werk zu beenden, das dem Vorg\u00e4nger Ehre macht. In Haiti ist alles politisch<\/span><\/em><\/p>

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Haiti wurde 1492 von Columbus entdeckt. Mit ihm kamen die Spanier, dann die Franzosen. In der Rekordzeit von nur 80 Jahren hatten die Spanier die Eingeborenen, damals Indianer, bis zum letzten Mann ausgerottet. Diese zivilisatorische Gro\u00dftat hatte jedoch einen Nachteil. Es fehlten nun die Arbeitskr\u00e4fte. So brachte man schwarzer Muskeln \u00fcber den gro\u00dfen Teich, was nebenbei zum eintr\u00e4glichen Gesch\u00e4ft wurde.<\/span>
Mittlerweile hatte man auch gelernt, da\u00df ein schwarzer Arbeiter ein Kapital ist. Man trieb die Sklaven also nur noch selten \u00fcber die Grenzen ihrer Widerstandskraft an \u2013 wie man es kurzsichtiger Weise mit den Indianern gemacht hatte \u2013 sondern studierte wissenschaftlich, wieviel jeder arbeiten konnte und essen mu\u00dfte, um nicht vor die Hunde zu gehen.
Nach der ersten Erkenntnis kam die zweite: Je st\u00e4rker die Neger* sind, umso mehr k\u00f6nnen sie leisten. Kluge K\u00f6pfe machten sich also daran, ein regelrechtes Zucht- und Brutsystem zu erfinden. Die erste Sorge galt der Frau \u2013 wie dem Huhn bei der Eierproduktion. Man stellte fest, da\u00df die meisten Negerinnen* steril ankamen und erst nach zwei bis drei Jahren neue Sklaven zur Welt bringen konnten. Der Grund: das Trauma der Gefangennahme und die schlechte Behandlung an Bord der Schiffe.
Reklamationsbriefe gingen an die J\u00e4ger und H\u00e4ndler in Afrika. \u201eWir nehmen keine besch\u00e4digte Ware mehr. Bitte Vorsicht beim Verladen.\u201c – So fuhren die Negerinnen* nicht mehr im Frachtraum, sondern im Zwischendeck und lieferten p\u00fcnktlich ihre kleinen Neger*.
Jedes System dr\u00e4ngt von sich aus nach Rationalisierung und Perfektion. So auch dieses. Die Qualit\u00e4t war gut. Die Zahl aber immer noch unter den Erwartungen. Woran lag das? An den M\u00e4nnern. Sie waren zu m\u00fcde. Man erfand also die ersten sozialen Ma\u00dfnahmen: Ruhestunden, ein wenig Musik, kleine Feste. Man lie\u00df auch seine eigenen S\u00f6hne gro\u00dfz\u00fcgig und ohne jedes rassische Vorurteil mit den jungen Negerinne* spielen. Die Farbe war zwar nicht mehr so rein schwarz, aber die Produktion stieg.<\/p>

Wer Geld hat, f\u00fchlt sich als Wei\u00dfer<\/strong><\/p>

Als man endlich auf die Idee kam, f\u00fcr jedes Kind einen Preis auszusetzen ( wir haben es offensichtlich mit den Anf\u00e4ngen des Kindergeldes zu tun ), war das Ziel erreicht: Man konnte endlich die kostspielige Einfuhr abstellen. Die Zucht war gegl\u00fcckt. Man hatte kr\u00e4ftige \u201ehausgemachte\u201c Sklaven.
Aber da Undank nun einmal die Welt Lohn ist, jagten die Neger* die Wei\u00dfen aus dem Land. \u201eEs gibt keine Gerechtigkeit\u201c, schrien die. \u201eVerge\u00dft doch nicht, was wir f\u00fcr euch getan haben.\u201c
Aber es half alles nichts. Die K\u00f6pfe rollten, bis kein Wei\u00dfer mehr auf der Insel war. So schufen 1804 Sklaven die erste Neger*republik der modernen Geschichte.
Sie sprengten ihre Fesseln, aber sie wurden nicht frei. Da sie nur ein Vorbild kannten \u2013 ihre fr\u00fcheren Herren \u2013 ahmten sie diese nach. So taumelten sie vom Absolutismus in die Anarchie, von liberalen Experimenten in die Tyrannei. Schwarze Herren herrschten wie einst die wei\u00dfen. Und als endlich die Wahlen Mode wurden, erkaufte man, was man fr\u00fcher erzwang. Ignoranz und Armut blieben nach wie vor die besten Verb\u00fcndeten der jeweiligen Macht und wurden als solche gepflegt, wie einst die Muskeln der Sklaven.<\/p>

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M\u00e4nner wollen spielen.<\/strong> Der Hahnenkampf kommt direkt nach der. Im ganzen karibischen Raum ist er der Nationalsport des Volkes. Es wird gewettet, gestritten, erstochen. Meistens sind es Bauern, die hier ihre letzten Pfennige verspielen oder einen mageren Gewinn sofort in Rum umsetzen. \u201eWenn man arm ist, mu\u00df man spielen, tanzen, trinken, um ein Herr zu sein.\u201c Bauern k\u00f6nnen hier nicht, wie bei uns, von ihrem Land leben. Wenn Sie Gl\u00fcck haben, geh\u00f6ren Ihnen zwanzig Quadratmeter Erde, vier Kaffeeb\u00e4ume oder zwei Palmen. Manche besitzen nur den Ast eines Baumes, der auf diese Weise unter f\u00fcnf Familien aufgeteilt wird. In Haiti ist das Land so zerst\u00fcckelt, da\u00df nur die Zwischenh\u00e4ndler davon leben k\u00f6nnen<\/em><\/p><\/div><\/div>

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Frauen m\u00fcssen arbeiten.<\/strong> Um den willk\u00fcrlichen Preisen der Gro\u00dfh\u00e4ndler zu entgehen, schleppen sie, wo immer es m\u00f6glich ist, ihre Waren selber auf den Markt. Sie improvisieren Verkaufsst\u00e4nde, und sei es auf den Schienen der Bahn. Ich habe noch nie ein Land gesehen, in dem alle T\u00e4tigkeit so ausschlie\u00dflich von Frauen ausge\u00fcbt wird. Sie graben und sie s\u00e4en, sie pflanzen und sie ernten. Sie sind Lasttiere und H\u00e4ndler zugleich. Und wenn die M\u00e4nner ihrer Kinder trotz aller M\u00fche leer bleiben, opfern sie sich selbst<\/span><\/em><\/p>

Heute herrscht das Heer. Es wird von Pr\u00e4sident Duvalier kontrolliert und von amerikanischen Offizieren gedrillt. Die Tendenz ist faschistisch. Die Zukunft schwarz.
Warum, fragt man sich, mu\u00dfte der heroische Aufstand der Sklaven in einer Katastrophe enden? Warum wurden befreite Sklaven zu Bettlern?
\u201eWeil es hier nie einen Fidel Castro gegeben hat.\u201c So oder \u00e4hnlich wird hier jedes Mal geantwortet. Jeder zweite, wenn er \u00fcberhaupt wagt, \u00fcber Politik zu sprechen, kann sich keinen anderen Weg aus dem Elend vorstellen als eine Revolution \u00e0 la Castro. Nicht nur die Intellektuellen, auch das Volk. Es gen\u00fcgt, da\u00df Castros Bild in der Wochenschau erscheint, um einen Sturm der Begeisterung auszul\u00f6sen, gegen den die Polizei machtlos ist.
Wenn auch die haitianischen Analphabeten ( 90 Prozent der Bev\u00f6lkerung ) unf\u00e4hig sind, die kubanischen Umw\u00e4lzungen zu analysieren und wenn ich auch selten jemanden getroffen habe, der zwischen einer landwirtschaftlichen Genossenschaft und einer Staatsfarm unterscheiden konnte, oder auch nur wus\u00dfe, was Nationalisierung bedeutet, so ist doch die Faszination enorm, die Fidel Castro auf diese Menschen aus\u00fcbt.
\u201eEinfache Leute wollen gar nicht verstehen\u201c, sagt mir ein Volksschullehrer. \u201eEin wenig Hoffnung gen\u00fcgt ihnen. Fidel ist der Messias. Gegen ihn ist Christus ein blasser Heiliger geworden, von dem die Reichen predigen und hinter dem sie sich verstecken. Castro jagt die Reichen aus dem Paradies und schenkt es den Armen. Es gibt keinen anderen Mann in ganz Lateinamerika, der in unserem Namen spricht und uns Arme verteidigt. Das allein gen\u00fcgt, um eine Welle der Sympathie in Bewegung zu setzen, die nicht mehr aufzuhalten ist. Lateinamerika z\u00e4hlt 200 Millionen Einwohner. Davon sind 170 Millionen arme, verhungerte, ausgebeutete Menschen, die keine Hoffnung hatten, bis Fidel Castro kam. Vergessen Sie das nie …\u201c
Ein Chauffeur erkl\u00e4rt es mir: \u201eWarum ich Fidel liebe? Aber Monsieur, das ist doch einfach. Schauen Sie mich an. Pechschwarz. Vor Fidel gab es in Kuba Reiche, Arme und Neger*. Fidel aber hat gesagt: Alle sind gleich. Die Schwarzen d\u00fcrfen jetzt in die gleichen Bars gehen wie die Wei\u00dfen. Sogar in die Casinos. Und arbeiten. Dabei gibt’s gar nicht viele Neger* in Kuba; Nur ein Viertel. Hier in Haiti sind sie alle Neger*; selbst die fetten Politiker und Gesch\u00e4ftsleute. Aber glauben Sie ja nicht, da\u00df die sich als Schwarze f\u00fchlen. Die sind wei\u00df. Ja, Monsieur, wer Geld hat, ist wei\u00df, wenn sein Gesicht auch genauso schwarz ist wie meines.\u201c
Jedes Mal, wenn wir mit der d\u00fcnnen Oberschicht Haitis in Ber\u00fchrung kamen, mu\u00dften wir feststellen, wie recht dieser Mann hatte. Ihre Haltung wird nur von einem Wunsch bestimmt: nicht nicht mit dem Volk identifiziert zu werden, das sie regieren und von dem sie leben. Sie, die emanzipierten Neger*, f\u00fchlen sich als \u201ewei\u00dfe\u201c Herren. Sie sind von der panischen Angst besessen, mit jenem abergl\u00e4ubischen, unwissenden Volk verwechselt zu werden, das am Rande und au\u00dferhalb der Hauptstadt lebt. Um der Cadillacs w\u00fcrdig zu sein, der Klimaanlage und der Botschaftsempf\u00e4nge, meinen sie, nicht zu einer afrikanischen Welt geh\u00f6ren zu d\u00fcrfen. Ihre Furcht, nicht \u201ewei\u00df genug zu sein\u201c, treibt sie zu einer dauernden Flucht aus ihrer geistigen Heimat. Das geht soweit, da\u00df sie es ablehnen, zu helfen und zu erziehen; denn je gr\u00f6\u00dfer ihr Abstand vom Volk wird, umso mehr f\u00fchlen sie sich \u201ewei\u00df\u201c.
Ein Student zeigt er stolz seinen Bart. Er (der Bart) liegt in der Schublade eines Nachttisches. Echte schwarze Stoppeln liegen auf dem Kinn eines Portr\u00e4ts, in dem ich den Studenten als Kind erkenne.
\u201eIch lasse den Bart immer 3-4 Tage stehen, rasiere mich dann trocken und sammle die Stoppeln\u201c, meint er.
\u201eM\u00e4nnlichkeitskult oder Masochismus?\u201c
Ich wu\u00dfte gar nicht, da\u00df schwarze Augen so b\u00f6se blicken k\u00f6nnen.
\u201eFidelismus, wenn Ihnen das etwas sagt\u201c, zischt er. \u201eAls Fidel in die Berge ging, schwor er, seinen Bart so lange stehen zu lassen, bis sein Land frei w\u00fcrde. Ich tat das gleiche Gel\u00fcbde. Viele Studenten schworen. Die Faschisten bekamen Angst; die B\u00e4rte wurden verboten.\u201c
\u201eAber warum dieser heimliche Stoppelkult?\u201c
\u201eIrgendwo braucht jeder einen Altar f\u00fcr seinen Glauben. Ein Nachttisch ist genauso gut wie eine Kirche, wie ein Eisschrank oder wie Hammer und Sichel. Ich halte meinen Schwur: Der Bart w\u00e4chst hier, in dieser Kiste, bis mein Land frei ist.\u201c<\/p>

Der Bart ist ihr Symbol der Hoffnung<\/strong><\/p>

Er blickt sp\u00f6ttisch auf mein am\u00fcsiertes Gesicht.
\u201eIch wei\u00df, was sie denken: Kinderreien! Billige Romantik!\u201c Er reckt seine zwei Meter stolz in die H\u00f6he.
\u201eEs ist unn\u00fctz, von einem B\u00fcrger der reichen Welt Verst\u00e4ndnis zu erwarten. Wir betteln auch nicht mehr darum. Wir bedauern euch. F\u00fcr was kann man bei euch noch sterben? F\u00fcr den Fernsehapparat, die gesicherte Stellung, die wohlklingende Visitenkarte. Welches Ziel bietet man der Jugend, au\u00dfer der Karriere? Das Rennen nach dem gesicherten Lebensabend beginnt in der Wiege. Brr \u2013 lieber gleich verrecken.\u201c
Er hat die Schublade zugeschlagen, das\u00dfdie Stoppeln fliegen und stampft im Zimmer auf und ab.
\u201eFidel hat uns ein Ziel gesteckt. Eine Mystik vorgelebt, die seit Jahrhunderten zum Ausbruch dr\u00e4ngte. Er hat nicht nur geredet, er hat auch gehandelt und schl\u00e4gt sich jetzt verzweifelt gegen eine \u00dcbermacht von Feinden. Gegen alle, die uns bis jetzt die Freiheit verweigerten. Er ist nicht das, was der Westen aus ihm gemacht hat. Er ist und bleibt, ob siegreich oder geschlagen, ob lebendig oder tot, der reinste Ausdruck des lateinamerikanischen Drangs nach Freiheit.\u201c
Ich frage mich, ob ich den Westen hier verteidigen soll. Hatte es Zweck? Mir f\u00e4llt nichts Besseres ein, als einige Worte \u00fcber unsere Konzeption der Freiheit zu sagen. – Die Art, wie der Riese mich anschaut, beweist, da\u00df ich daneben gehauen habe.
\u201eFreiheit\u201c, schreit er, \u201ebei euch gibt es keine Mystik mehr, au\u00dfer die Sicherheit. Eure Sicherheit, genannt ‚Freiheit made in Europe‘. Im Namen der Sicherheit wird getreten \u2013 nach unten. Geschossen \u2013 nach allen Seiten, wird Wohlt\u00e4tigkeit ge\u00fcbt, wo es brennt. Nachdem ihr uns getreten und erschossen habt, wollt ihr unsere M\u00e4uler jetzt mit Almosen vollstopfen, damit wir nicht mehr nach Freiheit schreien k\u00f6nnen. Wir sind nicht nur hungrige B\u00e4uche, die man kaufen kann, wir sind Menschen.\u201c
Als ich aus dem Hause trete, streckt sich mir eine Hand entgegen, in der ein St\u00fcck Holzkohle liegt. Ein vielleicht zw\u00f6lfj\u00e4hriges M\u00e4dchen bittet mich, die Kohle zu kaufen. Ich bin so in Gedanken versunken, da\u00df sich die Hand einfach wegschiebe. Einige Meter weiter ist sie wieder da.
\u201eHolzkohle, Mister, f\u00fcnf Cents.\u201c
Das St\u00fcck Kohle ist nicht einmal gro\u00df genug, um eine Tasse Kaffee zu w\u00e4rmen. Ich gehe weiter. Pl\u00f6tzlich versperrt mir das M\u00e4dchen den Weg. Sie zeigt nicht mehr die Holzkohle. Sie deutet auf sich:
\u201eAmour, Mister. Take me \u2013 25 Cents.\u201c<\/p>

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Touristen<\/strong> sind neben dem Kaffee, die Haupteinnahmequelle Haitis. Sie kommen in Scharen auf Kreuzfahrten und gehen schnurstracks in die Gesch\u00e4fte, wo Whisky, Strohteppiche und Stoffe billiger sind als in den Vereinigten Staaten. In Port-au-Prince hat jeder etwas zu verkaufen: Rumbarasseln, Halsketten aus Bohnen, selbstgemachte Strohh\u00fcte, Holzteller, gute Adressen. Es ist nicht einfach, durchzukommen<\/span><\/em><\/p>

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Polizisten<\/strong> sorgen f\u00fcr die Ruhe. Sie benutzen da zu lange Kn\u00fcppel aus Mahagoni Holz, die recht weh tun. Seit die sozialen Spannungen \u00fcberall im karibischen Raum zu Unruhen gef\u00fchrt haben, ist es im Ferienparadies der Amerikaner nicht mehr geheuer. Wenn die Haitische Regierung nicht die letzten Devisenbringer verlieren will, ist sie gezwungen, den Touristen wenigstens das Gef\u00fchl der Sicherheit zu geben<\/span><\/em><\/p>

Wir sind mit einem F\u00fchrer der geheimen Opposition verabredet. Er lebt versteckt. Wir m\u00fcssen also vorsichtig sein und spielen gewissenhaft R\u00e4uber und Gendarm, was in Haiti gar nicht so einfach ist; wie sollen Wei\u00dfe unbemerkt bleiben, wenn alle anderen schwarz sind? Wir haben es trotzdem geschafft und sitzen in einer zerfallenen H\u00fctte am Rande der Stadt einem Rechtsanwalt gegen\u00fcber, der vor einigen Tagen heimlich aus dem Exil zur\u00fcckgekehrt ist.
\u201eWarum seid ihr Fidelisten?\u201c
\u201eIn unseren L\u00e4ndern bedeutet Fidelismus keine Partei. Er ist ein Elan, die zu unserer Befreiung f\u00fchrt. Hinzu kommt, da\u00df Fidel den einzig m\u00f6glichen Weg eingeschlagen hat: die radikale \u00c4nderung der sozialen Struktur.\u201c
\u201eDabei geht er nicht gerade sparsam mit Menschenleben um. Schreckt Sie das nicht?\u201c
\u201eDa\u00df es bei einer echten Revolution Scherben gibt, und sogar Ungerechtigkeiten, ist unvermeidlich. Ihr verge\u00dft immer, da\u00df es bis heute in diesem Raum der Welt noch keine echte Revolution gegeben hat. Es waren immer Palastrevolten. Man ri\u00df sich um die Kasse. Um mehr ging es nie. Dabei gab es immer mehr Tote als bei Fidel.
Die Amerikaner mischten kr\u00e4ftig mit. Sie unterst\u00fctzten immer jene, die dem Big Business am besten dienten. Ob es Liberale waren oder Diktatoren, M\u00f6rder oder Irre. Vor 1915-1934 regierten hier die ber\u00fchmten Marines, die Elitetruppe der USA. Sie k\u00f6nnen sich vorstellen, da\u00df wir die Amerikaner nicht besonders gern haben.\u201c
\u201eUnd weil die Russen noch nie hier waren, glaubt ihr jetzt, der Kommunismus sei die Zauberformel.\u201c
Im halben Satz merke ich: Das h\u00e4tte ich nicht sagen d\u00fcrfen. Es wird pl\u00f6tzlich kalt in der H\u00fctte. Bei 40 Grad im Schatten.
\u201eAlso doch. Man hatte mir gesagt, sie br\u00e4chten ein gewisses Verst\u00e4ndnis mit. Sonst h\u00e4tte ich Sie gar nicht empfangen. Marx und Lenin sind f\u00fcr uns ebenso j\u00e4mmerliche Apostel wie Foster Dulles. Wir k\u00fcmmern uns um kein System. Mein Gott, wenn man doch endlich begreifen w\u00fcrde: Hier mu\u00df die Korruption verschwinden, das Volk Brot und Erziehung erhalten; die Entscheidungen, die dazu notwendig sind, bedenken keine ideologischen Bekenntnisse.\u201c
Auf der Gran-rue, der Hauptstra\u00dfe von Port-au-Prince, treffe ich einen alten Bekannten: meinen kleinen Gangster mit seinem Blechrohr. Er beobachtet ein amerikanisches Ehepaar, das einige Schritte entfernt mit einem Negerjungen* spricht.
Der Mann h\u00e4lt einen Nickel in Kopfh\u00f6he, nach dem die schwarze Kinderhand gierig greift. Jedes Mal, wenn die kleinen Finger des Geldst\u00fcck erreichen, rei\u00dft der Mann seinen Arm in die H\u00f6he. Ich denke unwillk\u00fcrlich an eine Hundedressur mit dem ber\u00fchmten St\u00fcck Zucker und h\u00f6re Folgendes von der Frau: \u201eNein, du b\u00f6ser Bube, sagt erst einmal h\u00f6flich ‚bitte sch\u00f6n‘.\u201c
\u201eGib Nickel\u201c, schreit der Kleine. \u201eYou, Joe, give me.\u201c
\u201eNein, Du mu\u00dft lernen, dich anst\u00e4ndig zu benehmen. Sag sch\u00f6n ‚bitte, Sir‘.\u201c
\u201eHunger\u201c, sagt der Negerjunge* . \u201eNickel, Nickel, Nickel.\u201c
Er hat den Arm des Mannes mit beiden H\u00e4nden erwischt, und schnappt mit dem Mund nach dem Geld, w\u00e4hrend seine F\u00fc\u00dfe auf dem Bauch des Touristen Halt suchen.
\u201eKleines dreckiges Biest\u201c, zischt die Frau. \u201eAlbert, get rid of him \u2013 jag‘ ihn zum Teufel. Schau deine Hose an.\u201c
Als der Kleine wieder auf dem Boden steht, h\u00e4lt sie ihm voller Geduld einen langen Vortrag \u00fcber gutes Benehmen. Sie spricht \u00fcber den Wert der Anst\u00e4ndigkeit und die Bedeutung der H\u00f6flichkeit in der menschlichen Gesellschaft. \u201eDu mu\u00dft ein guter Mensch werden, wenn du vorw\u00e4rts kommen willst\u201c, meint sie. Aber der Junge versteht nat\u00fcrlich kein Wort Englisch.
Mein kleiner Gangster hat dem Spiel ebenso fasziniert zugesehen wie ich. Pl\u00f6tzlich scheint es bei ihm zu schalten. Er richtet entschlossen sein Blechrohr auf den Bauch des Touristen und befiehlt: \u201eGeld, Yankee, Geld, sonst tot.\u201c
Das ist zu viel. Alberts Unterkiefer verschwindet im Doppelkinn, sein Arm sinkt herunter. Im Nu verschwindet sein Nickel in einer schwarzen Hand. Die zwei kleinen Bettler jagen um die n\u00e4chste Ecke.
\u201eReg‘ dich nicht auf, Albert\u201c, sagt die Frau mit sanfter Stimme, \u201ees war nur ein Nickel.\u201c<\/p>

*Anmerkung: Der Begriff Neger\/Negerin wird aus dem Originaltext beibehalten. Diese Bezeichnung war damals ohne Abwertung als Fremd- und Selbstzuschreibung gel\u00e4ufig.<\/em><\/p>","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Zwischen Kennedy und Castro Stern, Heft 20,\u00a0 14. Mai 1961 \u201eHe Mister, Sie brauchen einen F\u00fchrer durch Haiti.\u201c-\u201eHe Mister, Sie brauchen einen Hut.\u201c-\u201eSch\u00f6ne Mahagoniteller bitte, Hand gemacht\u201c –\u201eMister, kommen Sie mit mir, ich hab‘ sehr sch\u00f6ne Schwester.\u201c –\u201eIch hab‘ kleinen Bruder, Sir.\u201c-\u201eGib mir einen Nickel, Johnny.\u201c –\u201eHe Mister, ich kenne die Sch\u00f6nsten in ganz Port-au-Prince,…<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":56760,"parent":54096,"menu_order":1,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":{"_seopress_robots_primary_cat":"","_seopress_titles_title":"","_seopress_titles_desc":"","_seopress_robots_index":"","footnotes":""},"categories":[622],"tags":[],"class_list":["post-54225","page","type-page","status-publish","has-post-thumbnail","hentry","category-mittelamerika","entry","has-media"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54225"}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/types\/page"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/users\/1"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=54225"}],"version-history":[{"count":5,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54225\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":64076,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54225\/revisions\/64076"}],"up":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54096"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media\/56760"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=54225"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=54225"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=54225"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}