{"id":54227,"date":"2017-03-11T16:19:31","date_gmt":"2017-03-11T15:19:31","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=54227"},"modified":"2020-07-04T19:03:23","modified_gmt":"2020-07-04T17:03:23","slug":"in-venezuela","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/mittelamerika\/in-venezuela\/","title":{"rendered":"In Venezuela"},"content":{"rendered":"

Zwischen Kennedy und Castro<\/p>

Stern, Heft 23, 4. Juni 1961<\/em><\/p>

Die Stewarde\u00df zieht den Tisch aus der R\u00fcckenlehne des Vordersitzes und befestigt ihn \u00fcber meinen Knien.
\u201eWas gibt es?\u201c frage ich.
\u201eHummer.\u201c
\u201eAch, schon wieder.\u201c
Neben mir macht Claude Deffarge eine Grimasse, die man auch nicht gerade als feinschmeckerisch bezeichnen kann. Sind wir v\u00f6llig versnobt? Nein. Wir rechnen nach: Es ist das zwanzigste Mal in vierzehn Tagen, da\u00df wir Hummer essen. Wir wagen gar nicht, bis an den Anfang der Reise zur\u00fcckzudenken; sicher w\u00fcrden wir sonst allein von der Vorstellung leberkrank.
In Haiti f\u00e4ngt es an: \u201eNehmen Sie Hummer, der ist frisch und kostet wenig.\u201c In San Salvador ging es weiter: \u201eWarum nicht Hummer, der ist billiger als Fleisch?\u201c In Nicaragua, Costa Rica, in Panama, \u00fcberall um das Karibische Meer gab es Hummer wie in Deutschland Bratkartoffeln mit Spiegeleiern und ungef\u00e4hr zum gleichen Preis.
Der kleine Mann i\u00dft Reis mit Bohnen oder Bohnen mit Reis, aber jeder, der sich \u00fcberhaupt etwas leisten kann, mag sich auf die \u201eDelikatesse der Reichen\u201c st\u00fcrzen, ohne seinen Geldbeutel sonderlich zu belasten. Hier ist eben alles verdreht.
Unter uns liegt Kolumbien. Dort herrschen kommunistische Gener\u00e4le \u00fcber ganze Provinzen. Kommunisten? Sicher nicht. Sie nennen sich nur selber so, weil dieses Wort hier mehr Prestige hat als R\u00e4uber oder Bandit. Es klingt auch viel ehrlicher, wenn man sich unter einer politischen Spitzmarke die Taschen vollstopft.
Ein wenig weiter sehen wir Maracaibo. Drei\u00dfigtausend H\u00e4user klammern sich um die Bucht, aus der Venezuelas Reichtum flie\u00dft: das \u00d6l. Bohrt\u00fcrme stehen im Wasser, Br\u00fccken \u00fcberspannen Fl\u00fcsse, amerikanische Wagen blitzen in den Stra\u00dfen \u2013 und nur f\u00fcnfzig Kilometer westlich beginnt das Gebiet der Motilones. Indianer, von denen wir nichts wissen, starren aus ihren Bergen auf das Leben der Wei\u00dfen und versuchen es zu deuten. Wenn sie n\u00e4her hinsehen wollen, bleiben sie in elektrisch geladenen Dr\u00e4hten h\u00e4ngen oder sie werden von Kugeln zerrissen, von Metallen, die sie noch nicht entdeckt haben.
Auch die politische Vereinfachung in Kommunismus und Antikommunismus pa\u00dft hier nicht hin. Ein Tyrann, der mit dem Heer regiert, ist kein Demokrat, wenn er auch ein Freund des Westens ist. Ein Mann, der nach Brot schreit, ist kein Kommunist. Er wird es aber, wenn man ihn lange so nennt.
Diese Erfahrungen wurden uns im Laufe der Reise ebenso h\u00e4ufig serviert wie Hummer. Wir haben auch gelernt, da\u00df die anti-amerikanische Haltung der Massen, die aussichtslose Armut von Millionen, die r\u00fccksichtslose Ausbeutung durch falsche Demokraten ebenso viele Tr\u00fcmpfe in der Hand Fidel Castros sind.
Aber nun soll es anders werden. Wenigstens hat man es uns gesagt: In Venezuela sollen die Voraussetzungen bestehen, um eine Antwort auf Castros Herausforderung in Mittelamerika zu geben. Es ist das reichste Land dieser Gegend und, was entscheidend ist, der einzige wirklich demokratische Staat am Ufer des Karibischen Meeres.
Der Exkommunist und jetzt liberale Romulo Betancourt gelangte durch freie Wahlen legal zur Pr\u00e4sidentschaft. Wenn es ihm gelingt, auf demokratischem Wege das Lebensniveau des Volkes zu heben und die sozialen Spannungen zu mildern, wenn er beweist, da\u00df man auch ohne totalit\u00e4re Ma\u00dfnahmen Reformen durchf\u00fchren kann, die zu Unabh\u00e4ngigkeit und Wohlstand f\u00fchren, dann wird das Beispiel Venezuelas das beste Bollwerk gegen den \u201eFidelismus\u201c sein. Genau wie der Wettkampf zwischen Indien und China die politische Zukunft S\u00fcdostasiens bestimmen wird, genauso, hatte man uns gesagt, wird Erfolg oder Scheitern des venezolanischen Experiments entscheiden, ob Lateinamerika demokratisch wird oder \u201efidelistisch\u201c. Venezuela soll das Schaufenster des Westens in Lateinamerika werden. Wie gro\u00df sind die Chancen?
Schon bei unserer Ankunft in Car\u00e1cas nehmen uns die Zeitungen unsere Illusionen. \u201eDie Grundgesetze sind vor\u00fcbergehend aufgehoben\u201c, erkl\u00e4rten die Schlagzeilen. \u201eAusnahmezustand\u201c, \u201eZensur\u201c, \u201eVerhaftung\u201c sind Worte, die immer wieder vorkommen und ahnen lassen, da\u00df man hier die Demokratie nicht \u201edemokratisch\u201c retten kann.
Ein Blick auf die Hauptstadt gen\u00fcgt, um einen Teil der Schwierigkeiten zu verstehen, mit denen Betancourt fertig werden mu\u00df. Hier liegt der architektonisch k\u00fchnste, der teuerste, der protzigste H\u00e4userhaufen, den man sich vorstellen kann. Wolkenkratzer, vierspurige Avenuen, Pariser Modegesch\u00e4fte, unendliche Schlangen von amerikanischen Autos und Preise, wie sie New York nicht kennt, stehen in keinem Verh\u00e4ltnis zum Lebensstandard der sechseinhalb Millionen Einwohner des Landes.<\/p>

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Venezuela: Mittelalter und zwanzigstes Jahrhundert. Car\u00e1cas: Unsagbares Elend und k\u00fchnste Wolkenkratzer. Kann so eine westliche Demokratie entstehen?
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Sch\u00f6n sein ist alles: Die Guajiro- Indianerinnen schminken sich schwarz, um ihren M\u00e4nnern zu gefallen<\/em><\/figcaption><\/figure><\/div>
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Car\u00e1cas ist wie eine kokette Frau, die das ge Haushaltsgeld verpulvert, ohne sich darum zu k\u00fcmmern, ob der Rest der Familie zu Grunde geht.
Das Haushaltsgeld von Venezuela stammt in der Hauptsache aus dem \u00d6l, das man vor 35 Jahren im Norden des Landes gefunden hat: zwei Millionen Dollar t\u00e4glich. Hiermit h\u00e4tten sozial denkende Politiker einen vorbildlichen Wohlfahrtsstaat aufbauen k\u00f6nnen. Aber was ist geschehen? In einem Land, in dem Macht und Bereicherung identisch sind, haben Korruption und Spekulation das Geld in wenige H\u00e4nde gespielt. Car\u00e1cas ist entstanden. Ein Haufen von totem Zement anstelle von produktiven Anlagen im Inneren des Landes. Die \u201eFamilie\u201c ist am Verhungern, w\u00e4hrend die kokette Stadt im Geld schwimmt.
Nirgends in Lateinamerika sind die Unterschiede zwischen Reichtum und Not so gro\u00df wie in Venezuela, obwohl \u2013 oder gerade weil die Eink\u00fcnfte hier so m\u00fchelos flossen. Aus demselben Grund hat man kaum daran gedacht, neue Industrien und damit neue Einnahmequellen zu schaffen. Und heute befindet sich Venezuela in einer wirtschaftlich nicht minder gef\u00e4hrlichen Lage wie Kuba vor Fidel Castro: Sein Volkseinkommen hat nur eine einzige Quelle. In Kuba war es der Zucker. Hier ist es das \u00d6l. Eine kleine Preisschwankung auf dem Weltmarkt kann zur Katastrophe f\u00fchren. Und man kann schon jetzt die Entwicklung voraussehen: Das \u00d6l wird billiger, die Reserven werden gr\u00f6\u00dfer, die Produzenten zahlreicher.
Nach dem Rausch des schwarzen Goldes kommt die Ern\u00fcchterung. Die Grundst\u00fccksspekulation, das bisher eintr\u00e4glichste Gesch\u00e4ft, bricht zusammen. Es wird nicht mehr gebaut. Zweihunderttausend M\u00e4nner verlieren ihre Arbeit allein in dieser Branche, und das allein in Car\u00e1cas. Dreihunderttausend andere, die der Hunger vom vernachl\u00e4ssigten Land in die Hauptstadt getrieben hatte, wo sie in Holz- und Blechh\u00fctten ein unmenschliches Dasein f\u00fchren, sind pl\u00f6tzlich jeder Hoffnung beraubt, auch nur einen Pfennig zu verdienen.<\/p>

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U<\/strong>m die wachsende Unzufriedenheit teilweise aufzufangen, sieht Pr\u00e4sident Betancourt sich gezwungen, immer mehr Leute in der Verwaltung zu besch\u00e4ftigen. F\u00fcr die Arbeit, die ein Mann spielend erledigen k\u00f6nnte, sind jetzt drei da oder sogar vier. In den B\u00fcros gibt es nur noch Stehpl\u00e4tze. Und viele K\u00f6che verderben den Brei. Um ein P\u00e4ckchen mit Fotos vom Zoll abzuholen, mu\u00dfte ich zwei Tage Schlange stehen und durch sechs Instanzen gehen.
Diese Beamteninflation tr\u00e4gt sicher zur politischen Stabilit\u00e4t bei, weil sie den Gro\u00dfteil der Menschen, die lesen und schreiben k\u00f6nnen, unmittelbar an das Schicksal der Regierung bindet. F\u00fcr die Gesundung des Landes ist sie bestimmt nicht die richtige Medizin. Die Staatskasse wird \u00fcberlastet. Die Geh\u00e4lter k\u00f6nnen jedoch nicht hoch genug sein, um das Haupt\u00fcbel aller lateinamerikanischen Regierungen auszurotten: die Korruption. Deshalb ist es auch belanglos, welche Gesetze man erl\u00e4\u00dft. Sie m\u00f6gen noch so fortschrittlich sein, auf dem Weg zur Anwendung werden sie von den ausf\u00fchrenden Organen meistbietend \u201everkauft\u201c. Der kleine Mann liest sie nur in den Zeitungen, und seine Proteste gelangen nie nach oben. Es bleibt ihm nur noch die Stra\u00dfe, um sich Geh\u00f6r zu verschaffen. Um das zu vermeiden, hebt man die Grundgesetze auf. Und um das zu tun, mu\u00df man Gewalt anwenden. Es ist ein verzweifeltes Rennen nach Sicherheit und Ruhe, in dem die demokratischen Ans\u00e4tze unweigerlich untergehen. Und je mehr die Freiheit beschnitten wird, umso gespannter wird die Lage.
Ist eine echte Demokratie hier \u00fcberhaupt m\u00f6glich? Bestehen irgendwo in Mittelamerika die n\u00f6tigen Voraussetzungen? Kann der Westen demokratischen Versuchen zum Erfolg verhelfen? Gibt es \u00fcberhaupt noch Chancen, die westlichen Stellungen zu halten? Dies sind Fragen, die wir w\u00e4hrend der ganzen Reise gestellt haben. Die Antworten, die sowohl Menschen wie Situationen darauf gegeben haben, waren uns nicht angenehm und werden auch vielen Lesern nicht gefallen.
Freie Wahlen sind die Grundpfeiler der Demokratie. Au\u00dfer in Kuba wird in allen L\u00e4ndern des karibischen Raums gew\u00e4hlt. Sind diese Staaten also Demokratien? Nein, mit der Ausnahme von Costa Rica. Gewalt und Geld liegen in wenigen H\u00e4nden. Es ist deshalb einfach, Stimmen zu erzwingen, zu kaufen oder kurzerhand zu f\u00e4lschen. Am Tag des demokratischen Alibis sind es nicht die Ideen, Versprechungen, Programme, die den Menschen zur Urne treiben, sondern es ist Macht. Unter dem Deckmantel der Demokratie leistet man der Freiheit einen Henkersdienst. Wenn man Institutionen mi\u00dfbraucht, vernichtet man f\u00fcr Generationen jedes Vertrauen in sie.<\/p>

A<\/strong>ls Castro am 1. Mai die Kubaner fragte: \u201eWollt ihr Wahlen?\u201c, da haben sie nicht aus Zufall oder aus Angst \u201enein\u201c geschrien. Sie wissen, was Wahlen hier bedeuten: den Sieg dessen, der die Macht hat.
Castro ist sicher kein Demokrat, aber er hat mehrere entscheidende Vorz\u00fcge gegen\u00fcber allen Voll- und Halbdespoten, die jenen guten Namen mi\u00dfbrauchen: Er gibt es offen zu. Im Gegensatz zu seinen Vorg\u00e4ngern und Nachbarn ist Macht f\u00fcr ihn nicht ein Mittel zur pers\u00f6nlichen Bereicherung und die Wirtschaft des Landes nicht der exklusive Vergn\u00fcgungspark einiger reicher Freunde. Er hat die erdr\u00fcckende Mehrheit der Kubaner hinter sich, weil er offensichtlich die Macht und die Wirtschaft in ihren Dienst stellen will, um Kuba in eine Arbeiterrepublik zu verwandeln, in der jeder zu essen hat, jeder arbeiten darf, jeder lesen und schreiben kann.
Da\u00df all die Millionen, die im Pseudo-Demokratien hungern, arbeitslos sind und keine Schulen haben, ein solches Beispiel begeistert begr\u00fc\u00dfen, ist nicht verwunderlich. Denn f\u00fcr sie lautet die Alternative nicht: Freiheit oder Versklavung, sondern: Hunger oder Hoffnung. Selbst wenn in Mittelamerika auf dem Lande die Nachricht verbreitet wird, Castro kollektiviere alle Frauen und Kinder, werden diese plumpen Propagandatricks kaum verhindern k\u00f6nnen, da\u00df die kubanische Revolution alle zum Tr\u00e4umen und viele zum Handeln f\u00fchren wird.
Von Mexiko bis Venezuela ist nicht der Industriearbeiter der entscheidende Faktor sozialer Unruhen. Es ist das Landproletariat. Mehr als achtzig Prozent der Menschen leben von der Landwirtschaft. Weniger als f\u00fcnf Prozent besitzen den Gro\u00dfteil des bebaubaren Landes. Wenn man die Ungenauigkeit einheimischer Statistiken ber\u00fccksichtigt und vor jeder \u00dcbertreibung sicher sein will, kann man sagen, da\u00df \u00fcber die H\u00e4lfte der Bev\u00f6lkerung aus Landarbeitern besteht, von denen viele nur w\u00e4hrend weniger Monate im Jahr besch\u00e4ftigt sind.
Das Landproblem ist deshalb heute der Grund aller Revolutionen in Mittelamerika. Die Besitzlosen verlangen die Aufl\u00f6sung des Gro\u00dfgrundbesitzes. Jedoch wenn das Land aufgeteilt wird, sind die Bauern meist \u00e4rmer als zuvor. In Venezuela zum Beispiel hat Betancourt in einigen Teilen des Landes eine gem\u00e4\u00dfigte Landreform durchgef\u00fchrt. Damit hat er zun\u00e4chst die Unzufriedenheit der Bauern gemildert und neue politische Anh\u00e4nger gefunden. Aber f\u00fcr wie lange? Es fehlen die n\u00f6tigen Kredite, die aus den neu geschaffenen kleinen H\u00f6fen rentable Unternehmen machen w\u00fcrden. Wer kaum Geld f\u00fcr einen Spaten hat, kann sich keine Saat oder Traktoren kaufen. \u2013 In anderen L\u00e4ndern sind \u00e4hnliche Reformen in kleinem Ausma\u00df als soziale Beruhigungspillen verschrieben worden. Mit dem gleichen Erfolg.<\/p>

D<\/strong>ie kubanische Revolution hingegen hat das Landproblem in radikaler Form gel\u00f6st. Sie hat das Land in drei Kategorien aufgeteilt: Staatsfarmen, Genossenschaften, Privatbesitz. Die gro\u00dfen Besitzungen (Zuckerplantagen und Viehzucht), die ihren Eigent\u00fcmern viel Geld einbrachten, aber wenig Arbeit und Nahrung boten, sind in \u00f6ffentlichen Besitz \u00fcbergegangen. Ganz gleich, ob sie die Form einer Kollektivfarm oder einer Genossenschaft angenommen haben, der Umsturz bedeutet, da\u00df die Erde nicht mehr brachliegt (Vieh) oder nur einer Bodenkultur dient (Zucker), sondern intensiv und verschiedenartig bebaut wird. Neben der Tatsache, da\u00df endlich im Inland ausreichend Nahrung f\u00fcr die Kubaner erzeugt wird, hei\u00dft dies: Bauern, deren festes Gehalt weit \u00fcber ihrem fr\u00fcheren Einkommen steht, k\u00f6nnen jetzt das ganze Jahr \u00fcber pflanzen und ernten, anstatt als Plantagenarbeiter nur w\u00e4hrend drei bis vier Monaten im Jahr besch\u00e4ftigt zu sein. Wer Mittelamerika kennt, wei\u00df, was das bedeutet. Der Privatbesitz ist heute auf drei\u00dfig Caballerias (1000 Morgen) beschr\u00e4nkt und nur dort neu geschaffen worden, wo er sich rentiert.
Nat\u00fcrlich bezeichnen Castros bedr\u00e4ngten Nachbarn die kubanischen Methoden als Verrat am Volke. \u201eAufl\u00f6sung des Gro\u00dfgrundbesitzes\u201c, sagen sie, \u201edarf nur Aufteilung des Landes unter die Bauern sein und nicht Verstaatlichung.\u201c
Castro k\u00f6nnte antworten, da\u00df er in zwei Jahren die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse betr\u00e4chtlich gesteigert hat. Er k\u00f6nnte ihnen vorhalten, da\u00df es heute in Kuba dank der Landverteilung, doppelt so viele Besitzer gibt wie fr\u00fcher. Aber das ist f\u00fcr Mittelamerika ohne gro\u00dfe Bedeutung. Die Besitzlosen an den Ufern des Karibischen Meeres brauchen diese Rechtfertigung der kubanischen Revolution nicht, um an sie zu glauben. Sie wollen ja nicht unbedingt besitzen. Das Gef\u00fchl der \u201eScholle, an der man h\u00e4ngt\u201c, hat es f\u00fcr sie nie gegeben. Wenn sie von Landreform sprechen, dann wollen die Besitzlosen der Willk\u00fcr des Gro\u00dfgrundbesitzers entkommen und seiner politischen Macht: dem Polizisten, der den Gro\u00dfgrundbesitzer sch\u00fctzt, und der Regierung, der er befiehlt. Nach hundert Jahren Unbest\u00e4ndigkeit und Willk\u00fcr wollen sie keinen Besitz, sondern Sicherheit. Und das ist es, was die kubanische Revolution ihnen verspricht. Auf lange Sicht ist diese Verlockung unwiderstehlich.
Die Antwort des Westens ist Pr\u00e4sident Kennedys neues Hilfsprogramm f\u00fcr Lateinamerika. Es ist ein k\u00fchner Versuch, die Beziehungen der Vereinigten Staaten zu ihren s\u00fcdlichen Nachbarn radikal zu \u00e4ndern. Er nennt es: \u201eDas B\u00fcndnis f\u00fcr den Fortschritt\u201c. Anstatt einfach Dollar in die bedrohten L\u00e4nder zu pumpen, sollen nur jene Staaten Hilfe erhalten, die bereit sind, wirtschaftliche und politische Reformen durchzuf\u00fchren. Diese Haltung ist revolution\u00e4r. Sie ist bezeichnend f\u00fcr die neuen Gesichtspunkte, unter denen Washington von nun an den Kalten Krieg um die hungrigen Nationen f\u00fchren will. Es handelt sich nicht mehr darum, um jeden Preis den Status quo zu verteidigen und somit alle Pseudo-Demokraten zu den Verteidigern der freien Welt zu machen. Kennedy will sie zwingen, dem Fortschritt zu dienen.<\/p>

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Die Universit\u00e4t von Car\u00e1cas ist der Ausgangspunkt fast aller Unruhen. Wie \u00fcberall in Lateinamerika sind die Intellektuellen die Schrittmacher der Revolution. Obwohl diese Studentinnen, die ihr Fr\u00fchst\u00fcck in der Mensa einnehmen, es nicht vermuten lassen, ist hier die Hochburg des \u201eFidelismus“  in Venezuela. Die Eing\u00e4nge werden von Polizei und Armee kontrolliert<\/em><\/p>

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N<\/strong>un ist es leider unm\u00f6glich, wie man uns oft auf dieser Reise sagte, von Haifischen zu verlangen, da\u00df sie Vegetarier werden. Das amerikanische Angebot wurde Regierungen gemacht, die jeder Art Revolution feindlich gegen\u00fcberstehen, sei sie gut oder schlecht. Selbst wenn das von den USA bereitgestellte Geld nicht so offensichtlich unzureichend w\u00e4re, k\u00f6nnte kaum jemand erwarten, da\u00df eingefleischte Konservative pl\u00f6tzlich sozial-revolution\u00e4re Politik treiben. Sie h\u00e4ngen unmittelbar von den Gro\u00dfgrundbesitzern und dem \u201eBig Business\u201c ab, den Opfern und deshalb den Feinden der Reform, die Kennedy vorschreiben will.
Es bleibt also in erster Linie Venezuela. Gegen welche Schwierigkeiten Betancourt k\u00e4mpfen mu\u00df, haben wir in Car\u00e1cas und in der Provinz gesehen. Warum aber auch Kennedys neue Linie nur wenige Chancen auf Erfolg hat, entdeckten wir erst nach vielen Gespr\u00e4chen, in denen immer wieder vom \u201eDilemma der Freiheit\u201c die Rede war. Eine recht simple Erkl\u00e4rung fanden wir auf dem Berg, an dessen Fu\u00df Car\u00e1cas liegt.
Dort steht, tausend Meter \u00fcber der Stadt, ein ultramodernes Hotel. Rund wie der Turm von Pisa, einsam und erhaben wie Charles de Gaulle. Zur Anfahrt dient eine Drahtseilbahn, sie ist ebenfalls ganz modern. \u2013 Als wir in die Bar gehen wollen, m\u00fcssen wir Eintrittsgeld zahlen. \u201eHier darf nur reiches Publikum rein\u201c, sagt ein Portier. \u201eMan mu\u00df das Defizit ausgleichen\u201c, erkl\u00e4rt ein anderer. \u201eIn vielen Orten des Landes finden Sie Hotels wie dieses. Sie wurden f\u00fcr Touristen gebaut. Aber seit Betancourt an der Macht ist, bleiben die Ausl\u00e4nder fort. Wir machen pleite.\u201c
\u201eSeit Betancourt an der Macht ist.\u201c Dieser Satz kommt immer wieder vor, sei es, um die massive R\u00fcckwanderung der europ\u00e4ischen Emigranten zu erkl\u00e4ren, die Kapitalflucht oder das Ausbleiben der Touristen.
Wenn ich hier, von diesem einsamen Turm, der sich \u201eHotel Humboldt\u201c nennt, auf Car\u00e1cas schaue, verstehe ich, warum Vergn\u00fcgen- und Ruhesuchende ihr Geld lieber woanders ausgeben. Rund um die Stadt ziehen sich kleine H\u00fcgel mit erb\u00e4rmlichen Baracken. Dreihunderttausend Menschen ohne Arbeit haben hier Stellungen bezogen, die wie Bettlerburgen aussehen und Car\u00e1cas einschlie\u00dfen. Der Hunger belagert die Stadt. Hier kann es keine Sicherheit geben.<\/p>

D<\/strong>er Tourist ist ein typischer Vertreter der Privatwirtschaft. Er geht dorthin, wo es ihm gef\u00e4llt, und gibt sein Geld dort aus, wo er etwas daf\u00fcr bekommt. Wenn Unruhen in der Luft liegen, sucht er sich was Ruhigeres. Deshalb steht das Hotel Humboldt leer, \u201eseit Betancourt an der Macht ist\u201c.
Und genau wie der Tourist benimmt sich das private Kapital, \u201eseit Betancourt an der Macht ist\u201c.
Vor Betancourt herrschte der Diktator P\u00e9rez Jim\u00e9nez. Er gab auf seine Art Ruhe und Sicherheit, also jene Garantien, die privates Kapital verlangt, um zu kommen und zu bleiben: Das Heer sorgte f\u00fcr Ordnung.
Nun wird das Land pl\u00f6tzlich zur Demokratie. Die bis dahin unterdr\u00fcckten Kr\u00e4fte d\u00fcrfen sich bet\u00e4tigen. Die sozialen Unterschiede werden politische Tendenzen. Mit den Bajonetten verschwindet die Propaganda, und das Erbe der Milit\u00e4rdiktatur wird sichtbar. Man entdeckt das wahre Gesicht Venezuelas und schaut erschrocken hin: In keinem Land sind die Reichen reicher und die Armen \u00e4rmer, in keinem Land ist das Volk so anti-amerikanisch und die Opposition so Kuba freundlich, nirgends ist das Heer versessener darauf, die Macht wieder an sich zu rei\u00dfen, selten mu\u00dfte eine Demokratie so schnell die Freiheit aufgeben, um den offenen Konflikt zu vermeiden.
Da\u00df in einem solchen Klima kein privates Kapital sich wohl f\u00fchlen kann, ist verst\u00e4ndlich. Es wandert in weniger turbulente L\u00e4nder aus. Und die venezolanische Wirtschaft bricht noch mehr zusammen. Die Zahl der Arbeitslosen steigt. Die Ursachen der Unruhen mehren sich und mit ihnen wiederum die Gr\u00fcnde zur Kapitalflucht. Und so weiter.
So mu\u00df jede embryonale Demokratie tot geboren werden. Als Endstationen bleiben: die R\u00fcckkehr zur Milit\u00e4rdiktatur, was Aufschub bedeutet, aber keine L\u00f6sung, oder die Macht\u00fcbernahme durch die Massen. Das Bild ist nicht rosig. Es ist paradox, da\u00df die Ungebundenheit des Kapitals, dieses Grundprinzip unserer freien Wirtschaft, das Entstehen der Demokratie \u00fcberall dort verhindert, wo jahrzehntelange Stauung sozialer Spannungen zu schnellen L\u00f6sung zwingt.<\/p>

W<\/strong>ashington mag Hunderte von Millionen Dollar ins Land pumpen. Es wird nie die L\u00fccke ausf\u00fcllen, noch die Initiative ersetzen k\u00f6nnen, die das abgewanderte Privatkapital hinterlassen hat. Andererseits kann Pr\u00e4sident Kennedy niemanden zwingen, sein Geld auf dem Altar der Demokratie zu opfern.
Hier liegt das Dilemma der Freien Welt in Gebieten wie Mittelamerika. Es kann nur politisch gel\u00f6st werden, indem Pr\u00e4sident Kennedy sein Programm radikalisiert und sich offen zur sozialen Revolution bekennt. Es gen\u00fcgt nicht mehr, Reformen zu empfehlen und widerspenstige Regierung von ihrer Notwendigkeit \u00fcberzeugen zu wollen. Washington mu\u00df jene Tendenzen unterst\u00fctzen, die solche Reformen verlangen, selbst wenn sie gegen gewisse private Interessen des Westens sind, und solche L\u00f6sung des sozialen Problems vertreten, die kaum ins Konzept des Kapitalismus passen. Denn was auch geschieht, die radikalen Str\u00f6mungen werden hier \u00fcberall in absehbarer Zeit die Macht ergreifen, ob wir es wollen oder nicht. Wenn der Westen kein Verst\u00e4ndnis zeigt, bringt er sie endg\u00fcltig ins kommunistische Lager. Wenn er durch rechtzeitige Unterst\u00fctzung ihr Freund wird, kann er helfen, die anfangs notwendigerweise \u201egelenkte Demokratie\u201c zu einem Rechtsstaat zu machen.<\/p>

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Die<\/em> Endstation des europ\u00e4ischen Abenteuers  ist oftmals die H\u00e4ngematte unter einem alten Lastwagen<\/em><\/figcaption><\/figure><\/div>


Ich wei\u00df, all das mag \u00fcbertrieben klingen, aber es gibt kaum einen verantwortungsbewu\u00dften Politiker in diesem Teil der Welt, der uns diese \u00dcberlegungen nicht vorgetragen hat. Auch in Amerika vertreten Senatoren und Universit\u00e4tsprofessoren heute gleiche Meinungen. Dr. Raul Prebisch, der Chef der wirtschaftlichen Kommission f\u00fcr Lateinamerika in den Vereinten Nationen, sagte: \u201eIch glaube nicht, da\u00df es noch viele andere Gelegenheiten geben wird. Wir haben heute noch die M\u00f6glichkeit, etwas Neues zu schaffen, das zutiefst die Art des Lebens und der Produktion in Lateinamerika \u00e4ndern wird. Wenn wir sie nicht wahrnehmen, werden die neuen Generationen eine Welt ablehnen, die wir aus Unf\u00e4higkeit nicht \u00e4nderten, und eine andere aufbauen, die nicht der entsprechen mag, die wir f\u00fcr sie gew\u00fcnscht h\u00e4tten.\u201c<\/p>

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Zwischen Kennedy und Castro Stern, Heft 23, 4. Juni 1961 Die Stewarde\u00df zieht den Tisch aus der R\u00fcckenlehne des Vordersitzes und befestigt ihn \u00fcber meinen Knien.\u201eWas gibt es?\u201c frage ich.\u201eHummer.\u201c\u201eAch, schon wieder.\u201cNeben mir macht Claude Deffarge eine Grimasse, die man auch nicht gerade als feinschmeckerisch bezeichnen kann. Sind wir v\u00f6llig versnobt? Nein. Wir rechnen nach:…<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":62034,"parent":54096,"menu_order":3,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":{"_seopress_robots_primary_cat":"","_seopress_titles_title":"","_seopress_titles_desc":"","_seopress_robots_index":"","footnotes":""},"categories":[622],"tags":[],"class_list":["post-54227","page","type-page","status-publish","has-post-thumbnail","hentry","category-mittelamerika","entry","has-media"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54227","targetHints":{"allow":["GET"]}}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/types\/page"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/users\/1"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=54227"}],"version-history":[{"count":5,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54227\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":62659,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54227\/revisions\/62659"}],"up":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54096"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media\/62034"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=54227"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=54227"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=54227"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}