{"id":54227,"date":"2017-03-11T16:19:31","date_gmt":"2017-03-11T15:19:31","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=54227"},"modified":"2020-07-04T19:03:23","modified_gmt":"2020-07-04T17:03:23","slug":"in-venezuela","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/mittelamerika\/in-venezuela\/","title":{"rendered":"In Venezuela"},"content":{"rendered":"
Zwischen Kennedy und Castro<\/p>
Stern, Heft 23, 4. Juni 1961<\/em><\/p> Die Stewarde\u00df zieht den Tisch aus der R\u00fcckenlehne des Vordersitzes und befestigt ihn \u00fcber meinen Knien.
\u201eWas gibt es?\u201c frage ich.
\u201eHummer.\u201c
\u201eAch, schon wieder.\u201c
Neben mir macht Claude Deffarge eine Grimasse, die man auch nicht gerade als feinschmeckerisch bezeichnen kann. Sind wir v\u00f6llig versnobt? Nein. Wir rechnen nach: Es ist das zwanzigste Mal in vierzehn Tagen, da\u00df wir Hummer essen. Wir wagen gar nicht, bis an den Anfang der Reise zur\u00fcckzudenken; sicher w\u00fcrden wir sonst allein von der Vorstellung leberkrank.
In Haiti f\u00e4ngt es an: \u201eNehmen Sie Hummer, der ist frisch und kostet wenig.\u201c In San Salvador ging es weiter: \u201eWarum nicht Hummer, der ist billiger als Fleisch?\u201c In Nicaragua, Costa Rica, in Panama, \u00fcberall um das Karibische Meer gab es Hummer wie in Deutschland Bratkartoffeln mit Spiegeleiern und ungef\u00e4hr zum gleichen Preis.
Der kleine Mann i\u00dft Reis mit Bohnen oder Bohnen mit Reis, aber jeder, der sich \u00fcberhaupt etwas leisten kann, mag sich auf die \u201eDelikatesse der Reichen\u201c st\u00fcrzen, ohne seinen Geldbeutel sonderlich zu belasten. Hier ist eben alles verdreht.
Unter uns liegt Kolumbien. Dort herrschen kommunistische Gener\u00e4le \u00fcber ganze Provinzen. Kommunisten? Sicher nicht. Sie nennen sich nur selber so, weil dieses Wort hier mehr Prestige hat als R\u00e4uber oder Bandit. Es klingt auch viel ehrlicher, wenn man sich unter einer politischen Spitzmarke die Taschen vollstopft.
Ein wenig weiter sehen wir Maracaibo. Drei\u00dfigtausend H\u00e4user klammern sich um die Bucht, aus der Venezuelas Reichtum flie\u00dft: das \u00d6l. Bohrt\u00fcrme stehen im Wasser, Br\u00fccken \u00fcberspannen Fl\u00fcsse, amerikanische Wagen blitzen in den Stra\u00dfen \u2013 und nur f\u00fcnfzig Kilometer westlich beginnt das Gebiet der Motilones. Indianer, von denen wir nichts wissen, starren aus ihren Bergen auf das Leben der Wei\u00dfen und versuchen es zu deuten. Wenn sie n\u00e4her hinsehen wollen, bleiben sie in elektrisch geladenen Dr\u00e4hten h\u00e4ngen oder sie werden von Kugeln zerrissen, von Metallen, die sie noch nicht entdeckt haben.
Auch die politische Vereinfachung in Kommunismus und Antikommunismus pa\u00dft hier nicht hin. Ein Tyrann, der mit dem Heer regiert, ist kein Demokrat, wenn er auch ein Freund des Westens ist. Ein Mann, der nach Brot schreit, ist kein Kommunist. Er wird es aber, wenn man ihn lange so nennt.
Diese Erfahrungen wurden uns im Laufe der Reise ebenso h\u00e4ufig serviert wie Hummer. Wir haben auch gelernt, da\u00df die anti-amerikanische Haltung der Massen, die aussichtslose Armut von Millionen, die r\u00fccksichtslose Ausbeutung durch falsche Demokraten ebenso viele Tr\u00fcmpfe in der Hand Fidel Castros sind.
Aber nun soll es anders werden. Wenigstens hat man es uns gesagt: In Venezuela sollen die Voraussetzungen bestehen, um eine Antwort auf Castros Herausforderung in Mittelamerika zu geben. Es ist das reichste Land dieser Gegend und, was entscheidend ist, der einzige wirklich demokratische Staat am Ufer des Karibischen Meeres.
Der Exkommunist und jetzt liberale Romulo Betancourt gelangte durch freie Wahlen legal zur Pr\u00e4sidentschaft. Wenn es ihm gelingt, auf demokratischem Wege das Lebensniveau des Volkes zu heben und die sozialen Spannungen zu mildern, wenn er beweist, da\u00df man auch ohne totalit\u00e4re Ma\u00dfnahmen Reformen durchf\u00fchren kann, die zu Unabh\u00e4ngigkeit und Wohlstand f\u00fchren, dann wird das Beispiel Venezuelas das beste Bollwerk gegen den \u201eFidelismus\u201c sein. Genau wie der Wettkampf zwischen Indien und China die politische Zukunft S\u00fcdostasiens bestimmen wird, genauso, hatte man uns gesagt, wird Erfolg oder Scheitern des venezolanischen Experiments entscheiden, ob Lateinamerika demokratisch wird oder \u201efidelistisch\u201c. Venezuela soll das Schaufenster des Westens in Lateinamerika werden. Wie gro\u00df sind die Chancen?
Schon bei unserer Ankunft in Car\u00e1cas nehmen uns die Zeitungen unsere Illusionen. \u201eDie Grundgesetze sind vor\u00fcbergehend aufgehoben\u201c, erkl\u00e4rten die Schlagzeilen. \u201eAusnahmezustand\u201c, \u201eZensur\u201c, \u201eVerhaftung\u201c sind Worte, die immer wieder vorkommen und ahnen lassen, da\u00df man hier die Demokratie nicht \u201edemokratisch\u201c retten kann.
Ein Blick auf die Hauptstadt gen\u00fcgt, um einen Teil der Schwierigkeiten zu verstehen, mit denen Betancourt fertig werden mu\u00df. Hier liegt der architektonisch k\u00fchnste, der teuerste, der protzigste H\u00e4userhaufen, den man sich vorstellen kann. Wolkenkratzer, vierspurige Avenuen, Pariser Modegesch\u00e4fte, unendliche Schlangen von amerikanischen Autos und Preise, wie sie New York nicht kennt, stehen in keinem Verh\u00e4ltnis zum Lebensstandard der sechseinhalb Millionen Einwohner des Landes.<\/p>