Rezensionen<\/span><\/h3>\nS\u00fcddeutsche<\/span> Zeitung<\/span><\/strong>
\nMontag, 17. August 2009<\/p>\nZerst\u00f6rerischer Fortschritt<\/span><\/b>
\nErinnerungen des kritischen Reporters Gordian Troeller<\/p>\nVon Cornelia Bolesch<\/p>\n
Dieses Buch wirkt wie eine Flaschenpost aus einem fernen und fremden Land – es ist das Deutschland der siebziger und achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Damals spulte das \u00f6ffentlich-rechtliche Fernsehen nicht nur Endlosschleifen aus Kriminalfilmen und Ratespielen ab. Es hatte auch den k\u00fchnen Anspruch, die Welt zu ver\u00e4ndern. Damals war die gro\u00dfe Zeit des Dokumentarfilmers Gordian Troeller.<\/p>\n
In Troellers produktivsten Jahren kamen in der ARD jedes Jahr drei seiner Reportagen heraus. Es waren textgewaltige Filme \u00fcber die politischen Zust\u00e4nde in der unterentwickelten Welt. Sie liefen unter Reihentiteln wie „Im Namen des Fortschritts“, „Frauen der Welt“ oder „Kinder der Welt“. Troeller war ein Globalisierungskritiker, als es dieses Wort noch gar nicht gab. Es ging ihm, so sagte er es selbst, um die „zerst\u00f6rerische Wirkung der westlichen Fortschrittsideologie auf die Gesellschaften der so genannten Entwicklungsl\u00e4nder“.<\/p>\n
In ihren Filmen haben Gordian Troeller und seine Partnerin Marie-Claude Deffarge Regierungen genauso attackiert wie internationale Konzerne oder die Kirchen. Seine Gegner schimpften Troeller einen kommunistischen Weltverbesserer. Dabei war der zierliche, lebhafte Herr mit der Hornbrille nur eines: unabh\u00e4ngig. Sein abenteuerliches, auch vom Tod bedrohtes Leben, als er in jungen Jahren in Westeuropa Fl\u00fcchtlinge vor den Nazis versteckte und in Portugal im Auftrag des holl\u00e4ndischen Milit\u00e4rs einen kleinen Geheimdienst aufbaute, hatte ihn dauerhaft davor bewahrt, zum Anpasser oder Leisetreter zu werden.<\/p>\n
Troellers Unabh\u00e4ngigkeit hatte aber auch etwas Starres, Abgeschlossenes. Er hatte wenig \u00fcbrig f\u00fcr abgewogene Urteile. Schuldfragen beantwortete er stets eindeutig. Kompromisslos schob er die Verantwortung f\u00fcr die Misere in den armen L\u00e4ndern dem „wei\u00dfen Mann“ zu, seiner Gier und Selbstbezogenheit. Die korrupten Eliten in den Entwicklungsl\u00e4ndern, das Versagen vieler „Freiheitsbewegungen“ – all das kommt nur am Rande vor. Troeller wollte sich nur mit den Wurzeln des Ungl\u00fccks besch\u00e4ftigen, nicht mit den Zweigen und \u00c4sten der kranken B\u00e4ume, die daraus hervorwuchsen.<\/p>\n
Doch seine ausdauernden Provokationen liefen sich irgendwann tot – zun\u00e4chst Ende der Sechzigerjahre, als die Illustrierte Stern nach \u00fcber 10 Jahren die Lust an seinen exotischen Reportagen verlor, schlie\u00dflich Ende der Achtzigerjahre im deutschen Fernsehen, als dessen F\u00fchrungskr\u00e4fte immer mehr M\u00fche hatten, Troeller vor irritierten Rundfunkr\u00e4ten in Schutz zu nehmen. Selbst f\u00fcr m\u00e4chtige Mediensysteme war der Kern seiner Botschaft wohl zu herausfordernd, um ausgehalten und unterst\u00fctzt zu werden: dass man jedem Menschen jeder Gesellschaft „erlauben muss, er (sie) selbst zu sein“. Mit dieser Kritik wandte Troeller sich ganz grunds\u00e4tzlich gegen das Recht des St\u00e4rkeren – sei es die Wirtschaftsmacht, die dominierende Kultur, die patriarchalische Ordnung oder die „Herrschaft der Erwachsenen \u00fcber die Kinder“.<\/p>\n
Analytiker wie er fehlen heute den popul\u00e4ren Medien. Denn nun br\u00f6seln auch die Fundamente der m\u00e4chtigen westlichen Gesellschaften. Das globale Finanzsystem und damit die pers\u00f6nlichen Lebensentw\u00fcrfe von Millionen von Menschen sind knapp dem Zusammenbruch entronnen. Erstmals sp\u00fcrt man in den Industriestaaten selbst die zerst\u00f6rerische Wirkung der eigenen Fortschrittsideologie. Gordian Troeller hat viele ihrer Risiken fr\u00fch erkannt: „Man feiert die Bedeutung des freien Unternehmertum und wenn es schief geht, zahlt die \u00d6ffentlichkeit die Kosten. Das kann nicht gutgehen. Es w\u00e4re nicht das erste Mal, dass ein selbstherrliches System zugrunde geht.“<\/p>\n
Gordian Troeller ist vor sechs Jahren gestorben, im Alter von 86 Jahren. Von Freunden gedr\u00e4ngt, seinen Erfahrungsschatz weiterzugeben, hatte der alte Mann, schon von der Krebskrankheit gezeichnet, seine Erinnerungen recht lakonisch und in einem Zug in den Computer getippt. Er sah den Text nie wieder an. Es war schlie\u00dflich seine Witwe und Mitarbeiterin Ingrid Becker-Ross -Troeller, die das Manuskript mit dem kuriosen Arbeitstitel „Ein Gl\u00fcckspilz entdeckt die Welt“ aus der Schublade geborgen, mit langen Ausz\u00fcgen aus seinen Reportagen erg\u00e4nzt und einem Verlag gegeben hat. So kommt das Buch gerade rechtzeitig in einer Gesellschaft an, die Troellers Blick auf die Welt l\u00e4ngst nicht mehr so provozierend finden d\u00fcrfte wie vor 30 Jahren. Auch im Westen hat man es sich inzwischen angew\u00f6hnt, radikal \u00fcber eine neue Zukunft nachzudenken.<\/p>\n
PROGROM<\/span><\/strong><\/h3>\nZeitschrift der Gesellschaft f\u00fcr Bedrohte V\u00f6lker, Heft 5-6, 2009
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\nMit dem Abenteuer auf Augenh\u00f6he<\/span><\/b><\/p>\nVon Claus Biegert<\/p>\n
Seine Kamera war immer auf die Schw\u00e4cheren gerichtet. Nicht, um ihre Schw\u00e4chen zu best\u00e4tigen, sondern um ihre St\u00e4rken zu zeigen. Seine Kamera hielt fest, was seine Augen sahen. Das klingt simpel, ist es aber nicht, angesichts einer Berichterstattung, die auch in unserem Land so oft die Handschrift der Herrschenden tr\u00e4gt. Es gibt Reporter, die sehen weg, wenn das Geschehen nicht ins gew\u00fcnschte Bild passt. Gordian Troeller schaute nie weg, sondern genau hin. Daher waren seine Berichte nie ausgewogen. Sie waren subjektiv. Troeller war immer auf der Seite der Ausgebeuteten: der Kinder, der Frauen, der Natur, der indigenen V\u00f6lker.
\nWie vertrugen sich seine subjektiven Reportagen mit der geforderten Objektivit\u00e4t im Journalismus? Dies war seine Antwort: \u201eMeine Sicht der Dinge korrigiert die Schieflage der Medien. Sie neigen sich nach rechts, ich neige mich auf die andere Seite. Sie nennen es links, ich nenne es einfach gerecht. Ich berichte gegen den Strom und trage damit zu einer Objektivit\u00e4t innerhalb der gesamten Medienlandschaft bei.\u201c Ein Gl\u00fcck, dass Gerd von Paczensky, der Chefredakteur des Senders Radio Bremen, es auch so sah, und sein Redakteur Elmar H\u00fcgler ihm Jahr ein, Jahr aus Auftr\u00e4ge gab.
\nTroeller war bereits ein Globalisierungsgegner, da gab es die Front gegen das weltumspannende Handelsnetz der Multis noch gar nicht. Ihm, als Antifaschist und Anarchist, zeigte die Brille seiner Erfahrungen sofort, wer hier k\u00fcnftig die Gewinner und wer die Verlierer sein w\u00fcrden. Damit war er nat\u00fcrlich abgestempelt als Robin Hood mit der Kamera. Beschimpfungen und Vorw\u00fcrfe warfen ihn nicht aus der Bahn, im Gegenteil, sie waren f\u00fcr ihn\u00a0 der Beweis, dass er und seine Mitarbeiter ihre Sache gut und richtig gemacht hatten. Seine Mitstreiterin war Jahrzehnte die franz\u00f6sische Dokumentaristin und Ethnologin Claude Deffarge, nach ihrem Tode die Hamburger Soziologin und P\u00e4dagogin Ingrid Becker-Ross, die sp\u00e4ter seine Frau wurde und die jetzt seine Autobiografie herausgegeben hat. Das Buch k\u00f6nnte durchaus als Journalisten-Thriller etikettiert werden.
\nDer Abenteurer Charles Gordian Troeller war Luxemburger. Das war nach seiner Kragenweite: ein winziges Land, das nicht zu den M\u00e4chtigen geh\u00f6rte. Er wurde am 16. M\u00e4rz 1917 im franz\u00f6sischen Lothringen geboren und ging in Frankreich, Deutschland und Luxemburg zur Schule. Damit hatte er drei Muttersprachen, f\u00fcr einen \u201ePlanetary Citizen\u201c die richtige Grundlage. Seine Gesinnung wird gleich zu Beginn seiner Biographie deutlich: \u201eAuch als Luxemburger musste man sich mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen, umso mehr als Hitler den Gro\u00dfdeutschen Traum hatte. Auch Luxemburg sollte zum Reich geh\u00f6ren; 1940 wurde es dann tats\u00e4chlich annektiert. Schon vorher entschloss ich mich, gegen die Nazis zu k\u00e4mpfen. Das aber war nur in Spanien m\u00f6glich, wo deutsche und italienische Truppen Franco unterst\u00fctzten. Mit der Hilfe franz\u00f6sischer Kommunisten erreichte ich Figueras und landete dort bei der kommunistischen Partei. Die hatte entschieden, dass ich in der Internationalen Brigade k\u00e4mpfen sollte, eine von der Partei dominierte Einheit. Ich sagte zu und wollte in die Partei eintreten. Aber dann kamen mir Zweifel, denn inzwischen hatte ich festgestellt, dass das Hauptanliegen der Kommunisten die Schw\u00e4chung oder Eliminierung der anderen linken Organisationen war.(…) Als ich das durchschaute, schwor ich mir, nie Kommunist zu werden und diese Partei nicht weniger entschlossen zu bek\u00e4mpfen als die Faschisten.\u201c
\nSein Leben f\u00fchrte ihn um die Welt. War der Weg versperrt, fand er seinen eigenen. Eine Luxemburger Episode aus den Nachkriegstagen illustriert die Kreativit\u00e4t des Reporters, der die List zu seinem Handwerkszeug z\u00e4hlte: Die neu gegr\u00fcndete Zeitung \u201eL\u2019Ind\u00e9pendant\u201c (Der Unabh\u00e4ngige) erhielt kein Papier. Als ein Zirkus seine Tiere durch die Stadt f\u00fchrte, um f\u00fcr sich Reklame zu machen, sprach Troeller mit dem Direktor. Am n\u00e4chsten Tag hingen an den Kamelen, Elefanten, Zebras die Nachrichten des \u201eL\u2019Ind\u00e9pendant\u201c.
\nDer Abenteurer und Journalist ging nach dem Zweiten Weltkrieg nach Madrid und berichtete f\u00fcr mehr als 40 internationale Zeitungen aus dem faschistischen Franco-Spanien. Nach seiner Ausweisung 1948 verlagerte er sein Arbeitsgebiet nach Rom und dann in den Vorderen Orient und nach Persien. In seinen gro\u00dfen Reportagen f\u00fcr deutsche Zeitschriften nahm er diese Themen wieder auf. Die erste \u201eStern\u201c-Reportage (aus Spanien) erschien 1958, den ersten Film (aus dem Jemen) strahlte die ARD 1963 aus. Von da an war die deutsche Medienlandschaft um ein Fenster nach drau\u00dfen erweitert. Die unvergesslichen Reihen hie\u00dfen \u201eIm Namen des Fortschritts\u201c, \u201eFrauen dieser Welt\u201c und \u201eKinder dieser Welt\u201c. Seinen letzten Film schnitt er mit 82 Jahren; es ist eine Synthese und tr\u00e4gt den Titel \u201eWenn die Irrt\u00fcmer verbraucht sind\u201c, Radio Bremen sendete ihn 1999.
\nUnsere \u201eWissensgesellschaft\u201c zeichnet sich aus durch eine Kultur des Verdr\u00e4ngens und Vergessens. Der renommierte Zukunftsforscher und Gesellschaftskritiker Robert Jungk (wie Troeller bis zu seinem Tode im Beirat der Gesellschaft f\u00fcr bedrohte V\u00f6lker) hat viele wegweisende B\u00fccher geschrieben; keines ist heute mehr \u00fcber den Buchhandel erh\u00e4ltlich. Es ist bezeichnend, dass Ingrid Becker-Ross-Troeller sich gezwungen sah, die Autobiographie ihres Weg- und Lebensgef\u00e4hrten als \u201ebook-on-demand\u201c zu ver\u00f6ffentlichen (Hrsg.: Ingrid Becker-Ross-Troeller, 206 Seiten,\u00a0 14,90 \u20ac, ISBN: 978-3-86805-315-9 ). Es kann problemlos on-line bestellt werden \u00fcber Amazon oder die Website www.gordian-troeller.de<\/p>\n
Ich lernte Gordian Troeller 1978 kennen und hatte das Gl\u00fcck und das Vergn\u00fcgen, ihn daheim in Hamburg und bei der Arbeit in den USA zu erleben.<\/span><\/i>
\nGern mokierte er sich \u00fcber den Typus des V\u00f6lkerkundlers, der beim Studium der fremden Kultur die fremden Menschen \u00fcbersieht. Am liebsten erz\u00e4hlte er diese Geschichte aus dem S\u00fcdsudan 1966, wo sich die schwarze Bev\u00f6lkerung gegen die Herrschaft des arabischen Nordens erhoben hatte. Gordian und Claude Deffarge mussten heimlich von Uganda aus eingeschleust werden. So liest sich die Anekdote aus dem Tagebuch des Dokumentaristen:<\/span><\/i><\/p>\n\u201eSieben M\u00e4nner und vier Frauen vom Stamme der Kakua erwarteten uns am Ufer des Flusses, der hier die Grenze bildet. Die Frauen trugen nur Lendenschurze;\u00a0 der Rest ihrer Bekleidung bestand nur aus rituellen Narben. Drei M\u00e4nner trugen Hemden und Hosen und hatten Gewehre; die \u00fcbrigen waren fast nackt. Wir mussten \u00fcber den Fluss schwimmen. Die Frauen nahmen Claude in ihre Mitte, die M\u00e4nner schwammen neben mir. Es gab Komplikationen mit Treibholz und Krokodilen, und Claude und ich konnten nur dank gr\u00f6\u00dfter Anstrengungen gerettet werden. Am anderen Ufer umarmten wir uns alle. Eine r\u00fchrende Szene, die nach Bruderschaft aussah. Anschlie\u00dfend wurde im Wald gegessen, aber da waren wir wieder getrennte Gruppen. Wir sa\u00dfen auf einer Zeltbahn, und unsere Retter hockten 20 Meter entfernt auf dem Boden. Obwohl wir sie immer wieder aufforderten, sich zu uns zu setzen, lehnten sie ab. Am n\u00e4chsten Tag war es nicht anders. Doch diesmal machten wir nicht den Fehler, sie zu uns zu bitten, sondern nahmen unser Essen und setzten uns zu ihnen. Die Diskussion, die hierdurch ausgel\u00f6st wurde, dauerte die ganze Nacht.
\nSie hatten uns das Leben gerettet, doch mit uns zu essen, das glaubten sie nicht zu d\u00fcrfen. Einer so intimen Beziehung f\u00fchlten sie sich nicht w\u00fcrdig. Nach langem Palaver kam es an den Tag: Sie waren \u00fcberzeugt, keine Menschen zu sein. H\u00f6her entwickelte Affen vielleicht. Aber Menschen nicht. Noch nicht. Dieses \u201eNoch-nicht-Sein\u201c, was als Vorbild aufgezwungen, gepredigt oder vorgelebt wird, diktierte ihr Verhalten. Verinnerlichung der vom Westen geformten und Dank seiner materiellen \u00dcberlegenheit akzeptierten \u00dcberzeugung, dass die menschliche Entwicklung nur in eine Richtung gehen k\u00f6nne, und zwar in eine in die westliche Zivilisation einm\u00fcndende. (\u2026)
\nWas konnten wir mit dieser Erkenntnis anfangen? Worte k\u00f6nnen Situationen kl\u00e4ren, aber Verhalten nicht \u00e4ndern. Durch Zufall hatten wir die einzige Beziehung hergestellt, die das Minderwertigkeitsbewusstsein aufheben konnte: die Scherzverwandtschaft \u2013 \u201eparent\u00e9 \u00e0 plaisanterie\u201c sagen die Franzosen. Sie ist in vielen Kulturkreisen \u00fcblich. Durch Scherze, Bl\u00f6deleien und Schabernacks werden Situationen geschaffen, in denen niemand sich mehr ernst nimmt oder ernst genommen werden will. Wir nennen sie Wilde und Neger \u2013 sie uns Besserwisser und Gottes Lieblinge. Alle Vorurteile werden ausgesprochen und direkt auf die Person bezogen. Schon nach wenigen Tagen haben alle diese Vorurteile ihren Sinn verloren. Da kann ein Mann pl\u00f6tzlich rufen: \u201eHe, Besserwisser, komm her und schneid mir den Affenschwanz ab!\u201c Und ich geh hin, z\u00fccke mein Messer und schneide ihn ab. Der Mann schreit auf. Ich nehme den unsichtbaren Schwanz und stecke ihn an mein Stei\u00dfbein. \u2013 \u201eSo, jetzt bin ich ein Wilder.\u201c \u2013 \u201eUnd was macht so ein Wilder?\u201c, rufen die anderen. Ich tanze, klopfe mir auf die Brust, br\u00fclle in den Wald. \u201eIch war viel wilder\u201c, sagt der Mann, dem ich den Schwanz abgeschnitten habe. Da h\u00f6re ich auf, zu tanzen, geh auf die Knie und n\u00e4here mich Claude auf allen Vieren: \u201eFrau Besserwisser, ich bin ein armer Wilder. Bitte, rette mich und schenke mir das ewige Leben.\u201c Sie nimmt die Kamera und filmt mich. \u201eEin sch\u00f6ner Wilder\u201c, sagt sie. \u201eFrisst du auch Menschen?\u201c \u2013 \u201eNur meinesgleichen, Wei\u00dfe stinken.\u201c
\nDer Einfallsreichtum unserer Scherzverwandtschaft wuchs t\u00e4glich. Als wir auch noch L\u00e4use kriegten und uns gegenseitig lausten, war der Mythos von der menschlichen \u00dcberlegenheit der Wei\u00dfen dahin. Die Kakua konnten uns als Gleiche in die Familie aufnehmen. Wir haben alle geweint, als wir uns nach sechs Wochen trennen mussten.“<\/p>\n
Neues Deutschland\u00a0<\/span><\/strong><\/h3>\nDienstag, 20. Juli 2010<\/p>\n
Macht. Armut. Elend. Gerechtigkeit<\/span><\/b><\/p>\nGordian Troeller (1917 bis 2003) hat fast alle Freiheitsbewegungen der „Dritten Welt“ journalistisch begleitet. Seine Witwe Ingrid Becker-Ross-Troeller hat seit 1976 mit Troeller f\u00fcnfunddrei\u00dfig Filme f\u00fcr das deutsche Fernsehen gedreht und jetzt die Autobiografie von Gordian Troeller herausgegeben. <\/span><\/i>Martin Lejeune<\/i><\/b> sprach mit ihr \u00fcber die Arbeit und die Intention ihres Mannes:<\/span><\/i><\/p>\nSie haben zusammen mit ihrem verstorbenen Mann vieler L\u00e4nder bereist und haben dabei Menschen getroffen, die unter denkbar schlechten Bedingungen leben und \u00fcberleben m\u00fcssen. Was ist der Unterschied zwischen Armut und Elend?<\/span><\/i><\/p>\nArmut ist relativ und sieht in jeder Gesellschaft anders aus. Menschen in Armut verf\u00fcgen \u00fcber alles Lebensnotwendige. Aber im Vergleich zu anderen Gruppen ihrer Gesellschaft ist das Konsumniveau sehr eingeschr\u00e4nkt. Sie haben jedoch noch ausreichenden Handlungsspielraum und k\u00f6nnen ein positives Selbstbild aufrechterhalten. Ihre Menschenw\u00fcrde wird nicht angetastet. Im Elend dagegen leidet man am materiellen Mangel, f\u00fchlt sich bedroht und entwickelt Minderwertigkeitsgef\u00fchle. Der Handlungsspielraum ist so eingeengt, dass eine gesunde k\u00f6rperliche, geistige und psychische Entwicklung sowie die M\u00f6glichkeit, eine gleichwertige Beziehung zu anderen Menschen aufzubauen, gef\u00e4hrdet ist. Das Elend deformiert die Menschen psychisch und bedroht ihre k\u00f6rperliche Existenz. Die Menschenw\u00fcrde ist verletzt. Das f\u00fchrt zu Aggressionen und \u00f6ffnet dem Terrorismus die T\u00fcr.<\/p>\n
Wie hielten Sie die Belastung in Elendsvierteln aus?<\/span><\/i><\/p>\nIch \u00fcbernahm die Wut und Verzweiflung der Leute. Einmal, vor zwanzig Jahren in Mosambik, haben meine Nerven nicht durchgehalten. Nicht wegen der schwierigen Arbeitsbedingungen in vermintem Gel\u00e4nde und wegen der mangelnden Hygiene. In Lateinamerika habe ich in viel mehr Gestank und Dreck in den Elendsvierteln und auf M\u00fcllhalden gearbeitet. Aber das massenweise Elend in v\u00f6lliger Apathie, das ich 1988 in einem Fl\u00fcchtlingslager (in Mosambik) gesehen habe, machte mich krank. Von S\u00fcdafrika bezahlte S\u00f6ldner hatten alles zerst\u00f6rt, das ganze Land vermint, vergewaltigt und gemordet, Kinder entf\u00fchrt und zu M\u00f6rdern abgerichtet. Wir waren in einem Fl\u00fcchtlingslager, in dem mehr als 10.000 Menschen in Plastik- und Palmbl\u00e4tterh\u00fctten bei f\u00fcrchterlicher Hitze stumm dahinvegetierten, ohne die geringste Hygiene, ohne Abwasser, das Trinkwasser kam aus einem modrigen Flussarm, ohne Brennholz, um es abzukochen und keiner schrie. Das alles lag wie unter einer Glasglocke, das war unertr\u00e4glich. Ich habe juckende Pusteln am ganzen K\u00f6rper bekommen. Ich wollte raus aus meiner Haut, weil ich es nicht aushalten konnte, diese Aussichtslosigkeit zu sehen. Ich h\u00e4tte es verstanden, wenn diese Menschen mit blo\u00dfen F\u00e4usten und Z\u00e4hnen auf mich losgegangen w\u00e4ren, blo\u00df weil ich so wohlgen\u00e4hrt war und eine Perspektive hatte. Doch die Fl\u00fcchtlinge blieben v\u00f6llig apathisch.<\/p>\n
Wie gehen Sie mit solch einer Erfahrung um, l\u00e4sst Sie so etwas \u00fcberhaupt noch los?<\/span><\/i><\/p>\nDas ist mein grundlegender Pessimismus: Ich habe mein Sch\u00e4fchen fein ins Trockne gebracht, habe mein Leben gef\u00fchrt, mich eingesetzt. Hat sich etwas ge\u00e4ndert? Immer mehr Menschen in der Welt sind ausweglosem Elend ausgeliefert. Voltaire sagte: Man muss seinen eigenen Garten bepflanzen. Aber ich wei\u00df nicht mehr, ob ich das kann.<\/p>\n
Gordian Troellers Hauptwerk entstand zu einer Zeit, als sich immer mehr Menschen im Westen Gedanken \u00fcber den Zusammenhang zwischen dem hiesigen Wohlstand und der Armut in den L\u00e4ndern der so genannten Dritten Welt machten. Das spiegelt sich auch in Troellers Film wieder.<\/span><\/i><\/p>\nRichtig. Menschenw\u00fcrdige Lebensbedingungen und Gerechtigkeit standen f\u00fcr ihn an erster Stelle. Dieses Anliegen zieht sich durch sein gesamtes Leben. Er hat fotografiert, er hat geschrieben, er hat gefilmt. Das sind sehr unterschiedliche Arbeitstechniken. Aber mit allen konnte er zeigen, was in der Welt vor sich geht. Er deckte Ausbeutungs-und Unterdr\u00fcckungsmechanismen auf. Dabei hat er sich haupts\u00e4chlich auf unsere Zivilisation konzentriert, die Strukturen, welche die westliche Industrialisierung und Technologie in der Welt geschaffen haben. Was zweifelsohne dem Westen eine ganze Menge an Annehmlichkeiten und Wohlstand eingebracht hat. Sein Anliegen war es, zu zeigen wie dieser Wohlstand auf Ausbeutung und Zerst\u00f6rung von Natur und ganzen Gesellschaften beruht: in der Dritten Welt wie letztlich auch bei uns selbst. Da haben sich der Westen und der Osten, als diese Bl\u00f6cke noch bestanden, nicht wesentlich voneinander unterschieden. Es ging um Macht und Einfluss. Die grundlegenden Strukturen eines friedlichen Zusammenlebens und der Aufbau einer gerechteren Gesellschaft haben sie wenig interessiert.<\/p>\n
Wie reagierten die ARD-Redakteure auf sein Anliegen?<\/span><\/i><\/p>\nGordian hatte das Gl\u00fcck, dass Radio Bremen sich als der kleinste Sender der ARD mit den Filmen profilieren konnte. Von Seiten der Redaktion gab es eigentlich nie Schwierigkeiten. Letztlich wurden alle unsere Filme so abgenommen, wie wir sie eingereicht haben. Das ist heute nicht mehr selbstverst\u00e4ndlich.<\/p>\n
Wie ist Troeller vorgegangen?<\/span><\/i><\/p>\nEr hat versucht, so unvoreingenommen wie m\u00f6glich an seine Themen heranzugehen. Gordian war kein Wissenschaftler, der mit detaillierten Vorstellungen von seinem Vorgehen und seinen Annahmen losgefahren ist. Gordian konnte schnell das Vertrauen von Menschen gewinnen, er hatte leichten Zugang zu ihnen. Ich habe 1974 ein halbes Jahr lang in Kolumbien \u00fcber die M\u00f6glichkeiten zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Situation von verelendeten Bev\u00f6lkerungsgruppen geforscht. Ich hatte M\u00fche zurechtzukommen mit manchen Dingen, die ich sah und die mir sehr widerspr\u00fcchlich erschienen. Gordian besuchte mich dort eine Woche lang, in Monteria, einen Viehz\u00fcchterst\u00e4dtchen in die karibischen Tiefebene. Wir sind durch den Ort geschlendert, haben mit Leuten geredet, die nicht zu meiner Zielgruppe geh\u00f6rten, abends einen Zug durch die Kneipen gemacht. Ich habe zugeh\u00f6rt und pl\u00f6tzlich verstand ich viele Zusammenh\u00e4nge. Da dachte ich: \u201eTeufel eins, ich hab dich immer verd\u00e4chtigt, zu sehr zu vereinfachen und journalistisch oberfl\u00e4chlich zu sein, um zu deinen klaren Aussagen zu kommen. Doch dein Vorgehen ist ergiebiger als meine wissenschaftliche Fliegenbeinz\u00e4hlerei.\u201c Das war f\u00fcr mich ein Aha-Erlebnis.<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"
Antifaschist. Anarchist. Journalist. Gordian Troeller berichtet Eine Autobiografie Hrsg.: Ingrid Becker-Ross-Troeller Ein Buch wie sein Leben: erlebnisreich, humorvoll beobachtend, n\u00fcchtern analysierend, engagiert kritisierend; eine Mischung aus Abenteuer und Reflexion. Gordian Troeller machte sich durch seine au\u00dfergew\u00f6hnlichen Text- und Fotoreportagen im Magazin stern in den 60er Jahren in der Bundesrepublik einen Namen. Seit Beginn der 70er…<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":55140,"parent":54014,"menu_order":4,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":{"_seopress_robots_primary_cat":"","_seopress_titles_title":"","_seopress_titles_desc":"","_seopress_robots_index":"","footnotes":""},"categories":[],"tags":[],"class_list":["post-54284","page","type-page","status-publish","has-post-thumbnail","hentry","entry","has-media"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54284"}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/types\/page"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/users\/1"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=54284"}],"version-history":[{"count":5,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54284\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":62602,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54284\/revisions\/62602"}],"up":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54014"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media\/55140"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=54284"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=54284"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=54284"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}