{"id":55207,"date":"2017-05-15T23:25:21","date_gmt":"2017-05-15T21:25:21","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=55207"},"modified":"2017-05-15T23:25:21","modified_gmt":"2017-05-15T21:25:21","slug":"bernard-goerlich","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/biographie\/stimmen-zum-werk\/bernard-goerlich\/","title":{"rendered":"Bernard G\u00f6rlich"},"content":{"rendered":"

17. M\u00e4rz 2017,\u00a0 Metropolis Kino Hamburg
\n<\/em>Rede im Rahmen einer Werkschau zum 100. Geburtstag von Gordian Troeller
\n<\/em><\/p>\n

Hommage an den „Mann mit dem gro\u00dfen Auge\u201c<\/strong><\/p>\n

Gewiss h\u00e4tte sich Gordian \u00fcber das Ansinnen einer Laudatio lustig gemacht und auf seine sp\u00f6ttisch-ironische Weise ausgedr\u00fcckt, was Goethe an einer Stelle seiner \u201cMaximen und Reflexionen\u201d so zu bedenken gab: \u201eWen einer lobt, dem stellt er sich gleich.\u201d \u2013 Aber wom\u00f6glich h\u00e4tte der heute Hundertj\u00e4hrige dem derart Zurechtgewiesenen dann doch eine ernsthafte Aufgabe erteilt: genauer aufzuzeigen, welche Bedeutung dem von ihm geschaffenen Dokumentarfilm-Werk zuzumessen ist, warum es uns gegenw\u00e4rtig noch erreicht, ja, warum es angesichts gegenw\u00e4rtiger Medienauseinandersetzung als Korrektiv, als vorbildhaft-kritisches Regulativ gelten kann; kurz: es geht in dieser kleinen Hommage darum, zu verdeutlichen, warum uns Gordian Troeller heute fehlt.<\/p>\n

Das soll in Form eines Dekalogs geschehen; d. h. es gilt, in Auseinandersetzung mit den gerade gestellten Fragen zehn Antwortperspektiven zu entfalten:<\/p>\n

1.) Gordian Troeller hat immense Lebensenergie in das Projekt investiert, \u00fcber die Problemlagen der \u201eDritten Welt\u201c aufzukl\u00e4ren: Seit Mitte der siebziger Jahre bis zur Jahrtausendwende war er in Sendereihen des Ersten Deutschen Fernsehens pr\u00e4sent. Er ist durch klar- und hellsichtige Diagnosen internationaler Konfliktzonen den vorherrschenden Sichtweisen entgegengetreten, um neues \u2013 alternatives \u2013 Bewusstsein zu stiften. Die dabei provozierten, oft aufgeregten \u2013 im Mainstream des politischen Alltagsbewusstseins verankerten \u2013 Reaktionen belegten die Sprengkraft einer eminent engagierten kritischen Haltung, die selbst f\u00fcr das ger\u00fcgt werden sollte, was sie aufzudecken in der Lage war.<\/p>\n

2.) Eine ausschlie\u00dflich fernsehjournalistische Beurteilung greift entschieden zu kurz, sie kann die Reichweite einer Arbeit nicht erfassen, die politische Neuorientierung zu vermitteln sucht und auf Praxisver\u00e4nderung dr\u00e4ngt. Denn nicht nur diagnostisch, auch prognostisch hat Gordian Troeller die Tendenzen einer zunehmend auseinanderdriftenden Entwicklung von \u201eDritter\u201c und \u201eErster Welt\u201c pr\u00e4zise erfasst: So wies er einerseits schon vor vier Jahrzehnten der etablierten \u201eEntwicklungshilfe\u201c nach, lediglich \u201eVerarmungshilfe\u201c leisten zu k\u00f6nnen. Gleichzeitig sagte er voraus, dass die \u00dcberlebensstrategien jener Verarmten den Etablierten mehr zu schaffen machen w\u00fcrden, als sie zu ahnen vermochten (siehe: Migrationsbewegungen); schlie\u00dflich, dass Formen der \u00dcberlebenspraxis in den \u00e4rmeren L\u00e4ndern wie das \u201eSchattenwirtschaften\u201c bei fortschreitender Umweltzerst\u00f6rung und zunehmenden Wohlstandseinbu\u00dfen rasch auch in einer hochtechnisierten Welt Fu\u00df fassen k\u00f6nnten. Es sind dies Beispiele einer erschreckend genauen Deutung, die Troellers Filme auszeichnet. Ihr Wahrheitsgehalt wird noch immer mit gro\u00dfem Aufwand abgewehrt.<\/p>\n

3.) Troellers Analysen, dokumentiert in der Reihe \u201eIm Namen des Fortschritts\u201c, (1974-1985; 22 Filme) untermauern die folgende grundlegende Einsicht: \u201cUnterentwicklung\u201d ist stets Resultat des als Fortschritt getarnten repressiven Anpassungsdrucks, den die \u00f6konomisch m\u00e4chtigen Handels-\u201ePartner\u201c auf das jeweilige \u2013 zuvor weitgehend autonom gebliebene \u2013 Land der Dritten Welt aus\u00fcben. Die aufgezwungenen \u00f6konomischen Imperative der Modernisierung und der mit diesen einhergehende Konformismus haben sich im Zeitalter globaler Vereinnahmung zugespitzt. Sie tendieren dazu, jenes kreative Potential der Menschen vollends zu vernichten, auf das die subtilen Situationsdeutungen Troellers immer auch hinzudeuten bestrebt waren.<\/p>\n

4.) Die Erforschung der Mechanismen von Macht und Unterdr\u00fcckung f\u00fchrte Troeller konsequent zur Auseinandersetzung mit der Situation der \u201eFrauen der Welt\u201c (1979 \u2013 1983; 12 Filme). Hierbei gab er ein Beispiel daf\u00fcr, wie entscheidend es ist, sich von Normen und Wertvorstellungen der eigenen Kultur zu befreien, und zwar vor allem dort, wo diese den Blick f\u00fcr eigendynamisch entwickelte Lebenswelten verstellen. Troellers scharfe Kritik an patriarchalischer Herrschaft, die sozio\u00f6konomische und kulturelle Ungleichheit begr\u00fcndet und befestigt, geht einher mit dem Respekt vor weiblichen Lebensweisen, die ihren Ma\u00dfstab in sich selbst tragen und in ihrer Widerst\u00e4ndigkeit wahrzunehmen w\u00e4ren, wenn nicht kulturelle Hybris die Sicht bestimmte.<\/p>\n

5.) Die Reihe \u201eKinder der Welt\u201c (1984-1999; 36 Filme) schlie\u00dflich thematisiert die Lebensperspektive und Leidenssituationen der vermeintlich Schw\u00e4chsten, aber auch deren phantasiebestimmte Suche nach Auswegen aus dem Elend. In der identifikatorischen Teilhabe am Schicksal der Kinder in der Dritten Welt und aus deren Sicht wird die Brisanz der ungel\u00f6sten \u00f6konomischen und soziokulturellen Konflikte noch einmal drastisch vor Augen gef\u00fchrt. Troeller z\u00f6gert auch hier nicht, Schieflagen zu benennen, Situationen soziokultureller Ungerechtigkeit zu analysieren und \u2013 nicht zuletzt \u2013 unangenehm-unpopul\u00e4re Auffassungen zu vertreten: Unvereinbar mit der vorherrschenden Realit\u00e4t sei es, das Massenph\u00e4nomen der Kinderarbeit einfach per Dekret aus der Welt schaffen zu wollen. Troeller pl\u00e4diert f\u00fcr soziale Organisation und Kontrolle der Kinderarbeit, die das nackte \u00dcberleben ungez\u00e4hlter Menschen garantiere. Er entlarvt die hehren Meinungen, die den Schutz der Kinder einklagen und sich dabei auf der Seite eines universellen Humanismus w\u00e4hnen, als das, was sie sind: als Verleugnung der realen repressiven Lebensverh\u00e4ltnisse und als Vers\u00e4umnis, \u201ckindereigene Interessenvertretungen\u201d und damit eine \u2013 wie Manfred Liebel schreibt \u2013 \u201cPartizipationskultur\u201d zu entwickeln, \u201cdie Kindern erm\u00f6glicht, an allen sie betreffenden Entscheidungen in ma\u00dfgeblicher Weise mitzuwirken.\u201d 2<\/p>\n

6.) Troellers Filme f\u00fchren vor, was es hei\u00dft, eine interkulturelle Perspektive anzustrengen und durchzuhalten, ohne mit ihr in die Sackgassen vorgestanzter Betrachtungsweisen zu geraten. Sicher h\u00e4tte er dem Freudschen Hinweis zugestimmt: \u201cWenn wir nicht klar sehen k\u00f6nnen, so wollen wir wenigstens die Unklarheiten scharf sehen.\u201d3 Der Zuschauer sp\u00fcrt die ansteckende Neugier und die Sensibilit\u00e4t f\u00fcr das Ausgegrenzte, bisher nicht zur Sprache Gebrachte. Er kann teilhaben am Projekt der Anatomie von Verst\u00e4ndnisbarrieren, die \u2013 wie Fundamentalismus, Patriarchalismus, Euro- und Ethnozentrismus \u2013 den Zugang zur anderen Kultur auf Dauer verstellen. Gerade von einem angemessenen \u2013 in der Begegnung, in der Szene verankerten \u2013 Zugang aber h\u00e4ngt doch alles ab. \u2013 Das teilhabende szenische Verstehen findet in Troellers Methode des Filmens seine Entsprechung: Dieses ist ganz und gar in der jeweiligen Situation, der konkreten Lebensszene, verankert. Eben deshalb wird Troeller von den Anderen als \u201cMann mit dem gro\u00dfen Auge\u201d wahrgenommen; und es ist ber\u00fchrend, von ihm zu h\u00f6ren, wie sehr er sich anstrengte, den aufrechten Gang aufzugeben und auf den Knien zu filmen, um der Lebenswelt der Kleinen gerecht zu werden. \u2013 Was wir hier lernen k\u00f6nnen: Szenisch-lebenspraktische Anteilnahme fordert den Forscher dazu auf, seine Haltung zum Forschungsgegenstand zu ver\u00e4ndern, den Standpunkt der Inter-Subjektivit\u00e4t zu radikalisieren und den Gegenstand vom blo\u00dfen Objektstatus beobachtungswissenschaftlicher Distanz zu befreien. Alles kommt darauf an, in der Perspektive lebenspraktischer Teilhabe und in der Sensibilisierung f\u00fcr Spuren des verborgenen Sinns die Fragen neu oder anders zu stellen: es geht nicht mehr darum, zu registrieren, was mit dem Anderen vor sich geht, sondern vielmehr herauszufinden, wie das Verh\u00e4ltnis beschaffen ist, in dem wir dem Anderen begegnen. Es gilt, gemeinsame Aufkl\u00e4rung dar\u00fcber zu gewinnen, welche Konflikte zur Debatte stehen, die wir mit dem Anderen teilen.<\/p>\n

7.) Troellers Arbeiten sind in genau diesem Sinn nicht nur Beispiele f\u00fcr die M\u00f6glichkeit, tradierte Meinungsgrenzen und hartn\u00e4ckige Vorurteile zu \u00fcberwinden; sie bieten auch entwickelte Modelle an, die neue, alternative Wege des Zugangs zum Anderen anbahnen. Beispiel hierf\u00fcr ist das von ihm intuitiv entwickelte Medium der \u201eScherzverwandtschaft\u201c, ein Beziehungs-Spiel, das darauf angelegt ist, Br\u00fccken zwischen Positionen zu schlagen, die sich zuvor feindlich-abgrenzend gegen\u00fcberstanden. \u201eWorte k\u00f6nnen Situationen kl\u00e4ren\u201c, erl\u00e4utert Troeller in einem Gespr\u00e4ch, \u201eaber Verhalten nicht \u00e4ndern\u201c, um das bezeichnete Arrangement am Beispiel eines einschneidenden Erlebnisses im S\u00fcdsudan zu illustrieren: Mitglieder des Kakua \u2013 Stammes hatten den ihnen von Missionaren erteilten Bescheid, \u201ekeine richtigen Menschen zu sein, allenfalls h\u00f6her entwickelte Affen\u201c, so weit verinnerlicht, dass sie zum fremden europ\u00e4ischen Filmteam auch nach gemeinsam \u00fcberstandenen schwierigen Situationen (wie die Durchquerung eines gef\u00e4hrlichen Flusslaufs, den die Wei\u00dfen nur \u00fcberlebten, weil ihnen die Erfahrung der Schwarzen entscheidend half) Abstand hielten und beispielsweise wiederholte Einladungen, doch das Essen gemeinsam einzunehmen, ausschlugen. Troeller schildert, wie der Bann zu brechen war. \u201eDurch Zufall hatten wir die einzige Beziehung hergestellt, die das Minderwertigkeitsbewusstsein aufheben konnte: die ,Scherzverwandtschaft\u2018. Sie ist in vielen Kulturen \u00fcblich. Durch Scherze, Bl\u00f6deleien und Schabernack werden Situationen geschaffen, in denen niemand sich mehr ernst nimmt oder ernst genommen werden will. Wir nennen sie ,Wilde\u2018 und ,Neger\u2018, sie uns ,Besserwisser\u2018 und ,Imperialisten\u2018. Alle Vorurteile werden ausgesprochen und direkt auf die Person bezogen. Schon nach wenigen Tagen haben alle diese Vorurteile ihren Sinn verloren. Jeder ist gleich viel wert. Der Einfallsreichtum unserer ,Scherzverwandtschaft\u2018 wuchs t\u00e4glich. (\u2026) Sie ist ein Angebot der Freundschaft und jedesmal geht Erleichterung durch die Gruppe, wenn man zur\u00fcckfrotzelt und damit kundtut, dass die angebotene Verwandtschaft akzeptiert wird.\u201c4 \u2013 Der Erkenntniswert dieses Arrangements kann gar nicht hoch genug eingesch\u00e4tzt werden, h\u00e4lt man sich nur die Rat- und Hilflosigkeit in der derzeitigen Auseinandersetzung mit Fremdheit und den Fremden vor Augen. Den Sinn der \u201cScherzverwandtschaft\u201d bringt auch die folgende (bei Freud zu findende) Bemerkung zum Ausdruck: \u201dDerjenige, welcher dem Feinde statt des Pfeiles ein Schimpfwort entgegenschleuderte, war der Begr\u00fcnder der Zivilisation\u201d.5<\/p>\n

8.) Troellers Dokumentarfilme sind Beispiele f\u00fcr jene von Goethe beschworene \u201czarte Empirie\u201d6, \u201cdie sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird\u201d. Troellers Filme stellen die Alternative dar zum derzeit grassierenden Bild- und Wortfetischismus des Infotainments. Sie erm\u00f6glichen ein alternatives Sehen, das sich ins Begreifen zu transformieren vermag, weil auch die Sprache jeden marktschreierisch-aufdringlichen Gestus vermeidet. Stattdessen schmiegt sie sich auf subtile Weise der szenischen Perspektive an, ja scheint weitgehend in ihr aufgehoben. \u2013 Sprachliche Reflexivit\u00e4t hat dabei vor allem den Sinn, die in der reinen Bildrezeption nicht erfassbaren Zusammenh\u00e4nge und Hintergr\u00fcnde zu rekonstruieren, zudem Wissensangebote kritisch zu beurteilen und auf ihren Erfahrungsgehalt hin zu \u00fcberpr\u00fcfen. Es gehe darum \u2013 so Troeller in seiner Ansprache auf dem Saar-Lor-Lux Filmfestival 1994 \u2013 \u201csich gegen den Ansturm des t\u00e4glich neu fabrizierten Wissens zu wappnen. (\u2026) Ich hingegen versuche \u2013 unbeschwert von dem ewig neu angebotenen Wissen \u2013 die Welt zu erfahren.\u201d7 Der folgende Gedanke k\u00f6nnte auf die Wahrheitsverdreher der Gegenwart gem\u00fcnzt sein: \u201cDabei scheint mir das Gewissen wichtiger als das Wissen. Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass Wissen ohne Gewissen nur zerst\u00f6rerisch wirken kann.\u201c Und dabei jene schauderhaften Resultate erzeugt, die uns heute in Populismus und Trumpismus begegnen und jeden Sprach-Sinn ad absurdum f\u00fchren. -Stattdessen hat uns Gordian Troeller ein Beispiel daf\u00fcr gegeben, wie in der Verbindung von Szene und Sprache Ideologiekritik, Aufkl\u00e4rung einerseits und Emotion, leidenschaftliches Engagement andererseits zusammenwirken. Fundament dieser Verbindung ist die Haltung einer \u201ekritischen Intoleranz\u201c, die sich zur Wehr setzt gegen die existierende und f\u00fcr Gefolgsmassen inszenierte Intoleranz gegen Minderheiten. Denn nicht Intoleranz an sich ist das Gegen\u00fcber der Toleranz, sondern Fanatismus, Rassismus, Ethnozentrismus, Frauen- und Fremdenfeindlichkeit, Homophobie, Herabsetzung von Minderheiten aller Art; all das, was ein zivilisiertes Miteinander bedroht und vernichtet. Das hei\u00dft: \u201ekritisch-reflektierte\u201c Intoleranz steht in einem dialektischen Widerspruchsverh\u00e4ltnis zu Toleranz; aus ihr selbst entspringt Intoleranz als Einspruch, und zwar \u00fcberall dort,wo die Freiheit des Einzelnen inwendig bedroht ist,<\/p>\n

wo Menschenw\u00fcrde und Menschenrechte ausgeh\u00f6hlt werden,<\/p>\n

wo das Recht der Rechte (nach Hannah Arendt, das Recht eines jeden Menschen, sich einem politischen Gemeinwesen zugeh\u00f6rig zu f\u00fchlen), das Recht auf Teilhabe also an den lebenspraktischen Vollz\u00fcgen einer Gesellschaft, abgeschafft werden soll.<\/p>\n

9.) Gordian Troeller hatte diese Haltung kritischer Intoleranz verinnerlicht und uns mit ihr mehr als nur Fingerzeige f\u00fcr die Gegenwartsauseinandersetzung gegeben: Man kann den populistischen Macht-Strategen von heute, die Politik nach dem F\u00fchrer-Gefolgschaftsmodell auszurichten bestrebt sind, nur begegnen in der Haltung der kritischen Intoleranz. Diese darf freilich der Frage nicht ausweichen, wie es m\u00f6glich ist, dass Menschen in gro\u00dfer Zahl und offensichtlich weitgehend unbewusst gegen ihre eigenen Bed\u00fcrfnisse handeln und sich in panikartigen \u00c4ngsten und verzweifelte Hoffnungen verstricken. Ihnen gilt es vielmehr auf den Grund zu gehen. Und hierzu muss man \u2013 wof\u00fcr Troeller ebenfalls beispielgebend ist die Haltung der intellektuellen Distanz, des immer schon Bescheid-Wissens aufgeben und anerkennen, dass Emotionen Ausdruck lebenspraktischer Bed\u00fcrfnisse sind, die auf Ver\u00e4nderung der Wirklichkeit und der in ihnen entwickelten Beziehungen dr\u00e4ngen. Troeller hat mit gro\u00dfem Recht den jungen Marx zitiert: \u201cWenn sich die menschlichen Beziehungen nicht \u00e4ndern, dann f\u00e4ngt die gleiche Schei\u00dfe von vorne an.\u201d 8 Aufkl\u00e4rung bleibt ohnm\u00e4chtig, wenn sie den emotionalen Kern menschlichen Erlebens und Handelns verkennt. \u2013 Um es mit den Worten des gro\u00dfen humanistischen Essayisten und Zeitgenossen Troellers, Jean Am\u00e9ry (1912-1978), zu sagen: \u201eEmotionen? Meinetwegen. Wo steht geschrieben, dass Aufkl\u00e4rung emotionslos zu sein hat? Das Gegenteil scheint mir wahr zu sein. Aufkl\u00e4rung kann ihrer Aufgabe nur dann gerecht werden, wenn sie sich mit Leidenschaft ans Werk macht\u201c.9 Gordian Troeller repr\u00e4sentiert genau diese Haltung des Einspruchs und der Kritik im Horizont einer gelungenen Verbindung von Aufkl\u00e4rung und Emotion; eine Haltung, von deren Durchsetzungskraft in der Gegenwart nicht wenig abh\u00e4ngt.<\/p>\n

10.)Schlussbetrachtung: An seinem 100. Geburtstag feiern wir mit Gordian Troeller eine Pers\u00f6nlichkeit, die die Erfahrung des Jahrhunderts der Extreme im eigenen Erleben repr\u00e4sentiert und die Traumata zum Anlass genommen hat, gegen Herrschaft und Unterdr\u00fcckung zu k\u00e4mpfen und Ideologien und Illusionen \u00fcberall dort zu entlarven, wo sie die in der menschlichen Lebenspraxis verborgenen kreativen Potentiale im Keim zu ersticken drohen. \u2013 Es ist aufschlussreich wahrzunehmen, wie sich Gordian im R\u00fcckblick auf sein Leben selbst charakterisiert hat: \u201cEin Gl\u00fcckspilz entdeckt die Welt\u201d \u2013 sollte die gro\u00dfe \u00dcberschrift seiner widerwillig in Angriff genommenen Biographie sein. Wie immer man dies deuten will (und sicher gib es unterschiedliche Deutungsschichten): Gordian hat in dieser Wendung doch sehr klar die Kraftquelle gekennzeichnet, aus der er zu sch\u00f6pfen vermochte: ein gesunder kreativer Narzissmus, dem er seine Lebensenergie, seine weitgehende Angstlosigkeit verdankt und \u2013 nicht zuletzt \u2013 auch seinen Humor, der sich ebenso subtil-feinf\u00fchlig wie forsch-fordernd zu \u00e4u\u00dfern vermochte.<\/p>\n

Gordian Troellers Haltung ist, \u00fcber den brisanten Gegenstand, an dem sie sich dargestellt hat, hinaus, f\u00fcr uns alle ein Beispiel f\u00fcr das Ringen um Authentizit\u00e4t \u2013 kritisches Regulativ in einer Zeit, in der die Anstrengung hierzu mehr und mehr aufgegeben wird und im Get\u00f6se der Medienindustrie abhanden zu kommen droht. \u2013 Gordian Troeller hat uns gegen Ph\u00e4nomene der Unkultur gewappnet und gezeigt: Die Haltung aktiver-kritischer Intoleranz hat ihren Ma\u00dfstab in sich; er ist zusammengesetzt<\/p>\n

(1) durch einen festzuhaltenden Wahrheitsanspruch, der in unmittelbarem Bezug zur Praxis der Menschen steht,
\n\u2013 (2) durch den ebenso festzuhaltenden Anspruch auf Gerechtigkeit (ohne den, wie Kant sagt, die Welt sinnlos w\u00fcrde) und er ist enthalten
\n\u2013 (3) in der Orientierung an der \u2013 nicht anzutastenden und nicht teilbaren \u2013 Menschenw\u00fcrde. Sie ist oberstes Prinzip, das auch ein Recht auf Widerstand zur Konsequenz hat, hier \u2013 mit Gordian Troeller \u2013 den \u201ckategorischen Imperativ\u201d von Karl Marx zur Geltung bringend (der die Konsequenz des Kantschen ist): \u201ealle Verh\u00e4ltnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein ver\u00e4chtliches Wesen ist.\u201c10<\/p>\n

Zu guter Letzt m\u00f6chte ich auf den Freund Gordian den Spruch beziehen, den Goethe in seinem Gedichtzyklus \u201cZus\u00e4tzliche Gedichte aus dem neuen Divan\u201d (hier: \u201cEinlass\u201d) ersann. Da begehrt der Dichter \u2013 wir \u00fcbersetzen: der Dokumentarfilm-K\u00fcnstler \u2013 Einlass ins Paradies und reagiert auf die Frage nach seinen Verdiensten so:
\n\u201cNicht so vieles Federlesen!
\nLass mich immer nur herein:
\nDenn ich bin ein Mensch gewesen
\nUnd das hei\u00dft ein K\u00e4mpfer sein.\u201d11<\/p>\n

Anmerkungen:<\/strong><\/p>\n

    \n
  1. J. W. Goethe, Maximen und Reflexionen. Goethe Werke. Jubil.ausg.Bd.6. Frankfurt u. Leipzig 1998. S. 516.<\/li>\n
  2. Manfred Liebel, Kinderinteressen. Zwischen Paternalismus und Partizipation. Weinheim und Basel 2015. S. 360.<\/li>\n
  3. S. Freud, Hemmung, Symptom und Angst. GW XIV. S. 155.<\/li>\n
  4. Gordian Troeller im Gespr\u00e4ch. In: Kein Respekt vor heiligen K\u00fchen. Gordian Troeller und seine Filme. Hg. v. J. Paschen, U. Spies, D. Ziegert u.a., Bremen 1992. S. 109.<\/li>\n
  5. S. Freud, Vortrag. \u00dcber den psychischen Mechanismus hysterischer Ph\u00e4nomene. 1893. In: Freud-Studienausg. Bd. VI. S. 22 (Anspielung auf einen Satz von Hughlings Jackson)<\/li>\n
  6. J. W. Goethe, Maximen und Reflexionen. a.a.O., S. 500.<\/li>\n
  7. Zit. in: Dialogische Erziehung. Nr. 1-2. 2017. (Gordian Troeller zum 100. Geburtstag). S. 60.<\/li>\n
  8. Zit. nach: Gordian Troeller (Autor), Ingrid Becker-Ross-Troeller (Hg.), Antifaschist. Anarchist. Journalist. Gordian Troeller berichtet. Eine Autobiographie. Berlin 2009. S. 15.<\/li>\n
  9. Jean Am\u00e9ry, Jenseits von Schuld und S\u00fchne. M\u00fcnchen 1988 (1977). S. 12.<\/li>\n
  10. K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (Einleitung). MEW Bd. 1. S. 385.<\/li>\n
  11. J. W. Goethe, Zus\u00e4tzliche Gedichte aus dem Neuen Divan 1819-1827. In: Goethe Werke (Jubil\u00e4umsausg.) a.a.O. Bd. 1. S. 549.<\/li>\n<\/ol>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

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