{"id":55356,"date":"2017-06-04T11:56:42","date_gmt":"2017-06-04T09:56:05","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=55356"},"modified":"2020-12-08T23:06:18","modified_gmt":"2020-12-08T22:06:18","slug":"liebe-ist-nur-zauberei-bali","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/die-frauen-dieser-welt\/liebe-ist-nur-zauberei-bali\/","title":{"rendered":"Liebe ist nur Zauberei (Bali)"},"content":{"rendered":"

Stern, Heft 44, 31. Oktober 1965<\/em><\/p>

Den Touristen wird Bali als ein Operetten-Paradies angepriesen, mit Tempelt\u00e4nzen und halbnackten M\u00e4dchen.Die indonesische Regierung will aus den Insulanern moderne, fortschrittliche Menschen machen.Die Balinesen aber leben in ihren verborgenen D\u00f6rfern wie vor 1000 Jahren: zwischen Liebe und Angst vor G\u00f6ttern und D\u00e4monen.<\/p>

Wenn Sie Fr\u00e4ulein M\u00fcller und Herrn Meier auch noch bitten, ihre paradiesischen Vorstellungen auf einen Globus zu \u00fcbertragen, bleiben die Finger auf drei Punkten stehen: Hawaii \u2013 Tahiti \u2013 Bali.Wir haben den Test siebzehnmal gemacht. Jedes Mal mit dem gleichen Ergebnis.Konnten wir also eine Serie \u00fcber die Frauen der Welt schreiben, ohne die S\u00fcdsee einzuschlie\u00dfen? Nat\u00fcrlich nicht.
Die Wahl fiel nicht schwer. Auf Hawaii kommen vier amerikanische Touristen auf einen Einheimischen: eine \u00fcberf\u00fcllte Insel.In der Gegend von Tahiti lassen die Franzosen ihre n\u00e4chste Atombombe hochgehen: Spione bespitzeln Soldaten, die ihrerseits die Sch\u00f6nen der Insel requirieren: ein milit\u00e4risches Freudenhaus.
Es blieb also nur Bali. Obwohl wir im Flugzeug angekommen, scheinen wir auch hier \u201eauf dem falschen Dampfer\u201c zu sitzen.Es ist kaum zu glauben, was die paar Fotos freibr\u00fcstiger M\u00e4dchen, die den Ruf dieser Insel begr\u00fcndeten, angerichtet haben: \u00dcberall entstehen Hotels.Ein interkontinentaler Flugplatz wird es den Schaulustigen bald erlauben, von \u00dcbersee direkt \u2013 und nicht wie wir von Djakarta aus \u2013 ins S\u00fcdsee-Paradies zu fliegen, wo sie dann gef\u00fchrt werden, wie durch die Tierparks von Ostafrika. Anstatt Elefanten, B\u00fcffel und L\u00f6wen zu zeigen, zeigt der F\u00fchrer: \u201eAchtung, Foto \u2013 links wird nackt gebadet! Die Frauen immer stromabw\u00e4rts. Die M\u00e4nner stromaufw\u00e4rts\u201c. Kameras klicken. \u201eDie M\u00e4nner halten immer eine Hand vor den Hauptteil der Anatomie\u201c, erkl\u00e4rt der F\u00fchrer. \u201eDie Frauen stecken ihn geschwind ins Wasser, sobald sie die R\u00f6cke hochgehoben haben. Ja, meine Damen und Herren. so badet man hier seit vielen tausend Jahren zweimal am Tag. Wir sind Fanatiker der Sauberkeit.
Ehrlich gesagt, mich regt das nicht auf. Was mich weit mehr interessiert, sind die unglaublich vielen Tempel, die wie Edelsteine \u2013 in Palmen und Bambus gefasst \u2013 den Rand der Stra\u00dfe s\u00e4umen. Wir fahren schon zwanzig Kilometer landeinw\u00e4rts, und ich habe noch kein gew\u00f6hnliches Haus entdeckt.
Wo wohnen nur all die Leute, die mit K\u00f6rben auf ihren K\u00f6pfen herumlaufen? Etwa in diesen Prachtbauten mit ihren monumentalen Eing\u00e4ngen?<\/p>

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Diese Portale unter den Palmen sind die Tore zu den H\u00e4usern einfacher Bauern. ali liebt den Luxus. Doch ein Markttagen wird das Ohrl\u00e4ppchen nicht mit Gold geschm\u00fcckt, sondern dient als Portmonnaie<\/em><\/figcaption><\/figure><\/div>
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Kinder spielen davor. Und wenn man n\u00e4her hinschaut, entdeckt man K\u00fcchen und Frauen, die dort arbeiten. Also doch: Tempel und Wohnungen liegen beisammen, umgeben von hohen Mauern. Der Balinese lebt mit seinen G\u00f6ttern wie in einer Burg.<\/p>

Ich m\u00f6chte mehr wissen, aber meine erregten Reisegenossen lassen mich nicht zu Wort kommen. \u201eSchnell\u201c, ruft der Reisef\u00fchrer,\u201erechts! Ein junges M\u00e4dchen mit freier Brust.\u201c Klick, klick, klick.
\u201eStopp\u201c, ruft ein Herrn dem Fahrer zu. \u201eIch fotografiere in Farbe. Fahren Sie zur\u00fcck, Mann. Sofort!\u201c
\u201eDas geht leider nicht\u201c, entschuldigt sich der Reisef\u00fchrer. \u201eWas die Herrschaften soeben gesehen haben, ist ungew\u00f6hnlich. Heute ist das sozusagen verboten. Das M\u00e4dchen muss aus einem entlegenen Dorf kommen und die neuen Vorschriften noch nicht kennen.\u201c Der Herr mit dem Farbfilm flucht: Er ist verbittert wie alle Ausl\u00e4nder, auf deren Filmen jetzt billige B\u00fcstenhalter die ber\u00fchmten balinesischen Busen abgel\u00f6st haben. Einige Touristen sind schon zur Polizei geschleppt worden, weil sie an traditionellen Badepl\u00e4tzen, hinter Palmen versteckt, mit Teleobjektiven auf unbekleidete Damen Jagd gemacht haben. Seit der Unabh\u00e4ngigkeit Indonesiens gelten nackte Br\u00fcste als Versto\u00df gegen die nationale W\u00fcrde des jungen Staates. Und wenn es nicht die Polizei ist, dann wacht die balinesische Jugend dar\u00fcber, dass ihr weiblicher Teil die europ\u00e4ischen Ma\u00dfst\u00e4be der Scham umschnallt.
\u201eHe, Mister – ich wechsle Dollars zu niedrigen Preisen\u201c,spricht mich ein junger Mann an, der seinen unsicheren Blick hinter einer dicken Sonnenbrillen zu verbergen sucht. Als ich ablehne, kommt er n\u00e4her und fl\u00fcstert: \u201eWollen Mister Balim\u00e4dchen Natur fotografieren? Sehr sch\u00f6ne. Sehr sch\u00f6ne. Zweitausend Rupien (etwa zwei Mark) das St\u00fcck. Heute Abend am Strand von Sanur?\u201c
\u201eZweitausend das Bild?\u201c
\u201eNein, Mister. Zweitausend die Brust.\u201c
\u201eDas ist verflucht teuer.\u201c
\u201eRupien wenig wert, Mister. Aber Br\u00fcste heute sehr selten. Wenn Sie mir Dollar bezahlen, mache ich zwanzig Prozent Rabatt.\u201c
Ich gehe weiter. Er l\u00e4uft mir nach und deutet fragend auf die drei Kameras, die um meinen Hals h\u00e4ngen. \u201eWarum haben Mister die denn mitgebracht?\u201c
\u201eZum Fotografieren nat\u00fcrlich.\u201c
Jetzt bohren sich seine Augen schamlos in die meinen. Die erwartete Antwort scheint auszubleiben, denn er fragt immer noch z\u00f6gernd: \u201eMister kommen doch aus England oder Deutschland? Mister sein blond.\u201c
Ich nicke \u2013 und nun geht die Erkenntnis mit ihm durch: \u201eNat\u00fcrlich. Wie habe ich nur k\u00f6nnen mich so t\u00e4uschen. Mister wollen junge M\u00e4nner fotografieren. H\u00e4tte ich wissen m\u00fcssen. Unverzeihlich. Wie viele? Wann?
Ich erkl\u00e4re ihm, da\u00df nackte Knaben mich nicht interessieren und schwarz gehandelte Br\u00fcste weder einzeln noch paarweise in Frage kommen. Er l\u00e4\u00dft nicht locker:
\u201eAber Mister k\u00f6nnen hier nur auf Schwarzmarkt lieben. M\u00e4dchen fast unm\u00f6glich. Aber Jungen. Bali richtiger Himmel f\u00fcr raffinierte Herren.<\/p>

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Bei Festen und im t\u00e4glichen Leben ist der B\u00fcstenhaltervorschrift. So will es heute die \u201enationale W\u00fcrde\u201c. Jede Frau huldigt ihr wie sie kann<\/em><\/p>


Auf diese Idee h\u00e4tte ich eigentlich eher kommen m\u00fcssen: Der weltweite Ruf vom balinesischen Liebesparadies ist ein M\u00e4rchen \u2013 wenigstens f\u00fcr normale Touristen. Hier kommen nur ganz bestimmte Herren auf ihre Kosten. Sie waren es auch, die Bali ber\u00fchmt gemacht haben. Fr\u00fcher als sie \u2013 Maler, Literaten und \u00c4stheten \u2013 \u00fcber die Insel berichteten, war es weder modisch noch versprach es literarischen Ruhm, sich offen zur gleichgeschlechtlichen Liebe zu bekennen. Deshalb f\u00fcllten sie nur ihre Privatalben mit kunstvollen Bildern badender J\u00fcnglinge. F\u00fcr die \u00d6ffentlichkeit produzierten sie Bilder freibr\u00fcstiger Amazonen der Liebe. Und in der Beschreibung ihrer Erlebnisse vertauschten sie einfach \u201eer\u201c mit \u201esie\u201c, um das Paradies auch normalen Menschen schmackhaft zu machen.
Dieses kleine grammatikalische Tauschgesch\u00e4ft fordert heute noch seine Opfer. Die normalen Freunde exotischer Abenteuer gehen in Bali leer aus. Zwar gab es einmal zwei oder drei Ausl\u00e4nder, die sich einen regelrechten Harem hielten. Aber das waren Ausnahmen. Sie verteilten Medizin und gaben heilende Spritzen und galten deshalb bei den Inselbewohnern als m\u00e4chtige Zauberer. Die abergl\u00e4ubischen Bauern schenkten ihnen gern ihre T\u00f6chter, um so die gro\u00dfen Geister zu bestechen, zu denen diese Herren anscheinend gute Beziehungen unterhielten. Alle anderen normalen M\u00e4nner, die sich je in Bali niederlie\u00dfen, mu\u00dften wie M\u00f6nche leben – oder heiraten. Und selbst das war gar nicht so einfach.<\/p>

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 Freie Br\u00fcste und verh\u00fcllte Beine. So lautet die Moral herk\u00f6mmliche Moral. Heute ist das anders. Die M\u00e4dchen zeigen ihre Schenkel und verstecken den Busen. Wenn das Fortschritt bedeutet meinen die alten, sollte man sich lieber umbringen …<\/em><\/p>

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sie tun ist, symbolisch, ins Spiel und Tanz, um innere Spannungen zu l\u00f6sen<\/em><\/p>

Doch das gilt nur f\u00fcr Ausl\u00e4nder. Unter sich sind die Balinesen keineswegs pr\u00fcde. Sie hassen es, wenn sich ein M\u00e4dchen ziert. Sie haben es nicht einmal f\u00fcr n\u00f6tig gehalten, ein Wort f\u00fcr Liebe zu erfinden. Sie sprechen von Verlangen \u2013 Lust haben \u2013 Vergn\u00fcgen.
Romantische Naturen m\u00f6gen das bedauern. Aber Romantik kann es nur dort geben, wo Verbote gebrochen oder Widerst\u00e4nde \u00fcberwunden werden m\u00fcssen. Das ist in Bali unter Balinesen nicht der Fall. Die Liebeserkl\u00e4rung ist kurz und deutlich: \u201eWillst du?\u201c Und das M\u00e4dchen sagt dann ja oder nein. Die im Blitzflirt gewonnene Zeit wird anschlie\u00dfend gr\u00fcndlich genutzt. So wenigstens erz\u00e4hlt mir ein junger Mann, der schon einigen weiblichen Touristen als F\u00fchrer gedient hat und wahrscheinlich vergleichen kann.
\u201eBei euch verpufft die Hauptenergie im nutzlosen Vorgepl\u00e4nkel\u201c, erkl\u00e4rt er wie ein wohlwollender Lehrer einem etwas zur\u00fcckgebliebenen Sch\u00fcler. \u201eIm Grunde wei\u00df doch jeder von Anfang an genau, was er will. Aber ihr wollt die gro\u00dfe Schau. Uns vergeht dabei die Lust. Euch scheint dieser Zirkus so aufzuregen, da\u00df ihr das Ziel dann in einem hastigen Sprint erreicht. Nein, mein Lieber. Von der Liebe habt ihr keinen blassen Schimmer. Ihr spielt Theater. Das ist alles.
Ich bin soviel in der Welt herumgekommen, dass ich mich kaum noch als Europ\u00e4er f\u00fchle und schon gar nicht unsere Art zu lieben in fremden Paradiesen verteidigen will. Nur um ihn zu \u00e4rgern sage ich: \u201eDas Verbotene ist bekanntlich reizvoller als das leicht Zug\u00e4ngliche. Damit beginnt das Abc der Erotik, falls du es nicht wissen solltest.\u201c
Er l\u00e4chelt und erkundigt sich, ob ich im Schneidersitz hocken kann, ohne da\u00df meine Beine einschlafen.
\u201eNein. Wir haben seit vielen Jahrhunderten St\u00fchle.\u201c
\u201eSiehst du\u201c, meint er. \u201eUnd da wagst du von Erotik zu sprechen.\u201c
Ich begreife kein Wort. Aber er scheint zu jubilieren. \u201eIhr seid St\u00fcmper\u201c, f\u00fcgt er hinzu. \u201eAnalphabeten der Liebe, wenn du mir den Ausdruck erlaubst.\u201c
Ich erlaube – bedauere jedoch, da\u00df es noch keine Olympiade der Liebe gibt, dann w\u00fcrde vielen dieser Aufschneider zwischen Argentinien und Japan endlich einmal der Mund gestopft.
Aber auch dieses Argument widerlegt er spielend. Er zieht einen Haufen Briefe aus der Tasche, in denen Frauen aus allen Teilen der Welt schreiben, wie gl\u00fccklich sie in Bali waren.
Bali ist also doch ein ganz besonderer Platz \u2013 f\u00fcr Homosexuelle und einsame Frauen. Ich mu\u00df unwillk\u00fcrlich an Italien denken. Dort schieben viele M\u00e4nner ihren sexuellen Kohldampf durch den ganzen Winter und st\u00fcrzen sich dann im Sommer ausgehungert auf die ausl\u00e4ndischen Touristinnen. Mit verzehrenden Blicken und romantischem Kriegsgeschrei. Aber Bali? Hier herrscht doch die gr\u00f6\u00dfte Freiheit. Die brauchen nicht auf die Flut der Touristinnen zu warten, die in Italien zu den bekannten Deichbr\u00fcchen f\u00fchrt. Es mu\u00df wohl doch mehr hinter den Worten meines jungen Freundes stecken als pure Prahlerei.
\u201eWas geschieht\u201c, frage ich ihn, \u201ewenn eines eurer M\u00e4dchen rundheraus ’nein‘ sagt?\u201c
\u201eDann suche ich mir eine andere.\u201c
\u201eUnd wenn du verliebt bist? Das gibt es bei euch doch auch?\u201c
\u201eDann gehe ich zum Zauberer. Der braut ein Mittel zusammen, das schnell zum ‚ja‘ f\u00fchrt.\u201c
\u201eUnd was geschieht, wenn der Liebestrunk versagt?\u201c
\u201eDann bleibt immer noch die Entf\u00fchrung.\u201c
\u201eMit Gewalt?\u201c
\u201eDas kommt vor.\u201c
Aha, das gibt es also auch: gewaltsamer Raub! Bali \u00fcberrascht uns immer mehr. Bis jetzt wu\u00dften wir nur, da\u00df die Entf\u00fchrung nur als eine abgesprochene Kom\u00f6die zur Verbilligung der Hochzeit in Szene gesetzt wird: Wenn zwei junge Leute sich einig sind und die Eltern eingewilligt haben, wird die Braut eines Tages entf\u00fchrt. Das Paar versteckt sich in einer entlegenen H\u00fctte, w\u00e4hrend die Sippe der Braut mit S\u00e4beln durch die Gegend rennt, um deutlich zu zeigen, da\u00df sie ihre Ehre r\u00e4chen will. Das Liebesnest wird nat\u00fcrlich nie ausgehoben, sonst m\u00fc\u00dfte ja der Entf\u00fchrer wirklich umgebracht werden. Wenn dann die reuigen S\u00fcnder nach einigen Tagen wieder auftauchen und um Verzeihung und Segen bitten, werden diese gro\u00dfz\u00fcgig gew\u00e4hrt. Die Tochter ist unter Haube \u2013 und es hat nicht gekostet.<\/p>

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Die Balinesen lieben Sauberkeit: Wenn die Frauen tags\u00fcber in der K\u00fcche auf offenem Feuer gekocht haben, waschen sie sich hinterher gegenseitig den Kopf mit warmer Asche. Das entfettet die Haare und tilgt Ger\u00fcche.<\/em>
Auch der Herr des Hauses bekommt seine Abreibung: mit Kokosnu\u00df, feingemahlenem Muskat und etwas Pfeffer, um die Haut zu reizen und zu verj\u00fcngen.<\/em><\/p>

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Die Balinesen sind praktische Leute. Wir erleben es sogar am eigenen Leibe. Ausl\u00e4nder werden geha\u00dft, aber manchmal k\u00f6nnen sie n\u00fctzlich sein. Wir zum Beispiel. Mittlerweile hat es sich herumgesprochen, da\u00df wir uns f\u00fcr die Frauen und Sitten der Insel interessieren und sogar ein Auto gemietet haben. Diese Tatsachen scheinen einem Herrn sehr gelegen zu kommen. Er schl\u00e4gt uns vor, bei einer Entf\u00fchrung mitzumachen. Die Auserw\u00e4hlte soll im Stra\u00dfenkreuzer geraubt werden. Wir sind nat\u00fcrlich begeistert, bei einer solchen Kom\u00f6die in der ersten Reihe zu sitzen und als Eintrittsgeld nicht mehr als ein paar Liter Benzin zahlen zu m\u00fcssen. Wir f\u00fchlen uns wie echte Pfadfinder beim R\u00e4uber- und Gendarmspiel. Eine enge Br\u00fccke am Eingang des Dorfes wird als strategisch beste Position gew\u00e4hlt. Hier mu\u00df die junge Dame vorbeikommen. Die Horoskope sind auch einverstanden. Donnerstag um neun Uhr werden alle G\u00f6tter und Sterne auf unserer Seite stehen.
Wir liegen auf der Lauer. Der Besitzer des Mietwagens, der Entf\u00fchrer, Claude Deffarge und ich. Pl\u00f6tzlich kommt ein Dutzend Frauen im G\u00e4nsemarsch daher.
\u201eEs ist die vierte,\u201c fl\u00fcstert der Br\u00e4utigam und geht in Deckung.
Ich sto\u00dfe die T\u00fcr auf, und der Besitzer zieht das M\u00e4dchen ins Auto. Vollgas.
Die Kleine schreit. Wir z\u00f6gern nicht, dem R\u00e4uber die geforderte Hilfestellung zu geben. Ich halte die w\u00fctend strampelnden Beine des M\u00e4dchens fest, Claude die Arme. Der Br\u00e4utigam setzt sich einfach auf den Bauch seiner Zuk\u00fcnftigen und h\u00e4lt ihr den Mund zu. Ihre F\u00fc\u00dfe zerrei\u00dfen mein Hemd. Der Entf\u00fchrer blutet. Claude Deffarge scheint das gar nicht komisch zu finden.
\u201eEs ist doch nur ein Scherz\u201c, beruhige ich sie.
\u201eAber es sieht so echt aus. Schau, sie weint sogar.\u201c
\u201eDas geh\u00f6rt dazu\u201c, meint der Besitzer des Wagens.
Als wir am Abend bei einer Flasche Reiswein beisammen sitzen, macht der Wagenbesitzer ein langes Gesicht. Z\u00f6gernd gesteht er, da\u00df das M\u00e4dchen gar nicht einverstanden war. \u201eIch wu\u00dfte es zun\u00e4chst auch nicht\u201c, entschuldigt er sich. \u201eAuf Ehre und Gewissen. Aber macht euch keine Sorgen, das renkt sich schon wieder ein.\u201c
Der Mann hat Nerven! Wir sollen ruhig bleiben, w\u00e4hrend ein M\u00e4dchen mit unserer Hilfe geraubt und wom\u00f6glich vergewaltigt wird.
\u201eMittlerweile wird das Zaubermittel gewirkt haben\u201c, versucht er mich zu beruhigen. \u201eUnd die Verhandlungen mit den Eltern \u00fcbernehme ich.\u201c
Zaubermittel \u2013 schon wieder. Seit einigen Wochen haben wir den Eindruck auf dem Weltkongre\u00df der Magier zu sein. Die Balinesen haben vielleicht die Technik der Liebe perfektionieret \u2013 aber was sonst passiert, scheint mit dem Gef\u00fchl oder dem Willen der Menschen nichts zu tun zu haben. Medizinm\u00e4nner, G\u00f6tter, Hexen, Astrologen und schriftgelehrte Brahmanen spielen mit den Schicksalen wie mit gef\u00e4lschten W\u00fcrfeln. Es w\u00fcrde mich gar nicht wundern, wenn irgendein Hexenmeister ausgeknobelt h\u00e4tte, da\u00df nur unsere Beteiligung am Raub Gl\u00fcck bringen k\u00f6nnte. Anstelle von Schlangenschw\u00e4nzen oder gemahlenen Eulenschn\u00e4beln hat er vielleicht kurzerhand ein paar Ausl\u00e4nder in die Liebesmischung gesteckt. Ich wei\u00df nicht, welcher Gott oder Stern ihm das geraten hat. Jedenfalls finde ich, da\u00df dies ein erb\u00e4rmliches Schurkenst\u00fcck ist. Ich verlange, sofort zu dem M\u00e4dchen gef\u00fchrt zu werden.
Der \u201eR\u00e4uber\u201c liegt im Bett. Die Entf\u00fchrte sitzt neben ihm auf dem Boden. Sie scheint vollkommen entspannt. Wir entschuldigen uns und erkl\u00e4ren, da\u00df wir gekommen sind, um sie wieder mitzunehmen. Der junge Mann l\u00e4chelt, und das M\u00e4dchen wehrt ab. Es behauptet pl\u00f6tzlich, gl\u00fccklich zu sein. Die beiden verstehen nur ein paar Worte Englisch und Holl\u00e4ndisch. Das erschwert nat\u00fcrlich die Verst\u00e4ndigung. Wie sollen wir \u00fcberzeugend wirken, wenn wir kaum verstanden werden? Und der Besitzer des Wagens, der sonst so bereitwillig dolmetschte, h\u00e4lt sich vorsichtig zur\u00fcck.
Aber so einfach lassen wir uns nicht an der Nase herumf\u00fchren. Jetzt wollen wir doch mal sehen, was hier gespielt wird! Die friedliche Koexistenz zwischen balinesischer Zauberei und europ\u00e4ischen Vernunft ist vor\u00fcber. Wir werden mit den gleichen Waffen zur\u00fcckschlagen! Die beste Hexe der Gegend ist uns gerade gut genug. von ihr hat man uns phantastische Dinge erz\u00e4hlt.<\/p>

Hexenspuk im Tempel der Toten<\/strong><\/p>

\u201eIch wei\u00df, warum ihr kommt\u201c, begr\u00fc\u00dft uns die Hexe. \u201eIhr habt Schuld auf euch geladen.\u201c
Kunstst\u00fcck. Um das zu sehen, braucht man keine Zauberin zu sein. Es steht in unseren Gesichtern geschrieben.
\u201eIhr habt einem M\u00e4dchen Leid angetan.\u201c
Jetzt wird mir ein wenig unheimlich zumute. Woher wei\u00df sie das? Oder sollte der R\u00e4uber auch ihr Kunde sei?
\u201eWas sollen wir tun\u201c, frage ich. \u201eWenn bis morgen nichts passiert, rufen wir die Polizei.\u201c
Die Hexe geht zu ihrem Bett hin\u00fcber, das im Tempel der Toten steht, und legt sich nieder. Mit geschlossenen Augen murmelt sie einige S\u00e4tze vor sich hin. Dann steht sie auf und sagt: \u201eIhr k\u00f6nnt ruhig schlafen, jetzt ist alles wieder in Ordnung.\u201c
Am n\u00e4chsten Tag begegnen wir der Entf\u00fchrten auf dem Markt. Sie strahlt und winkt uns heran. Ich erwarte von keinem Leser, da\u00df er glaubt, was das M\u00e4dchen allen Ernstes berichtet \u2013 auch uns verschlug es den Atem: Um die gleiche Zeit, als wir bei der Hexe waren, sei sie, so erz\u00e4hlt die Kleine, pl\u00f6tzlich aufgewacht. Sie habe gesehen, da\u00df aus der Tasche ihres schlafenden Entf\u00fchrers eine Flasche gefallen war. Und sie habe sofort begriffen \u2013 denn sie ist ja Balinesin! – da\u00df hier das Mittel war, das sie verzaubert hatte. Sie \u00f6ffnete die Flasche und sch\u00fcttete einige Tropfen des Inhalts \u00fcber ihren Leib. Schon f\u00fchlte sie sich frei. Der Bann war gebrochen. Sie ging aus dem Haus, als ob nichts gewesen w\u00e4re \u2013 und niemand hielt sie zur\u00fcck.<\/p>

Tanzende Bauern in prunkvollen Kost\u00fcmen<\/strong><\/p>

\u201eIhr seid doch alle ein wenig verr\u00fcck\u201c, beschimpfe ich den Besitzer des Wagens. \u201eDurch eure verfluchte Zauberei w\u00e4ren wir fast in Teufels K\u00fcche gekommen. Glaubt ihr denn wirklich an all diesen Humbug?\u201c
\u201eHat er vielleicht versagt?\u201c
Nein, aber …\u201c
\u201eIhr glaubt doch auch an eure Wissenschaft!\u201c
Ich verstehe die Beziehung nicht. Aber er kl\u00e4rt mich auf: \u201eWissenschaft ist nichts anderes als Magie, die funktioniert.\u201c
\u201eUnd was ist dann eure Zauberei, wenn ich fragen darf?\u201c
\u201eWissenschaft nat\u00fcrlich, denn sie funktioniert ja auch!\u201c<\/p>

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Dieses M\u00e4dchen wird als T\u00e4nzerin ausgebildet. In Bali ist das keine Karriere. Die Kleine wird B\u00e4uerin bleiben. Kunst ist die t\u00e4gliche Beteiligung an den magisch \u2013 religi\u00f6sen Aufgaben der Gemeinschaft<\/em><\/p>

Diese kleine Lektion balinesischer Logik hat uns sehr geholfen, Bali besser zu verstehen: Religion, Liebe Tanz, Theater, Fest und Tod \u2013 alles was das Leben dieser Menschen ausmacht, ist eng mit Magie verquickt. Ja, sie ist das Fundament ihrer Gesellschaft.
Selbst der Luxus ihrer H\u00e4user und Tempel ist auf den Glauben an diese Magie zur\u00fcckzuf\u00fchren. Der K\u00e4fig eines Papageis ist nur deshalb so sch\u00f6n wie der Rahmen eines venezianischen Spiegels oder der Pfeiler eines Hauses nur deshalb so kunstvoll ziseliert wie eine Tempels\u00e4ule, weil jedes Ornament seine magische Bedeutung hat. Dieser echte Luxus entsteht durch die symbolisch ausgedr\u00fcckte Einbeziehung der Kr\u00e4fte des Alls in jedes Detail des allt\u00e4glichen Lebens.
Kein Wunder, da\u00df es das Wort \u201eKunst“ in der balinesischen Sprache ebensowenig gibt wie das Wort \u201eLiebe\u201c. Die Tempelbauer, T\u00e4nzer, Bildhauer, Mimen, Holzschnitzer und Musikanten sind keine \u201eK\u00fcnstler\u201c in unserem Sinne. Es sind Bauern und B\u00e4uerinnen und deren T\u00f6chter und S\u00f6hne. Jeder Balinese ist \u201eK\u00fcnstler\u201c. Das hei\u00dft: Er nimmt teil an den magisch-religi\u00f6sen Aufgaben der Gemeinschaft.
Es ist ein eigenartiges Schauspiel, wenn man einem Tanz zugesehen hat oder einem Theaterspiel, und wenn man dann hinterher beobachtet, wie einfache Bauern sich aus den prunkvollen Kost\u00fcmen sch\u00e4len, um wieder zu ihrer harten Arbeit auf die Felder zu gehen.<\/p>

Frauen k\u00f6nnen sich mehrere Liebhaber halten<\/strong><\/p>

Das kleinste Dorf hat seine T\u00e4nze und Spiele. In ihrer Freizeit sind die Balinesen nicht – wie wir \u2013 gem\u00fctlich im Sessel sitzende Zuschauer bezahlter Zeitvertreiber. Sie stehen selbst im Mittelpunkt des Geschehens oder sind \u201emagisch\u201c beteiligt. Mal sind sie K\u00f6nig, mal Gott, mal Teufel, Ph\u00f6nix, Drache oder Affe. Ihre Spiele und T\u00e4nze sind psychologische Entspannungs\u00fcbungen f\u00fcr alle. So erkl\u00e4rt sich vielleicht, warum diese Menschen eine so harmonische Gesellschaft aufbauen konnten und weshalb sie nicht, wie die Inder, im Kastensystem des Hinduismus erstickten.<\/p>

Ja, auf Bali herrscht die gleiche Religion wie in Indien. Selbst das hat \u2013 laut Volksmund \u2013 magische Hintergr\u00fcnde. Als einer der mohammedanischen Herrscher Javas die Balinesen zum Islam bekehren wollte, schickte er einen Gesandten mit einer Schere an den Hof des dortigen F\u00fcrsten, um diesen zu beschneiden. Der F\u00fcrst konnte dem Wunsch seines Lehnsherren nicht widersprechen und willigte ein. Aber die Schere zerbrach, und der Gesandte starb. Das war f\u00fcr ganz Bali die \u201emagische\u201c Rechtfertigung, dem Hinduismus treu zu bleiben. Und die Balinesen sind es heute noch. Auf dieser kleinen Insel entdeckt man, da\u00df nicht die Religion an sich entscheidend ist, sondern das, was die Menschen daraus machen.<\/p>

W\u00e4hrend zum Beispiel in Indien das Gef\u00e4lle zwischen Mann und Frau gewaltig ist, kann man auf Bali kaum einen soziologischen Unterschied zwischen den Geschlechtern beobachten. Auch die Kasten haben nicht die gleiche Bedeutung wie in Indien. Es gibt auf Bali nur vier Kasten und ihre Beziehungen untereinander sind nicht durch den indischen Reinheitsfanatismus und Rassend\u00fcnkel belastet. Eine Frau darf sogar in eine tiefere Kaste heiraten. Sie kann sich ebenso leicht scheiden lassen wie ein Mann, und Witwen ist es nicht verboten wieder zu heiraten. Selbst \u201everbl\u00fchende\u201c Damen k\u00f6nnen sich so viele Liebhaber halten, wie sie wollen. Au\u00dfer den Zaubermitteln ihrer eventuellen Rivalinnen haben sie nichts zu bef\u00fcrchten.
Die Kinder sind die K\u00f6nige des Hauses und frei wie die Spatzen. Anstatt ihr Leben durch regelm\u00e4\u00dfige Mahlzeiten zu komplizieren, bekommen sie ein paar kleine Geldst\u00fccke und essen zwischen zwei Spielen auf dem Markt. Wenn jedoch eine Balinesin sich in die K\u00fcche stellt, dann kommen Gerichte auf den Tisch, die zu den besten der Welt geh\u00f6ren. Wir wenigstens haben selten so gut gegessen.
Bali ist schon ein Paradies! Zwar nicht f\u00fcr m\u00e4nnliche Vergn\u00fcgungsj\u00e4ger, die den viel besungenen Liebesgarten suchen. Auch nicht f\u00fcr Touristen, die in gro\u00dfen Hotels europ\u00e4isch essen und sich \u201eamerikanisch\u201c herumf\u00fchren lassen. Wohl aber f\u00fcr alle, die einmal eine v\u00f6llig verzauberte Welt sehen wollen.<\/p>","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Stern, Heft 44, 31. Oktober 1965 Den Touristen wird Bali als ein Operetten-Paradies angepriesen, mit Tempelt\u00e4nzen und halbnackten M\u00e4dchen.Die indonesische Regierung will aus den Insulanern moderne, fortschrittliche Menschen machen.Die Balinesen aber leben in ihren verborgenen D\u00f6rfern wie vor 1000 Jahren: zwischen Liebe und Angst vor G\u00f6ttern und D\u00e4monen. Wenn Sie Fr\u00e4ulein M\u00fcller und Herrn Meier…<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":63752,"parent":54141,"menu_order":2,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":{"_seopress_robots_primary_cat":"","_seopress_titles_title":"","_seopress_titles_desc":"","_seopress_robots_index":"","footnotes":""},"categories":[626],"tags":[],"class_list":["post-55356","page","type-page","status-publish","has-post-thumbnail","hentry","category-bali","entry","has-media"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/55356"}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/types\/page"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=55356"}],"version-history":[{"count":5,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/55356\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":61891,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/55356\/revisions\/61891"}],"up":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54141"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media\/63752"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=55356"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=55356"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=55356"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}