Die Hosen kamen mit der Mode der Blue jeans auch nach Peru. Es gilt als modern, sie zu tragen. M\u00e4dchen mit Hosen sollen sogar leichter zu verf\u00fchren sein. Sie sind aber nur selten verf\u00fchrerischer. Lateinische Formen passen besser in weite R\u00f6cken als in pralle Hosen<\/em><\/figcaption><\/figure><\/div> Der scheinbare Widerspruch zwischen herausfordernder Weiblichkeit und k\u00fchler Berechnung, der uns hier vom ersten Tag an auffiel, findet seine Erkl\u00e4rung. Ich frage: \u201eW\u00e4re es nicht leichter, einfach seinen Gef\u00fchlen zu folgen?\u201c \u201eDas darf eine Frau nicht. Willst du ein Beispiel?\u201c Sie schreitet auf mich zu und bleibt hart vor mir stehen. \u201eWenn ich jetzt einfach in deine Arme sinken w\u00fcrde \u2013 ohne Widerstand \u2013 was w\u00e4re ich dann f\u00fcr dich? \u2013 Eine Hure.\u201c \u201eIsabella\u2026\u201c \u201eWidersprich nicht. Ich kenne Europa. Da ist es auch nicht anders.\u201c Ich wage nicht zu widersprechen. Sie hat es sicher auch geh\u00f6rt: \u201eAch, diese Weiber\u201c, Klagen manche M\u00e4nner, \u201edie machen immer so viele Geschichten.\u201c \u2013 Und wenn mal eine Frau kommt und keine Geschichten macht, dann ziehen die gleichen Herren lange Gesichter. Ihre Welt steht kopf, denn sie haben ja nicht \u00fcberrumpelt, erobert, entschieden, wie es ihrer m\u00e4nnlichen W\u00fcrde geziemt. Sie f\u00fchlen sich pl\u00f6tzlich entwertet, denn was da so sang- und klanglos bereit ist, kann doch nur ein Flittchen sein. Eine anst\u00e4ndige Frau warte gef\u00e4lligst, bis sie gefragt wird und ziere sich, bis er \u00fcberzeugt ist, nur seines ganz pers\u00f6nlichen Wertes wegen gesiegt zu haben. \u201eDie Welt ist ein Dorf\u201c, sagt Isabella. \u201eDie m\u00e4nnliche Eitelkeit ist \u00fcberall gleich, und eure Frauen sind auch nicht viel anders als wir.“ \u201eUnd wie rettet ihr euren Einflu\u00df in der Ehe, wenn die Seele nicht mehr zittert\u201c, m\u00f6chte ich wissen. \u201eNur durch die Moral. Die M\u00e4nner erkl\u00e4ren ihre Untreue zu einer unverbesserlichen Eigenart des Mannes und das Verst\u00e4ndnis hierf\u00fcr zu einer nat\u00fcrlichen Tugend der Frau. \u201eUnser Fleisch ist schwach‘, sagen sie. Und sitzen damit in der Falle.“ Mir wird schwindelig. Ich mu\u00df mich setzen.<\/p>Die spanischen Eroberer hatten vier Passionen: Frauen, Pferde, Gold und Gott. Ihre Nachkommen haben die Traditionen erhalten<\/em><\/figcaption><\/figure>\u201eEs ist doch so einfach\u201c, f\u00e4hrt sie unbek\u00fcmmert fort. \u201eWenn der Mann schwach ist und von uns verlangt, stark zu sein, dann mu\u00df er zugeben, da\u00df wir in allen Fragen der Moral das letzte Wort haben. Wie k\u00f6nnte sonst die Ordnung erhalten bleiben, die er fordert, aber selbst mit F\u00fc\u00dfen tritt? Einer mu\u00df sie h\u00fcten und besch\u00fctzen. Wir nat\u00fcrlich.\u201c<\/p>
Ich mu\u00df an all die armen Ehem\u00e4nner denken und st\u00f6hne: \u201eDas ist Erpressung.\u201c \u201eSo kannst du es auch nennen, obwohl selbstverst\u00e4ndlich all das unausgesprochen bleibt und weniger simpel ist, als ich es erkl\u00e4re.\u201c Jetzt wird klar, warum sogar Ministerfrauen sich B\u00fcros neben dem Herrn Gemahl eingerichtet haben. Kontrolle tut not. Ich begreife auch, warum alle Frauen, die innerhalb der herk\u00f6mmlichen Ordnung Ansehen und Einflu\u00df gefunden haben, gegen jeden Fortschritt sind. \u00dcberall auf der Welt stehen gerade sie in den vordersten Reihen der konservativen Front. Sie f\u00fcrchten neue Welten, in denen Erotik, Moral, ein \u201egutes Gewissen\u201c und ein wenig Geld vielleicht nicht mehr ausreichen. Willst du denn nicht mehr sein?\u201c frage ich lauter, als ich gewollt habe, \u201emehr als ein Weibchen, das sich geschickt durchschl\u00e4ngelt? Du bist doch ein gescheites M\u00e4dchen. Hast du dich nie gefragt: Wer bin ich?\u201c Sie bleibt ganz ruhig. \u201eSollen wir wieder aus dem Paradies gejagt werden? Wir haben schon einmal vom Baum der Erkenntnis gegessen.“ Beim Religionsunterricht hat man mir fr\u00fcher manchmal mit der Bibel auf die Finger geschlagen. Ich verstecke instinktiv meine Finger in den Taschen und sage: \u201eIch habe viel gelernt und dir wenig geholfen.\u201c \u201eWann sehen wir uns wieder\u201c, fragt Isabella. \u201eIn ein paar Wochen erst. Wir gehen in die Berge zu den Indianern. \u201eBring mir ein paar mit\u201c, sagt sie l\u00e4chelnd. \u201eDas sind gro\u00dfartige Dienstm\u00e4dchen.\u201c<\/p> Am Kopfputz erkennt man sie: Die moderne Jugend kopiert Amerikas Frisuren. <\/em>Die fromme Frau tr\u00e4gt die spanische Mantilla<\/em><\/figcaption><\/figure> <\/figure>Von diesen \u201eDienstboten\u201c gibt es nicht weniger als sechs Millionen. Sie haben kurze Beine und sind fast ebenso breit wie klein. Der Brustkorb ist enorm. Die Lunge braucht Platz, um in H\u00f6hen von drei- bis f\u00fcnftausend Metern gen\u00fcgend Sauerstoff zu pumpen. Physiologen schlie\u00dfen hieraus, da\u00df der Mensch sich immer und \u00fcberall anpa\u00dft.<\/p>
Wenn die Indianer von den Anden herunterkommen, um in Lima ein St\u00fcck Brot zu verdienen, stimmt die Theorie nicht mehr ganz: In den Armenvierteln sterben sie an Tuberkulose. Wahrscheinlich bedarf es vieler Generationen, um sich richtig anzupassen. Es ist erst vierhundert Jahre her, seit die Spanier das Reich der Inkas zerst\u00f6rten. Sie waren gekommen, um das Gold zu erbeuten, mit dem diese Indianer nichts besseres anzufangen wu\u00dften, als sich zu schm\u00fccken, wie kokette Weiber. Konsequent, wie sie nun einmal waren, hatten die Spanier auch gleich die zu Hause g\u00e4ngigen Livreen f\u00fcr Diener mitgebracht und sie den Besiegten umgeh\u00e4ngt. Sie tragen sie heute noch und sind Diener der Wei\u00dfen geblieben.<\/p> Die Indianerinnen halten seit Jahrhunderten an ihrer Melone fest. Jesuiten f\u00fchrten sie ein. Heimarbeit bewahrte sie bis heute<\/em><\/figcaption><\/figure>Selbstverst\u00e4ndlich hat man sie zu Christen gemacht. Sie sind sozusagen Br\u00fcder geworden und d\u00fcrfen Kirchen bauen und Kreuze tragen anstatt, wie ihre Vorfahren, die Sonne anzubeten, die jeden Morgen aus dem Titicacasee aufsteigt.<\/p>
Heute kreuzt Pater Henri mit seiner Motorjacht auf dem See herum. In den Staaten hat er gelernt, was er von den Indianern zu halten hatte: Sie bilden weit \u00fcber die H\u00e4lfte der Bev\u00f6lkerung des Landes, haben jedoch nichts zu melden. Die meisten sprechen Quetchua oder Aymara und nur wenige Spanisch. Sie seien d\u00fcster, hie\u00df es, h\u00e4\u00dflich, apathisch, verschlossen, aber manchmal gewaltt\u00e4tig. Nat\u00fcrlich faul \u2013 sonst w\u00e4ren sie ja reich. Sie haben viele Krankheiten, sind schmutzig, ungebildet und fast noch Heiden. Kurzum: Menschen, die man zivilisieren mu\u00df.<\/p>
Missionsbewu\u00dft und auf Befehl seiner Vorgesetzten erschien er mit diesem Wissen am Titicacasee. Pater Henri hatte jedoch den praktischen Geist der Pioniere. Es konnte ihm nicht entgehen, da\u00df die Indianer lustig sind, aufgeschlossen und immer bereit zu lernen, da\u00df sie flei\u00dfig sind \u2013 und nur arm, weil die Wei\u00dfen ihnen alles genommen haben. Zehn Familien (Anm.:so im Orginal) <\/em>besitzen vielleicht noch zwei Hektar Land, und die gar nichts mehr haben, m\u00fcssen sich bei den Wei\u00dfen oder Mischlingen verdingen.<\/p> Der Titicacasee war der heilige See der Inkas, aus denen ihr Gott, die Sonne, t\u00e4glich aufstieg. Heute sind die Nachkommen der Inkas Christen. Aber ihre Frauen lehnen die Moral der Eroberer ab<\/em><\/figcaption><\/figure><\/div>Aber Pater Henri ist nicht nur ein harter Junge aus Chicago. Er ist Christ und Priester und hat genau gelernt, was Gott gef\u00e4llig ist. Die Moral der Aymaras \u2013 so hei\u00dfen die Indianer am S\u00fcdufer des Sees \u2013 scheint es offenbar nicht zu sein \u201eSie ist so tief\u201c, sagt er und f\u00fchrt beide H\u00e4nde zu Boden. Er sieht aus wie ein Cowboy, der nach seinem Hut sucht. Ich versuche, ihm in den Sattel zu helfen. \u201eDie leben eben noch nach ihren alten Sitten.\u201c \u201eDie Indianer sind getauft\u201c, meint er und zerst\u00f6rt mein Argument mit ein paar Tropfen Wasser. \u201eGehen sie zur Kirche?\u201c \u201eJa. Sogar regelm\u00e4\u00dfig. Aber die Frauen\u2026\u201c Er windet sich auf seinem Stuhl. Ich verstehe, da\u00df es Dinge gibt, \u00fcber die ein Priester nicht gern spricht, besonders vor meiner Kollegin Claude Deffarge, und will ihm aus der Klemme helfen. \u201eSex\u201c, sage ich \u2013 aber er f\u00e4hrt fort: \u201eIn der Beziehung ist der Teufel los. Davon sp\u00e4ter. Was ich sagen wollte, ist viel schlimmer. Wenn ich in die Kirche komme, halten die Frauen ihre H\u00e4nde \u00fcber die Augen ihrer Kinder. Gegen den b\u00f6sen Blick. Gegen meinen Blick, mitten im Hause Gottes.\u201c Ich erz\u00e4hle ihm, da\u00df er mir gestern genauso ergangen ist. Vor mir hatte der See seine blaue Farbe verloren. Hinter mir sprangen Schulm\u00e4dchen wie kleine Teufel herum. Am Rande des Weges sa\u00df eine Frau mit einem Kind auf dem Arm. Ich beugte mich, um unter den winzigen Homburger zu schauen, der auf seinem Kopf schaukelte. Aber die Frau legte ihre Hand \u00fcber die Augen ihres Sohnes. \u201eIch will ihn nur bewundern\u201c, sage ich. \u201eSie sind Gringo\u201c, murmelt die Frau. Sie h\u00e4lt mich f\u00fcr einen Amerikaner. \u201eIch komme aus Europa.\u201c \u2013 Das kennt sie nicht. \u2013 \u201e\u00dcbers gro\u00dfe Meer, wo die Spanier herkamen.\u201c \u2013 Das erweckt Erinnerungen. \u201eAh, Sie wohnen beim Papst.\u201c \u201eDas ist ein heiliger Mann\u201c; sagt sie und l\u00e4\u00dft mich in die Augen ihres Sohnes blicken. \u2013 \u201eIch dachte, Sie seien ein Gringo.\u201c Pater Henri will es nicht in den Kopf, da\u00df ein Nachbar des Papstes willkommener sein kann als ein Diener des Herrn. \u201eDas beweist nur, wie primitiv diese Leute sind. Die glauben ich k\u00f6nne den Kindern die Seele stehlen. Ich, ein Priester.\u201c \u201eEin Gringo. Darin liegt ein Unterschied\u201c, sage ich und bitte ihn, uns ein wenig mehr von den Frauen zu erz\u00e4hlen.<\/p>
Es hei\u00dft immer, die Indianer der Anden seien tr\u00e4ge, apathisch und verschlossen \u2013 ihre Kinder dumm und st\u00f6rrisch. Eine Meinung, die sich beim Umgang mit diesen Menschen als Vorurteil erweist<\/em><\/figcaption><\/figure><\/div>\u201eWir haben alles getan, um sie zu Menschen zu erziehen. Aber das Wort gen\u00fcgt nicht. Das gute Beispiel fehlt. Es gibt hier keine wei\u00dfen Frauen, aus deren moralischem Lebenswandel die Indianer lernen k\u00f6nnen. Es ist eine Katastrophe: Jungfrauen gibt es keine. Das garantiere ich Ihnen. Alle M\u00e4dchen benehmen sich wie M\u00e4nner. Und niemand st\u00f6rt sich daran. Nat\u00fcrlich wimmelt es von unehelichen Kindern. Die bringen sie dann schamlos zur Taufe. Und die Eltern nehmen die Kinder fr\u00f6hlich auf.\u201c<\/p>
Mir scheinen diese Indianer vern\u00fcnftiger zu sein als alle wei\u00dfen Terroristen der Jungfr\u00e4ulichkeit, die ihre T\u00f6chter versto\u00dfen, wenn sie \u201eges\u00fcndigt\u201c haben. Was dabei herauskommt, haben wir in Brasilien gesehen.<\/p>
Pater Henri will mir nicht folgen. \u201eEs ist gegen die Moral\u201c, sagt er mit Nachdruck, als sei dies endg\u00fcltig. Ich bohre weiter: \u201eWelche Moral?\u201c \u201eUnsere \u2013 die christliche \u2013 die allgemein g\u00fcltige.\u201c<\/p>
Ich begreife nicht, warum man sie diesen Menschen aufzwingen will. Sie haben ihre eigene Moral. F\u00fcr die Indianer ist Sex nicht mit Schuld verkn\u00fcpft. Er ist auch nicht schmutzig oder das ausschlie\u00dfliche Privileg des Mannes. Was kann schlecht daran sein, wenn keiner der Beteiligten es als schlecht empfindet und die Jungfr\u00e4ulichkeit kein Fetisch ist? Sie haben Sex und Liebe getrennt. Nun sch\u00f6n. Hat man das in Europa vielleicht nicht getan? Die Indianer geben es offen zu \u2013 das ist der Hauptunterschied. De Liebe hat darunter nicht gelitten. Hier in den Bergen gibt es gro\u00dfe Passionen, und der einzige Grund zum Selbstmord ist Ungl\u00fcck in der Liebe.<\/p>
Wenn Pater Henri mir vorh\u00e4lt, da\u00df die unehelichen Kinder hungern m\u00fcssen, kann ich nur fragen: \u201eWer hungert hier nicht?\u201c<\/p>
Da\u00df sechs Millionen Indianer \u2013 mehr als die H\u00e4lfte der Bev\u00f6lkerung eines ganzen Landes \u2013 hungern und manchmal Erde fressen m\u00fcssen (auf dem Markt von Puno verkauft man Erde zum essen) ist entsetzlich. Aber h\u00e4ngt das von der \u201eMoral\u201c ab? Ist es nicht vielmehr die Schuld jener, die ihnen die \u00c4cker gestohlen habe und jetzt auch noch moralische Gleichschaltung anstreben?<\/p>
Nur eine blutige Revolution oder ein g\u00f6ttliches Wunder kann diesen Menschen helfen. Bis dahin jedoch scheint das wichtigsten Problem die Geburtenkontrolle zu sein. Mittel zur Empf\u00e4ngnisverh\u00fctung scheinen hier wichtiger als moralische Predigten. Abtreibungen sind h\u00e4ufig. Und wenn richtige Hungersnot droht, t\u00f6ten viele Frauen ihre Neugeborenen.<\/p>
Pater Henri ist nachdenklich geworden. \u201eSie haben recht\u201c, sagt er, \u201edie Geburtenkontrolle ist ein wichtiges Problem. Die Frauen versuchen, mehr dar\u00fcber zu erfahren. Aber das ist nicht unsere Aufgabe. Wir sind hier, um Gott zu dienen.\u201c<\/p>
Wir trennen uns als gute Freunde, und ich gehe auf die Suche nach den Menschen.<\/p>
Markttag in Chucuito: Vor einer Kirche, die von spanischen Eroberern gebaut wurde, bieten Frauen ihre Waren an. \u201eDie M\u00e4nner verstehen davon nichts\u201c, sagen sie<\/em><\/figcaption><\/figure><\/div>Die H\u00f6he zeichnet die Gesichter. Mein Kopf ist leicht, viel zu leicht, aber die F\u00fc\u00dfe sind langsam. Kein Kind ist auf der Stra\u00dfe.<\/p>
\u201eDie sind alle in der Schule\u201c, sagt ein junges Paar mit einem Lama, als ich danach frage. \u201eDie M\u00e4dchen auch?\u201c \u201eJa, mein Herr.\u201c \u2013 Der Mann hat l\u00e4cherlich kurze Beine und kaut Coca. Die Frau tr\u00e4gt die typische Tracht, die die Spanier fr\u00fcher einmal eingef\u00fchrt haben, und den unvermeidlichen Homburger aus braunem Filz. Sie ist fast noch ein M\u00e4dchen.<\/p>
\u201eHaben Sie auch die Schule besucht?\u201c frage ich sie. \u201eIch will nicht d\u00fcmmer sein als die M\u00e4nner.\u201c<\/p>
Das klingt sehr stolz. Die Kleine scheint zu wissen, was sie will. Sie sagt es frei heraus. Es hat sich herumgesprochen, da\u00df ich kein Gringo (Amerikaner) bin.<\/p>
\u201eIn Lima findet ein gescheites M\u00e4dchen keinen Mann. Da mi\u00dftrauen die M\u00e4nner klugen Frauen.\u201c<\/p>
Wenn ich von Dinosauriern gesprochen h\u00e4tte, w\u00e4ren die Unterkiefer auch nicht tiefer heruntergefallen.<\/p>
\u201eBei uns ist es umgekehrt\u201c, sagt der Mann. \u201eWer zur Schule gegangen ist, will eine Frau, die auch zur Schule gegangen ist. Sonst versteht man sich doch nicht.\u201c \u201eSprechen die Frauen in Lima denn nicht mit ihren M\u00e4nnern\u201c, will die kleine Dame wissen. \u201eSelten. Die M\u00e4nner sitzen in den Caf\u00e9s und reden \u00fcber die Frauen, und die Frauen sitzen zu Hause und tuscheln \u00fcber M\u00e4nner.\u201c Sie sch\u00fcttelt ungl\u00e4ubig den Kopf. Pl\u00f6tzlich leuchten ihre Augen. Der gesunde Menschenverstand geht mit ihr durch und sie sagt: \u201eDas ist verr\u00fcckt.\u201c Ich stimme ihr zu und frage, wie es hier ist. \u201eWir arbeiten zusammen, haben Kinder zusammen \u2013 wir machen alles zusammen.\u201c \u201eSeid ihr verheiratet?\u201c \u201eNur halb, mein Herr, das hei\u00dft, noch nicht ganz. Auf Versuch, wie wir hier sagen. Ich will schon. Aber Maria z\u00f6gert immer noch.\u201c So spricht er.<\/p>
Ich schau mir das kleine St\u00fcck Frau an, das vielleicht achtzehn ist und frei entscheidet, ob sie den Mann heiraten will, mit dem sie zusammen lebt und von dem sie schon ein Kind hat. Wenn ich ihren Homburger aufh\u00e4tte, w\u00fcrde ich ihn ehrfurchtsvoll ziehen.<\/p>
Mein Gott, bin ich den Ethnologen dankbar, die uns hierher geschickt haben. In eine Welt, in der Mann und Frau gleich sind und dieselbe Verantwortung tragen. Wo Tugend keine Heuchelei ist, um des Mannes Eitelkeit zu kitzeln und des Weibchens Wert zu steigern. Kinder sind kein Vorwand f\u00fcr weibliche Beschr\u00e4nkung. Jeder kann \u00fcber sich selbst entscheiden, und der Nachbar meckert nicht. Kein Wunder, da\u00df man hier nichts mit den Tabus des Pater Henri anfangen kann. Sollen sie so werden wie die Damen in Lima? Gott beh\u00fcte sie davor.<\/p>
F\u00fcr die 6 Millionen in Indianer ist schon ein St\u00fcck verdorrter der Erde ein k\u00f6nigliches Hochzeitsgeschenk<\/em><\/figcaption><\/figure><\/div>Ich laufe die Stra\u00dfen hinunter und schwinge meinen imagin\u00e4ren Homburger zu Ehren aller Damen der Aymaras. Die kurzbeinigen Frauen lachen. Die M\u00e4nner sch\u00fctteln den Kopf. Ein Jeep h\u00e4lt genau vor mir.<\/p>
\u201eWo kommen Sie her?\u201c fragt ein blonder Herr auf Englisch. \u201eAus Hamburg.\u201c Von der Reeperbahn?\u201c \u201eNein\u201c; sage ich etwas erstaunt, \u201eaus dem Pressehaus, das ist ein wenig weiter.\u201c \u201eAch, Sie sind der Verr\u00fcckte, der in alle D\u00f6rfern der Gegend hinter den Frauen herl\u00e4uft?\u201c \u201eDa k\u00f6nnen Sie sich vorstellen, da\u00df mir die Puste ausgeht.\u201c \u201eH\u00e4tten mich fragen sollen. Die machen\u2019s auch nicht anders. Doch. Die lachen dabei. Haha. Die finden das komisch. Aber sonst\u2026\u201c \u201eMohammed sagte schon: Frau ist Frau.\u201c \u201eGenau.\u201c<\/p>
Das erhebende Gef\u00fchl m\u00e4nnlicher Solidarit\u00e4t versucht vergebens, sich in meine Brust zu schleichen. Ich trete zur Seite. Er f\u00e4hrt vorbei. \u201eKommen sie mich besuchen\u201c, ruft er, bevor sein Wagen in einer Staubwolke verschwindet.<\/p>
An jeder Ecke des Dorfes sto\u00dfe ich mich an einer Kirche. Ich z\u00e4hle drei f\u00fcr sechshundert Einwohner. \u201eGlaubst du an Gott?\u201c frage ich Natalio, der uns seit zwei Tagen die Kameras tr\u00e4gt. \u201eJa, mein Herr. Und an die paccha mamma (Mutter Erde) nat\u00fcrlich, die uns ern\u00e4hrt.\u201c \u201eDeine Eltern sind Baptisten?\u201c \u201eJa, mein Herr, aber ich bin jetzt katholisch. Meine letzte Schule war katholisch. Vorher war ich Adventist des Siebenten Tages. Ich mu\u00dfte jedesmal mit der Schule auch meinen Glauben wechseln.\u201c \u201eNatalio\u201c, sage ich streng. \u201eDU bist ein Opportunist.\u201c \u201eNein, mein Herr. Ich bin Indio.\u201c \u201eDu wirst in die H\u00f6lle kommen.\u201c \u201eNein, mein Herr, in die paccha mamma,\u201c Mit diesem Glaubensbekenntnis scheint Natalio unseren theologischen Ausflug beenden zu wollen. Er kehrt der Kirche den R\u00fccken und l\u00e4uft auf ein Haus zu, an dem eine dicke Spinne, vom Strohdach h\u00e4ngend, genau in die T\u00fcr schaut. Ich folge ihren Blicken und entdecke ein Holzbett, zwei Hocker, vier Teller, ein Brett, das als Tisch dient, und drei T\u00f6pfe \u00fcber einem kleinen Herd. In einer Ecke sitzt ein M\u00e4dchen und sortiert Kartoffeln.<\/p>
Meine Frau\u201c, stellt Natalio vor. Im Nu haben wir drei Gl\u00e4ser mit hochgradigem Pisco on den H\u00e4nden, und ich f\u00fchle, da\u00df der Moment f\u00fcr einen Toast gekommen ist. \u201eAuf die Kinder\u201c, sage ich. \u201eWir haben keine, und wir werden auch keine bekommen.\u201c Habe ich ungewollt einen makabren Scherz gemacht? Das strahlende L\u00e4cheln der Frau gibt mir die Fassung zur\u00fcck. \u201eIch habe einen goldenen Bauch\u201c, sagt sie stolz. Ich glaube nicht recht zu h\u00f6ren. \u201eSie sind gl\u00fccklich, unfruchtbar zu sein?\u201c Sie nickt, und beide erkl\u00e4ren, da\u00df die meisten Frauen w\u00fcnschen, steril zu sein. Man hat doch nicht genug Geld, um die Kinder richtig zu ern\u00e4hren. Und es ist nicht besser, lieben zu k\u00f6nnen, ohne f\u00fcrchten zu m\u00fcssen, Unschuldige zum Hunger zu verurteilen? Mein Einwand, da\u00df in den meisten zivilisierten Gegenden der Welt die Unfruchtbarkeit ein Scheidungsgrund sein kann, macht sie sprachlos. Als die Frau ihre Stimme wiedergefunden hat, murmelt sie nur: \u201eWir sind doch keine Hennen.\u201c Nein. Das habe ich hier oben gelernt. Frauen k\u00f6nnen mit den M\u00e4nnern auf gleichem Fu\u00df stehen. Auf allen Gebieten. Sie k\u00f6nnen das Geld der Familie verwalten, und kein Mann sch\u00e4mt sich, Str\u00fcmpfe oder H\u00f6schen zu stricken. Der Kampf der Geschlechter ist ihnen fremd. Sie k\u00e4mpfen gemeinsam gegen eine unbarmherzige Umwelt. Viele m\u00fcssen ihre Kinder weggeben, um sie vor dem Verhungern zu retten. Mischlinge oder Wei\u00dfe nehmen die S\u00e4uglinge auf und ern\u00e4hren sie unter der Bedingung, da\u00df sie nachher, von acht bis siebzehn Jahren, kostenlos Dienste leisten. \u201eMeine Schwester sucht eine Familie f\u00fcr ihr Kind\u201c, sagt Natalio. \u201eKennen Sie niemand in Lima?\u201c \u201eIch kenne eine elegante Dame\u201c, sage ich, \u201edie aber sucht ein paar Dienstm\u00e4dchen mit starken Armen.\u201c<\/p>","protected":false},"excerpt":{"rendered":"
Stern, Heft 45, 8. November 1964 Peru gilt in S\u00fcdamerika als das Paradies der Frauen und die H\u00f6lle der M\u00e4nner. In Lima hat die List der Frauen den Hahnenstolz der Herren besiegt und sich untergeordnet. Die Indianerinnen brauchen ihre Macht nicht zu erschleichen. Bei den Erben der Inkas haben Mann und Frau gleiche Rechte \u201eWer…<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":61091,"parent":54141,"menu_order":5,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":{"_seopress_robots_primary_cat":"","_seopress_titles_title":"","_seopress_titles_desc":"","_seopress_robots_index":"","footnotes":""},"categories":[],"tags":[],"class_list":["post-61114","page","type-page","status-publish","has-post-thumbnail","hentry","entry","has-media"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/61114"}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/types\/page"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=61114"}],"version-history":[{"count":5,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/61114\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":63021,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/61114\/revisions\/63021"}],"up":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/54141"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media\/61091"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=61114"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=61114"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=61114"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}