{"id":61996,"date":"2020-03-19T20:04:00","date_gmt":"2020-03-19T19:04:00","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=61996"},"modified":"2020-03-19T20:04:02","modified_gmt":"2020-03-19T19:04:02","slug":"moderne-vielweiberei","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/die-frauen-dieser-welt\/moderne-vielweiberei\/","title":{"rendered":"Moderne Vielweiberei"},"content":{"rendered":"
Stern,<\/em> Heft 46, 15. November 1964<\/p> Den ersten Fu\u00dftritt versp\u00fcre ich an der linken Wade. Der zweite sitzt in der rechten Kniekehle. Der dritte sollte meinen Hintern erreichen, aber der eifrige Treter hat zu hoch hinausgewollt. Seine Beine sind zu kurz. Er hat das Gleichgewicht verloren und liegt am Boden. Als ich ihn am Kragen hochheben will, bei\u00dft er mir kr\u00e4ftig in die Hand und rennt davon.
\u201eHijo de Puta\u201c, schreit er aus vollem Halse. \u201eHurensohn\u201c, und er rettet sich stolz in die R\u00f6cke seiner Mutter, die nicht weit entfernt auf einer Parkbank sitzt.
Die Frau klemmt ihn sch\u00fctzen zwischen ihre Beine. Ihr Busen der von einem leichten Pullover nur ungen\u00fcgend gest\u00fcrzt sich gro\u00dfz\u00fcgig ausbreitet, dient dem Kleinen als Schild. Er sp\u00e4ht dahinter hervor und streckt mir die Zunge heraus.
Neben der Mutter sind zwei M\u00e4dchen von ungef\u00e4hr zehn und zw\u00f6lf Jahren mit einer Bonbont\u00fcte besch\u00e4ftigt. Der Junge schl\u00e4gt pl\u00f6tzlich dagegen, und die T\u00fcte zerplatzt im Gesicht des \u00e4lteren M\u00e4dchens. W\u00e4hrend die beiden Schwestern sich b\u00fccken, gibt er der j\u00fcngeren einen Fu\u00dftritt und st\u00fcrmt davon. Die M\u00e4dchen haben Tr\u00e4nen in den Augen. Die Bonbons liegen in einer schmutzigen Wasserlache unter der Parkbank.
\u201eDie kann man nicht mehr essen\u201c, stellt die eine traurig fest.
\u201eIch hasse Jos\u00e9\u201c, jammerte die andere. \u201eWenn doch nur Papa \u00f6fter zu Hause w\u00e4re, dann \u2026\u201c
Sie kommt nicht weiter. Eine Ohrfeige schlie\u00dft ihr den Mund.
\u201eDisgraciada\u201c \u2013 Ungl\u00fcckliche, seit wann kritisiert man seinen Vater?\u201c sagt die Frau und gibt ihren Worten mit einer zweiten Ohrfeige Nachdruck. Die j\u00fcngere fischt nach den Bonbons.
\u201eSie sind alle na\u00df\u201c, klagt sie. \u201eJos\u00e9 ist gemein.\u201c
\u201eDer ist ein Junge\u201c, sagt die Mutter mit unverkennbarem Stolz, \u201eein richtiger \u2019macho\u2019\u201c (typisch spanische Ausdruck f\u00fcr einen echten Mann).
Ich bin von der Szene so fasziniert, da\u00df ich den \u201emacho\u201c aus den Augen gelassen habe. Ein warmes Gef\u00fchl am rechten Bein bringt ihn sozusagen strahlartig in Erinnerung. Er steht breitbeinig hinter mir und pinkelt gegen meine Hose.
\u201eHijo de Puta\u201c, sagt er leise. \u201eGringo\u201c (Schimpfwort f\u00fcr Amerikaner), und will wieder ausrei\u00dfen.
Diesmal erwische ich ihn und gebe ihm ein paar schallende Ohrfeigen.
Ein br\u00fcllender Stier h\u00e4tte kaum mehr Aufregung verursachen k\u00f6nnen, als der schreiende Junge. Er w\u00e4lzt sich auf dem Boden. Hab\u2019 ich zu stark zugeschlagen? Die Schwestern sind bei ihm. Er tritt mit F\u00fc\u00dfen nach ihnen. Ich beruhige mich. Jetzt kommt auch die Mutter keuchend heran. Als sie ihrem Sohn gut zureden will, spuckt er ihr ins Gesicht.
\u201eGeh weg, ich will Papa\u201c, schreit er. Die Schwestern werden immer noch getreten. Die Mutter wendet sich gegen mich: \u201eSie Feigling. Sie haben meinen Sohn geschlagen.\u201c
\u201eIch wei\u00df. Er hat es verdient.\u201c
\u201eSie haben Pr\u00fcgel verdient. Sie.\u201c
\u201eAber liebe Frau \u2026\u201c
\u201eIch bin nicht ihre \u201aliebe Frau\u2018. Ich bin eine Mexikanerin. Und das hier \u2026\u201c
\u201eIst ein ungezogener Bursche.\u201c
\u201eEin mexikanischer Junge. Sie haben wohl was gegen Mexiko. Sie Gringo, Sie \u2026\u201c
Die Begriffe verwirren sich. Jetzt bin ich schon ein Feind Mexikos, weil ich einen Jungen geohrfeigt habe, der mich getreten, gebissen und bepinkelt hat. M\u00e4nner und Frauen kommen drohend n\u00e4her. Zum Gl\u00fcck hat einer die Geschehnisse verfolgt. Es sei alles halb so schlimm, meint er, die Mutter solle sich beruhigen.
\u201eGibt es denn keinen Mann hier, der eine Mexikanerin gegen einen Gringo verteidigt?\u201c jammert sie. \u201eSeid ihr alle Weiber?\u201c
Das h\u00e4tte sie nicht sagen d\u00fcrfen. Vier M\u00e4nner treten wie ein Mann zwei Schritte vor und blickten sie drohend an.
\u201eSoll ich dir beweisen, da\u00df ich ein Mann bin?\u201c fragt der erste.
\u201eOder ich?\u201c provoziert der zweite.
\u201eUnd was meinst du, was ich kann\u201c, \u00fcber bietet der dritte.
\u201eOder ich vielleicht?\u201c beendet der vierte den kurzen, unmi\u00dfverst\u00e4ndlichen Hinweis auf den fundamentalen Unterschied zwischen Mann und Frau.
Damit ist die Diskussion beendet. Die M\u00e4nner haben die Ordnung wiederhergestellt. Sie haben drohend ihre Zepter geschwungen, um der Frau wieder einmal zu zeigen wer Herr und Meister ist. Keine Gelegenheit darf verpasst werden, es mit Worten und Gesten zu zeigen.<\/p>