{"id":62022,"date":"2020-07-30T14:15:21","date_gmt":"2020-07-30T12:15:21","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=62022"},"modified":"2022-08-03T15:09:36","modified_gmt":"2022-08-03T13:09:36","slug":"zurueck-zu-kueche-und-kind-usa-1964","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/1-die-frauen-dieser-welt\/zurueck-zu-kueche-und-kind-usa-1964\/","title":{"rendered":"Zur\u00fcck zu K\u00fcche und Kind (USA)"},"content":{"rendered":"
Stern<\/em>, Heft 49, 6. Dezember 1964 <\/p>
Es ist drei Uhr in Chicago. Ich bin p\u00fcnktlich. Helen hat die T\u00fcr ihrer Wohnung aufgelassen, und ich bin einfach eingetreten. Fr\u00fchmorgens hatte sie mich angerufen, um unsere Verabredung auf den Nachmittag zu verschieben: \u201eIch mu\u00df zum Psychiater. Es geht um meine Zukunft. Sei nicht b\u00f6se.“
Ich hatte jedoch nicht geglaubt, sie in diesem Zustand vorzufinden. Sie h\u00e4ngt zwischen zwei St\u00fchlen. Feine schwarze Streifen um Wangen und Augen zeigen, da\u00df sie geweint hat. Selbst die Lider sind geschwollen. Sie tr\u00e4gt eine enganliegende Hose aus Lastex und ein offenes gelbes Hemd, das durch einen Knoten auf dem Bauch zusammengehalten wird. Das l\u00e4\u00dft sehr viel Platz zum Tr\u00e4umen.
\u201eNoch sieben Sekunden“, sagt sie und z\u00e4hlt langsam von sechs bis null. Dann l\u00e4\u00dft sie sich einfach zu Boden fallen.
\u201cSo, jetzt geht es mir besser. Mit dieser \u00dcbung finde ich meistens die Beherrschung wieder. Und die brauche ich. Denn alle behaupten, ich sei nicht normal. Auch der Psychiater.“
Sie f\u00e4ngt wieder an zu weinen. Ich will sie beruhigen, aber Helen wehrt ab: \u201eLa\u00df nur, das sind jetzt gute Tr\u00e4nen. H\u00f6r lieber zu. Vielleicht kannst du mir helfen.“
Und Helen erz\u00e4hlt. Auf dem Boden hockend wie ein kleines Kind, spricht sie von ihrem gro\u00dfen Traum, Biologin zu werden. Zun\u00e4chst hatten ihre Eltern nichts dagegen. Im Gegenteil: Sie waren gl\u00fccklich, da\u00df ihre Tochter studierte, denn so konnte sie leicht ,,M\u00e4nner mit Zukunft\u201c kennenlernen.
Es ging auch alles gut, bis ihre Leidenschaft f\u00fcr die Biologie alles andere zu \u00fcberschatten drohte. Die \u00fcblichen Backfischsorgen der Freundinnen schienen ihr pl\u00f6tzlich kindisch zu sein. Sie k\u00fcmmerte sich kaum noch um die letzte Mode und f\u00fchlte sich nicht gedem\u00fctigt, wenn sie am Wochenende keinen \u201eBoy friend“ hatte. Sie war vielmehr gl\u00fccklich, ungest\u00f6rt \u00fcber ihrem Mikroskop zu sitzen oder gelehrte B\u00fccher zu w\u00e4lzen.
Dann kam aber doch einer, und sie gingen \u201esteady“ (fest). Es sah nach Liebe aus bis zu jenem Tag, an dem er sagte:
\u201eHelen, du solltest versuchen, fraulicher zu sein. Tr\u00e4umst du denn nie von unserer zuk\u00fcnftigen Wohnung, von Kindern? Glaubst du, es sei normal f\u00fcr ein junges M\u00e4dchen, nur zu studieren und an den Beruf zu denken? Das ist Sache der M\u00e4nner.“
\u201eIch denke auch an dich\u201c, sagte sie. \u201eIch liebe dich, und ich liebe meinen Beruf. Ist das nicht wundervoll? Mu\u00df man denn gleich an Kinder denken?“
Sie hatte gelacht, aber er war sehr ernst geblieben. Und Helen f\u00fchlte sich pl\u00f6tzlich wie vor einem Gericht. Da sa\u00dfen sie alle, die sie anklagten, eine verbohrte Phantastin zu sein: ihre Eltern, die Freundinnen und er, Harry, den sie liebte. Alle, die t\u00e4glich versuchten, sie aus ihrer Neurose, wie sie es nannten, auf den Boden der Wirklichkeit zur\u00fcckzuf\u00fchren. Harrys Augen verlangten deutlich eine Antwort auf die Frage: \u201eBist du denn nicht normal?\u201c
Und Helen glaubte, nur auf eine Art beweisen zu k\u00f6nnen, da\u00df sie ebenso weiblich war wie all diese P\u00fcppchen, die nur M\u00e4nner im Kopf hatten, und Hochzeitskleider, Kinder und silberne L\u00f6ffel. Sie tat, was sie sich eigentlich schon immer schon gew\u00fcnscht hatte: Sie ging \u201eall the way\u201c, wie man hier sagt, \u201eden ganzen Weg\u201c, anstatt bei den \u00fcblichen Z\u00e4rtlichkeiten wie \u201enecking\u201c und \u201epetting\u201c haltzumachen.<\/p>