{"id":62776,"date":"2020-07-19T00:15:16","date_gmt":"2020-07-18T22:15:16","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=62776"},"modified":"2022-08-03T15:12:28","modified_gmt":"2022-08-03T13:12:28","slug":"die-verratenen-frauen","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/1-die-frauen-dieser-welt\/die-verratenen-frauen\/","title":{"rendered":"Die verratenen Frauen (Algerien)"},"content":{"rendered":"
Stern, <\/em>Heft 48, 28. November 1965<\/p> Algerien ist seit drei Jahren unabh\u00e4ngig. Nach den langen, blutigen K\u00e4mpfen war der Siegestaumel gro\u00df. Auch f\u00fcr die Frau schien die Zeit der Freiheit angebrochen zu sein. Sie hatte mitgek\u00e4mpft. Viele waren gefoltert worden, vergewaltigt, umgebracht. Die Freiheitsk\u00e4mpferinnen wurden als Heldinnen der Revolution gefeiert. Aber die Ern\u00fcchterung lie\u00df nicht lange auf sich warten. Im Namen des Nationalismus stecken die neuen Herren ihre Frauen wieder hinter Schleier und Gitter. Der Kampf geht weiter. Jetzt gegen die eigenen M\u00e4nner. Viele junge M\u00e4dchen gehen freiwillig in den Tod. Sie wollen lieber sterben als weiterhin in Unfreiheit leben. <\/strong><\/p> Supermarkt in Algier: Die Verk\u00e4uferinnen stehen paarweise und versch\u00fcchtert hinter den Ladentischen. Es ist unm\u00f6glich zu sagen, ob sie h\u00fcbsch sind oder h\u00e4\u00dflich. Unf\u00f6rmige Blusen. Ein wenig Furcht in den Augen. So sehen viele Mohammedanerinnen aus, wenn sie den Schleier abgelegt haben: wie eben ausgeschl\u00fcpfte Schmetterlinge, die nichts von ihren Fl\u00fcgeln wissen und sich noch wie Raupen bewegen.<\/p> Um so geschmeidiger gleiten junge M\u00e4nner durch das Labyrinth der Auslagen. Kunden? Ja. Aber sie kaufen nichts. Sie haben ihre H\u00e4nde tief in den Taschen und werfen verstohlene Blicke auf die Verk\u00e4uferinnen. Sobald eine von ihnen allein ist, pirschen sie sich heran und stecken ihr kleine Zettel zu. Liebeserkl\u00e4rungen wahrscheinlich oder Telefonnummern.<\/p> Pl\u00f6tzlich liegen zwei Jungen am Boden. Sie schlagen sich gemein. Sie treten und bei\u00dfen. Brutal. Zwei M\u00e4dchen von kaum vierzehn Jahren fl\u00fcchten in eine Ecke. Ver\u00e4ngstigt schmiegen sie sich aneinander.<\/p> Nur mit M\u00fche gelingt es einigen Angestellten, die K\u00e4mpfenden zu trennen. Sie schreien, sto\u00dfen wilde Drohungen aus. Der Abteilungsleiter sagt ein paar Worte. Einer der beiden Jungen gibt hastig eine Erkl\u00e4rung, dann rei\u00dft er eines der zitternden M\u00e4dchen an sich und zerrt sie aus dem Gesch\u00e4ft hinaus. Sein Gegner packt die andere Kleine und Schleppt sie zum entgegengesetzten Ausgang.<\/p> Ohne Kommentar kehren die Kunden und Angestellten zu den Ladentischen zur\u00fcck Einer sch\u00fcttelt l\u00e4chelnd den Kopf. Claude Deffarge fragt ihn, was da eben passiert sei.
\u201eOh, Madame, den Rummel haben wir alle Tage.\u201c
\u201eDiebstahl?\u201c
\u201eNein, Madame. Junge M\u00e4dchen werden beim Einkauf von ihren Br\u00fcdern begleitet. Die passen auf. Verstehen Sie?\u201c
Claude sch\u00fcttelt den Kopf, denn sie hat nichts Ungew\u00f6hnliches bemerkt.
\u201eOh, das geht so schnell.\u201c, erkl\u00e4rt der Angestellte. \u201eDer Gr\u00f6\u00dfere mit dem gelben Pullover hat die Augen der Schwester des Kleinen gesucht und ein L\u00e4cheln erhascht. Das hat ihr Bruder bemerkt. Jetzt mu\u00dfte er was tun. Er schimpfte die Schwester des anderen eine Dirne. Nun mu\u00dfte der etwas unternehmen, denn er konnte doch nicht unt\u00e4tig zusehen, wie der Name seiner Schwester besudelt wurde. Das ist nun mal so. Wir m\u00fcssen nur immer aufpassen, da\u00df unsere Einrichtung heil bleibt und die anderen M\u00e4nner sich nicht mittlerweile an unsere Verk\u00e4uferinnen ranmachen.\u201c<\/p>