{"id":62776,"date":"2020-07-19T00:15:16","date_gmt":"2020-07-18T22:15:16","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=62776"},"modified":"2022-08-03T15:12:28","modified_gmt":"2022-08-03T13:12:28","slug":"die-verratenen-frauen","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/1-die-frauen-dieser-welt\/die-verratenen-frauen\/","title":{"rendered":"Die verratenen Frauen (Algerien)"},"content":{"rendered":"

Stern, <\/em>Heft 48, 28. November 1965<\/p>

Algerien ist seit drei Jahren unabh\u00e4ngig. Nach den langen, blutigen K\u00e4mpfen war der Siegestaumel gro\u00df. Auch f\u00fcr die Frau schien die Zeit der Freiheit angebrochen zu sein. Sie hatte mitgek\u00e4mpft. Viele waren gefoltert worden, vergewaltigt, umgebracht. Die Freiheitsk\u00e4mpferinnen wurden als Heldinnen der Revolution gefeiert. Aber die Ern\u00fcchterung lie\u00df nicht lange auf sich warten. Im Namen des Nationalismus stecken die neuen Herren ihre Frauen wieder hinter Schleier und Gitter. Der Kampf geht weiter. Jetzt gegen die eigenen M\u00e4nner. Viele junge M\u00e4dchen gehen freiwillig in den Tod. Sie wollen lieber sterben als weiterhin in Unfreiheit leben. <\/strong><\/p>

Supermarkt in Algier: Die Verk\u00e4uferinnen stehen paarweise und versch\u00fcchtert hinter den Ladentischen. Es ist unm\u00f6glich zu sagen, ob sie h\u00fcbsch sind oder h\u00e4\u00dflich. Unf\u00f6rmige Blusen. Ein wenig Furcht in den Augen. So sehen viele Mohammedanerinnen aus, wenn sie den Schleier abgelegt haben: wie eben ausgeschl\u00fcpfte Schmetterlinge, die nichts von ihren Fl\u00fcgeln wissen und sich noch wie Raupen bewegen.<\/p>

Um so geschmeidiger gleiten junge M\u00e4nner durch das Labyrinth der Auslagen. Kunden? Ja. Aber sie kaufen nichts. Sie haben ihre H\u00e4nde tief in den Taschen und werfen verstohlene Blicke auf die Verk\u00e4uferinnen. Sobald eine von ihnen allein ist, pirschen sie sich heran und stecken ihr kleine Zettel zu. Liebeserkl\u00e4rungen wahrscheinlich oder Telefonnummern.<\/p>

Pl\u00f6tzlich liegen zwei Jungen am Boden. Sie schlagen sich gemein. Sie treten und bei\u00dfen. Brutal. Zwei M\u00e4dchen von kaum vierzehn Jahren fl\u00fcchten in eine Ecke. Ver\u00e4ngstigt schmiegen sie sich aneinander.<\/p>

Nur mit M\u00fche gelingt es einigen Angestellten, die K\u00e4mpfenden zu trennen. Sie schreien, sto\u00dfen wilde Drohungen aus. Der Abteilungsleiter sagt ein paar Worte. Einer der beiden Jungen gibt hastig eine Erkl\u00e4rung, dann rei\u00dft er eines der zitternden M\u00e4dchen an sich und zerrt sie aus dem Gesch\u00e4ft hinaus. Sein Gegner packt die andere Kleine und Schleppt sie zum entgegengesetzten Ausgang.<\/p>

Ohne Kommentar kehren die Kunden und Angestellten zu den Ladentischen zur\u00fcck Einer sch\u00fcttelt l\u00e4chelnd den Kopf. Claude Deffarge fragt ihn, was da eben passiert sei.
\u201eOh, Madame, den Rummel haben wir alle Tage.\u201c
\u201eDiebstahl?\u201c
\u201eNein, Madame. Junge M\u00e4dchen werden beim Einkauf von ihren Br\u00fcdern begleitet. Die passen auf. Verstehen Sie?\u201c
Claude sch\u00fcttelt den Kopf, denn sie hat nichts Ungew\u00f6hnliches bemerkt.
\u201eOh, das geht so schnell.\u201c, erkl\u00e4rt der Angestellte. \u201eDer Gr\u00f6\u00dfere mit dem gelben Pullover hat die Augen der Schwester des Kleinen gesucht und ein L\u00e4cheln erhascht. Das hat ihr Bruder bemerkt. Jetzt mu\u00dfte er was tun. Er schimpfte die Schwester des anderen eine Dirne. Nun mu\u00dfte der etwas unternehmen, denn er konnte doch nicht unt\u00e4tig zusehen, wie der Name seiner Schwester besudelt wurde. Das ist nun mal so. Wir m\u00fcssen nur immer aufpassen, da\u00df unsere Einrichtung heil bleibt und die anderen M\u00e4nner sich nicht mittlerweile an unsere Verk\u00e4uferinnen ranmachen.\u201c<\/p>

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Claude geht auf die Stra\u00dfe. Gegen\u00fcber liegt ein Caf\u00e9. Auf der Terrasse sitzen an die f\u00fcnfzig M\u00e4nner und eine einzige Frau. In anderen mohammedanischen L\u00e4ndern ist man an diese trostlosen M\u00e4nner-Terrassen gew\u00f6hnt. Die Frau ist ausgesto\u00dfen. Aber in Algerien? Nach der Revolution? In einem Staat, der sich sozialistisch nennt?<\/p>

Selbst das Stra\u00dfenbild wird hier noch vom Schleier beherrscht. Einige Frauen gehen vorbei. Wei\u00df verschleiert, mit gestickten Taschent\u00fcchern vor dem Mund. Claude hebt die Kamera.<\/p>

Ein M\u00e4nnerkopf f\u00fcllt den ganzen Sucher aus und versperrt den Blick auf die Frauen. \u201eAllein?\u201c fragt er. \u201eWie w\u00e4r\u00b4s mit einem Kaffee, Madame \u2013 und ein wenig Gesellschaft?\u201c
\u201eNein, danke.\u201c
\u201eDu suchst doch sicher nichts anderes!\u201c
\u201eWas? Kaffee?\u201c
\u201eNein. M\u00e4nner\u2026\u201c<\/p>

Claude dreht sich w\u00fctend um. Sie ist eingekreist. Selbst mit einem Superweitwinkel k\u00f6nnte sie diese grinsenden Gesichter nicht alle auf ein Negativ bekommen. Und wenn sie es versuchen w\u00fcrde, g\u00e4be es wohl eine gute Gelegenheit, \u201ehandgreiflich\u201c zu werden.<\/p>

Diese Szene wiederholt sich noch mehrmals am Tag. Sicherlich ist Claudes Auftreten zum Teil eine Erkl\u00e4rung f\u00fcr die Aggressivit\u00e4t der M\u00e4nner. Mit ihren drei Kameras um den Hals, ihrer Hose und der Lederjacke verk\u00f6rpert sie genau das, was man hier am meisten zu hassen scheint: die unabh\u00e4ngige, berufst\u00e4tige Frau.<\/p>

Den Abend verbringt Claude bei einer befreundeten Familie. Der Mann ist Frauenarzt. Sie will ihn ausfragen.<\/p>


\u201eIch m\u00f6chte den Beruf wechseln\u201c, sagt er, und es klingt, als sei er lebensm\u00fcde. \u201eT\u00e4glich empfange ich ebenso viele M\u00e4nner wie Frauen. Und wei\u00dft du, was die M\u00e4nner von mir verlangen \u2013 und sogar bezahlen wollen? Zeugnisse, wissenschaftliche Beweis, da\u00df ihre Frauen bei der Hochzeit unber\u00fchrt waren. Das hei\u00dft: vor zwei Jahren, vor drei \u2013 oder vor zehn. Ich wei\u00df nur, da\u00df ich m\u00fcde bin, einfach fertig. Ich war Spanier. Algerier bin ich geworden, weil ich an die Revolution und den Sozialismus glaubte. Aber es ist immer das gleiche Lied: Man zieht begeistert in den Kampf, um einer neuen Welt zum Siege zu verhelfen. Und dann, wenn es endlich soweit zu sein scheint, \u00e4ndern sich nur die Herren, und alles bleibt beim alten. Ich habe die Nase voll!
\u201eHat der lange Krieg denn nicht die herk\u00f6mmliche Familienordnung ins Wanken gebracht?\u201c will Claude wissen. \u201eMan schrieb doch soviel dar\u00fcber: die radikalen Umsiedlungen. Die Beteiligung der Frau am Widerstand. Kampf, Tod und Verfolgung. All das soll das Alte begraben haben und es den jetzigen Machthabern leicht machen, eine neue Gesellschaft aufzubauen.\u201c
\u201eSchau dich doch um\u201c, antwortet er resigniert, \u201esieh sie dir an, die einstmals stolzen Freiheitsk\u00e4mpferinnen!\u201c<\/p>

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In Protestm\u00e4rschen fordern die jungen M\u00e4dchen volle Gleichberechtigung … <\/em><\/p>

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Zutritt zu allen Berufen und das Recht, ihre Ehepartner selbst zu w\u00e4hlen<\/em><\/p>

Claude versucht es. Trotz guter Empfehlungen ist es unm\u00f6glich, mit den meisten Algerierinnen ins Gespr\u00e4ch zu kommen. Ihre M\u00e4nner weigern sich \u2013 oder sind immer dabei. Zum Dialog bleiben nur die Lehrerinnen, \u00c4rztinnen, Studentinnen und Berufst\u00e4tigen. Eine hauchd\u00fcnne Schicht. Sobald Claude Fragen stellt, sprudeln Anklagen hervor.<\/p>

Eine Sekret\u00e4rin erz\u00e4hlt: \u201eWenn wir, statt fr\u00fch zu heiraten, arbeiten wollen, m\u00fcssen wir mit unseren Familien brechen. Unsere V\u00e4ter und Br\u00fcder verachten eine Frau, die allein auf die Stra\u00dfe geht und im Beruf mit anderen M\u00e4nnern in Ber\u00fchrung kommt.\u201c<\/p>

\u201eWir finden keine Zimmer\u201c , klagt eine Sozialhelferin. \u201eWenn eine Frau allein vorspricht, wird sie mit Schimpfworten davongejagt. \u201aWir sind anst\u00e4ndige Leute\u2018 hei\u00dft es. \u201aDirnen geh\u00f6ren auf die Stra\u00dfe!\u2018 Nur wenn wir uns mit mehreren zusammentun, haben wir manchmal Gl\u00fcck.\u201c<\/p>

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Die neuen Herren haben Algerien von den Franzosen befreit, aber nicht die Frauen von ihrem Schleier. Wenn die weiblichen Formen nicht versteckt sind, f\u00fchlt sich der Mann in seiner Ehre verletzt<\/em><\/figcaption><\/figure>

Claude besucht eine Lehrerin. Von ihr erf\u00e4hrt sie, da\u00df Sch\u00fclerinnen oft von einem Tag zum anderen nicht mehr zur Schule kommen. Wenn die Eltern dann um eine Erkl\u00e4rung gebeten werden, hei\u00dft es: \u201eIhr zuk\u00fcnftiger Mann hat verlangt, da\u00df sie sich nicht mehr zeigt.\u201c Und so endet f\u00fcr viele der Schulbesuch oder das Studium, das Leben au\u00dferhalb einer kleinen dunklen Kammer.<\/p>

Etwas liberalere Eltern verschleiern ihre T\u00f6chter, sobald sie einem Mann versprochen sind, schicken sie aber weiterhin zur Schule. Dann gibt es jedoch ein neues Problem: Die anderen Sch\u00fclerinnen sprechen nicht mehr mit der Kameradin, die sich von ihren Eltern \u201everschachern\u201c l\u00e4\u00dft. Sie, die modern sein wollen, meiden die \u201eVerr\u00e4terin\u201c. Und schon nach wenigen Tagen mu\u00df das verlobte M\u00e4dchen die Schule verlassen.<\/p>

\u201eAnstatt zu unterrichten\u201c, erz\u00e4hlt die Lehrerin weiter, \u201everbringen wir unsere Zeit damit, solche Konflikte zu schlichten. Ohne Erfolg. Meistens siegen die Eltern \u2013 oder das M\u00e4dchen bringt sich um.\u201c<\/p>

Eine Sechzehnj\u00e4hrige berichtet, da\u00df sie in einem Pensionat untergebracht ist, obwohl die elterliche Wohnung nur f\u00fcnfhundert Schritte entfernt liegt. \u201eWeil ich diese Strecke nie zur\u00fccklegen kann, ohne bel\u00e4stigt zu werden. Und ich habe auch keinen Bruder, der mich begleiten k\u00f6nnte.\u201c<\/p>

Claude trifft auch eine echte Widerstandsk\u00e4mpferin. Sie hei\u00dft Laila und war lange in franz\u00f6sischen Gef\u00e4ngnissen gesperrt. Damals k\u00e4mpfte sie f\u00fcr die Unabh\u00e4ngigkeit ihres Landes. Heute tritt sie ebenso mutig f\u00fcr die Freiheit der Frau ein. \u201eMeine Familie ha\u00dft mich\u201c, sagt Laila, \u201edenn ich habe ihren Ruf gesch\u00e4ndet, weil ich zusammen mit M\u00e4nnern gek\u00e4mpft habe. Dadurch sei die Zukunft meiner Schwestern verpfuscht. Sie finden keine M\u00e4nner, die den schlechten Ruf meiner Familie teilen wollen.\u201c<\/p>

Seit der Befreiung Algeriens arbeitet Laila in einer Bank. Dort freundete sie sich mit einem Franzosen an, der auch f\u00fcr Algerien gek\u00e4mpft hat. Eines Tages wurde sie von den Chefs ihrer fr\u00fcheren Widerstandsgruppe zur Rede gestellt: \u201eJetzt langt es aber! Du verkehrst mit einem Franzosen. Freiheitsk\u00e4mpferinnen d\u00fcrfen keine Dirnen werden. Verstanden!“
Leila verteidigt sich emp\u00f6rt. Sie verwies auf die Verdienste des jungen Franzosen. Ohne Erfolg. \u201eWenn du weiterhin Schande \u00fcber uns alle bringst\u201c, sagte man ihr, \u201edann zwingst du uns, radikalere Mittel anzuwenden.\u201c Und dazu die unmi\u00dfverst\u00e4ndliche Geste mit dem Finger vor der Gurgel.<\/p>

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Yasmina Chelali, ehemalige Freiheitsk\u00e4mpferin, besitzt einen Modesalon in Algier. Sie geh\u00f6rt zu den wenigen Frauen, denen es gelang, wirklich unabh\u00e4ngig zu werden<\/em><\/p><\/div><\/div>

Das ist nur eine kurze Sammlung von Anklagen, die \u00fcber hundert Seiten fortgef\u00fchrt werden k\u00f6nnte. Meistens baten die Frauen, Claude m\u00f6ge sie wieder besuchen, es sei so gut, einmal das Herz aussch\u00fctten zu k\u00f6nnen.<\/p>

Wenn Claude jedoch wiederkam, in B\u00fcros, Redaktionen, Parteib\u00fcros, dann bekam sie die redelustigen Frauen nicht mehr zu Gesicht. Irgendein Arbeitskollege versperrte den Weg: \u201eFr\u00e4ulein X ist krank. Kommen Sie doch in einem Monat mal wieder vorbei …\u201c<\/p>

Claude l\u00e4sst sich nicht entmutigen. Sie geht zur Universit\u00e4t. Dort, so glaubt sie, k\u00f6nnen die Frauen sicherlich offen ihre Meinung sagen. Sie hat sich nicht get\u00e4uscht. Wor\u00fcber aber wird leidenschaftlich diskutiert? \u2013 \u00dcber Selbstmord. Nicht \u00fcber einen, zwei oder zehn. Auch nicht \u00fcber die moralischen oder religi\u00f6sen Vorbehalte. Nein. \u00dcber eine regelrechte Selbstmord-Epidemie. Junge M\u00e4dchen trinken massenweise Chlor- und andere S\u00e4uren. Sie ziehen es vor, zu sterben, anstatt qualvoll zu leben. Sie bringen sich um, weil dies die einzige M\u00f6glichkeit ist, \u00fcber ihr eigenes Schicksal zu entscheiden.<\/p>

Hundertvierundsiebzig pro Jahr, behauptet die von M\u00e4nnern kontrollierte algerische Presse, die nach M\u00f6glichkeit alles vertuscht, was Kritik an der herk\u00f6mmlichen Mann-Frau-Beziehung \u00fcbt. -Zwei pro Tag, verbessern die Frauenvereine. Sie haben systematisch nachgeforscht und sind \u00fcberzeugt, da\u00df selbst diese Zahl nur die H\u00e4lfte erfa\u00dft; denn viele Eltern verheimlichen die Selbstmorde ihrer T\u00f6chter.<\/p>

Die letzte Selbstm\u00f6rderin, die bei Claudes Ankunft in Algerien im Sterben lag, wurde von einem kleinen revolution\u00e4ren Frauenklub zur \u201eHeldin\u201c ernannt. Die M\u00e4nner reagierten mit Tobsuchtanf\u00e4llen. \u2013 \u201eUnm\u00f6glich\u201c, riefen auch viele Frauen. \u201eWenn ihr den Selbstmord verherrlicht, werden sich morgen Tausende junger M\u00e4dchen umbringen.\u201c<\/p>

Sicherlich. Aber gerade das veranla\u00dft junge revolution\u00e4re Frauen, weiterzuk\u00e4mpfen und die Selbstm\u00f6rderinnen als M\u00e4rtyrerinnen dieses Kampfes zu feiern. \u201eSollen wir denn ewig gegen unseren Willen verheiratet werden? An M\u00e4nner, die wir nie gesehen haben? Im sozialistischen Algerien?\u201c<\/p>

Und sie klagen die M\u00e4nner an: \u201eWenn ihr schon die Achtung vor dem N\u00e4chsten und seiner Freiheit als gro\u00dfe Parolen st\u00e4ndig im Munde f\u00fchrt, dann m\u00fc\u00dft ihr ihm auch erlauben, seinen Lebensgef\u00e4hrten selbst zu w\u00e4hlen. Denn der \u201aN\u00e4chste\u2018, das sind wir \u2013 eure Schwestern! Auch wir sind Menschen! Es steht sogar in der Verfassung: Die Gleichheit von Frau und Mann mu\u00df verwirklicht werden\u2026!\u201c<\/p>

Aber ebensowenig, wie man mit einem Papagei diskutiert, fragt man eine Frau nach ihrer Meinung. Das ist in vielen Teilen der Welt so. Und in Algerien ganz besonders. Wie sollte ein dressiertes Wesen eigene Meinungen haben? Diese dummen Weiber sollen nur ihren Mund halten und den Ruf Algeriens nicht gef\u00e4hrden.<\/p>

Aber die \u201eSchwestern\u201c bohren weiter: \u201eIhr habt eure Unabh\u00e4ngigkeit. Jetzt sind wir an der Reihe. Als ihr Herren gegen die Franzosen Krieg f\u00fchrtet, da war jeder Gefallene ein Held und jeder Gefolterte ein Beispiel eurer Tapferkeit. Heute k\u00e4mpfen wir, und ihr seid die Folterknechte. Wenn euer Gewissen, eure Heuchelei, eure Eitelkeit nur durch Massenselbstmorde ins Wanken gebracht werden k\u00f6nnen, dann seid ihr schuld daran. Ihr seid die M\u00f6rder, genau wie einst die Franzosen eure M\u00f6rder waren. Und diese M\u00e4dchen sind unsere Heldinnen!\u201c<\/p>

\u201eIhr seid doch noch gar nicht reif f\u00fcr die Freiheit\u201c, wettern die Herren in allen Ecken des Landes. \u201eMal sch\u00f6n langsam. Schritt f\u00fcr Schritt. Werdet erst einmal erwachsen. Geduld, liebe Schwestern, Geduld!\u201c<\/p>

Geduld \u2013 Warten \u2013 Unreife. Alle diese Vertr\u00f6stungen und Argumente, die heute von den fr\u00fcheren Unabh\u00e4ngigkeitsk\u00e4mpfern gebraucht werden, stammen aus dem Arsenal ihrer ehemaligen Kolonialherren. Auch sie lie\u00dfen die Algerier in Elend und Unwissenheit aufwachsen und erkl\u00e4rten sie f\u00fcr unf\u00e4hig, ihr Schicksal selber in die Hand zu nehmen. \u201eWartet geduldig\u201c, hie\u00df es damals, \u201ebis wir die Stunde f\u00fcr gekommen halten!\u201c<\/p>

Aber dann glaubten die Algerier selber, da\u00df es endlich an der Zeit sei, sich der franz\u00f6sischen Vormundschaft zu entledigen. Sie griffen zum Gewehr und erzwangen ihre Unabh\u00e4ngigkeit. H\u00e4tten sie warten sollen, bis \u201ePapa Frankreich\u201c ihnen eines Tages ihr eigenes Land wie eine Art Reifezeugnis in die Hand gedr\u00fcckt h\u00e4tte?
\u201eNat\u00fcrlich nicht!\u201c ruft der Algerier entr\u00fcstet.<\/p>

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Heute gilt das Wahlrecht auch f\u00fcr Algerierinnen. Alte Frauen stimmen gleichg\u00fcltig nach dem Willen des Mannes. Jungen M\u00e4dchen gen\u00fcgt diese symbolische Freiheit nicht. Sie wollen ihre Zukunft selbst w\u00e4hlen d\u00fcrfen und am Aufbau der jungen Nation teilnehmen<\/em><\/figcaption><\/figure>


Hahnenstolz hinter religi\u00f6ser Maske<\/strong><\/p>

Ebenso entr\u00fcstet sind heute die Frauen, weil nun der algerische Mann \u201ePapa Frankreich\u201c spielt \u2013 das hei\u00dft: seine Privilegien im verha\u00dften kolonialistischen Stil verteidigt.<\/p>

Jetzt fordern die Frauen ihre \u201eEntkolonialisierung\u201c. Der Kampf ist hart. Immer wieder finden die M\u00e4nner neue fadenscheinige Argumente. Fr\u00fcher versteckten sie ihren Hahnenstolz hinter den religi\u00f6sen Geboten des Islams. Dann kamen ihnen die Franzosen gelegen: Die fremden Machthaber wurden f\u00fcr das unw\u00fcrdige Los der algerischen Frauen verantwortlich gemacht. Und heute wird an das \u201evaterl\u00e4ndische Gewissen\u201c appelliert. \u201eIhr wollt wie die Franz\u00f6sinnen aussehen?\u201c hei\u00dft es. \u201eWie die Frauen unserer fr\u00fcheren Kolonialherren! Haben wir daf\u00fcr gek\u00e4mpft? Sch\u00e4mt euch. Besinnt euch auf unsere Tradition!\u201c \u2013 Und jede Frau, die es nicht tut, gilt als Verr\u00e4terin. So einfach ist das.<\/p>

In der Universit\u00e4t ist ein Diskussionsabend \u00fcber die Situation der Frau angek\u00fcndigt. Aha, denkt Claude Deffarge, endlich einmal ein echter Dialog zwischen Mann und Frau.
Sie ist p\u00fcnktlich zur Stelle. Ebenso zwanzig Studenten, Jungen und M\u00e4dchen. Claude macht es sich bequem und wartet gespannt. Ein russischer Film wird gezeigt. \u201eDie Mutter\u201c, nach dem Buch von Maxim Gorki.
Nach der Vorstellung bleibt Claude sitzen. Die anderen stehen auf. Drei Studenten wollen wissen, worauf sie wartet.
\u201eAuf die Diskussion nat\u00fcrlich.\u201c
\u201eSchlu\u00df der Vorstellung\u201c, sagt einer.
\u201eWarum?\u201c
\u201eSie k\u00f6nnen doch nicht ernsthaft erwarten, da\u00df wir zwischen Jungen und M\u00e4dchen \u00fcber die Frau sprechen. Das g\u00e4be Mord und Totschlag!\u201c<\/p>

Wer ausgeht, ist ein Flittchen<\/strong><\/p>

\u201eUnd das ziemt sich auch nicht\u201c, meint ein anderer.

Jetzt bleibt noch der Studentenball. Dort mu\u00df es doch gemischt hergehen. Hotel Aletti. Ein riesiger Saal. Fast eine Bahnhofshalle. Etwa tausend M\u00e4nner und vielleicht drei\u00dfig M\u00e4dchen. Die Tanzfl\u00e4che ist trotzdem voll. Drei Paare. Der Rest nur M\u00e4nner. Alle tanzen. Es sieht entsetzlich aus.<\/p>

Einige Studenten umringen Claude. Sie mu\u00df erkl\u00e4ren, warum sie hier ist.
\u201eAch, Frauen ist Ihr Thema\u201c, sagt einer. \u201eUnsere sind alle h\u00e4\u00dflich und dumm und verlogen. Die k\u00f6nnen sich nicht einmal richtig anziehen.\u201c
\u201eDie kotzen uns an\u201c, sagt ein anderer. \u201eAlle.\u201c
\u201eHaben Sie Schwestern?\u201c will Claude wissen.
\u201eDrei.\u201c
\u201eDie h\u00e4tten Sie doch mitbringen k\u00f6nnen.\u201c
\u201eWas \u2013 die sollen Flittchen werden? Bei Ihnen stimmt wohl was nicht …\u201c<\/p>

Jetzt werden die Worte eindeutig unanst\u00e4ndig. Ein Neger rettet die Situation. \u201eDarf ich Sie einen Moment allein sprechen?\u201c fragt er Claude. Und nachdem die Konversation in Gang gekommen ist, meint er: \u201eDie behandeln uns hier auch nicht anders. Neger oder Frau, das ist f\u00fcr die das gleiche.<\/p>

Ich komme aus Angola\u201c, erz\u00e4hlt der junge Mann weiter. \u201eWir wollen unser Land von der portugiesischen Herrschaft befreien. F\u00fcr diesen Kampf werden wir hier ausgebildet. Vor allem sollen wir die Guerilla-Technik lernen, den Widerstandkampf in St\u00e4dten. Und dazu m\u00fcssen wir nat\u00fcrlich auch H\u00e4user betreten. Aber bis jetzt haben wir noch keins von innen gesehen. Es k\u00f6nnte uns ja eine Frau begegnen \u2013 und sogar ohne Schleier! \u201aDas ist unm\u00f6glich\u2018, sagen die Algerier. Das Haus w\u00fcrde in Verruf kommen, wenn die Nachbarn Neger reingehen sehen.\u2018 \u2013 Ja, so reden unsere \u201aalgerischen Br\u00fcder\u2018. Wir wollten bei ihnen ein wenig lernen. Das war ein sch\u00f6ner Traum. Was f\u00fcr eine Welt ist das nur?\u201c<\/p>

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Studentenball in Agier: tausend M\u00e4nner und drei\u00dfig M\u00e4dchen. Die Herren m\u00fcssen miteinander tanzen, weil sie jede Frau, die ausgeht, wie eine Dirne behandeln<\/em><\/figcaption><\/figure>

Ja, was f\u00fcr eine Welt ist das? Nor vor ein paar Jahren waren die Frauen gut genug, Bomben zu legen, Nachrichten durch franz\u00f6sische Linien zu schmuggeln und Verwundete zu pflegen. Sie hatten die \u201eEhre\u201c, sich foltern, vergewaltigen und umbringen zu lassen. Die \u00dcberlebenden wurden \u2013 wie heute die Kosmonauten \u2013 um die Welt geschickt und \u00fcberall stolz herumgezeigt: Entdeckerinnen neuer Welten, Heldinnen der Revolution. \u201eEs lebe das freie Algerien! V\u00f6lker Afrikas, folgt unserem Beispiel! \u2013 Und die Frauen? Kehrt um, marsch! Zur\u00fcck hinter Schleier und Gitter.<\/p>

Als noch gegen Frankreich gek\u00e4mpft wurde, habe ich f\u00fcr die Algerier Stellung bezogen und mich vielerorts unbeliebt gemacht. Soll mich das heute blind machen? Nein. Mu\u00df ich nicht zur Sache stehen? Nat\u00fcrlich. Selbstverst\u00e4ndlich: Die \u201eSache\u201c hei\u00dft n\u00e4mlich nicht Algerien, sondern Gerechtigkeit. Wenn sie heute von den ehemaligen Freiheitsk\u00e4mpfern mit F\u00fc\u00dfen getreten wird, dann stehe ich wieder auf seiten der Unterdr\u00fcckten: diesmal der armen algerischen Frauen. Und die Herren k\u00f6nnen mir gestohlen bleiben, die so schnell vergessen, was es hei\u00dft, geknechtet zu werden.<\/p>

Sie haben eine gewisse Entschuldigung: Der Hahnenkult mit all seinen Ausw\u00fcchsen von Bruderehre und Familienstolz auf Kosten der Frau ist ein Erbe aus fr\u00fchgeschichtlichen Zeiten, das keineswegs an die Religion des Islams gebunden ist. Es lastet auf allen V\u00f6lkern rund um das Mittelmeer. Der Sizilianer ist da nicht anders als der Algerier, und der Spanier ist kaum vom T\u00fcrken oder Griechen zu unterscheiden, wenn es um die Frau geht. Es sind alte Tabus vom \u201ejungfr\u00e4ulichen Blut\u201c, deren Ursprung zwar l\u00e4ngst vergessen ist, die aber verzerrt und entstellt noch heute als \u201eMoral\u201c gelten \u2013 sowohl in christlichen wie in mohammedanischen L\u00e4ndern. Die Schlacken einer l\u00e4ngst vergessenen, wahrscheinlich gemeinsamen Vergangenheit sind heute noch Alibis f\u00fcr das Verbrechen an der Frau.<\/p>

Und so ist es auch kein Zufall, da\u00df die Beteiligung der Frauen an der augenblicklichen Phase der algerischen Revolution immer geringer wird. Systematisch dr\u00e4ngen die M\u00e4nner sie aus den B\u00fcros, Kommissionen, Gewerkschaften. Auf dem Lande ist die \u201eS\u00e4uberungsaktion\u201c bereits abgeschlossen: Die Frau sitzt wieder im Haus.<\/p>

Als Claude Deffarge in Algerien diese Reportage machte, gab es w\u00f6chentlich nur noch eine Rundfunksendung, die sich an die weibliche Jugend richtete und ihre Probleme behandelte. Die jungen Redakteure baten Claude um ein Interview. Hatte sie doch die halbe Welt bereist, um die Probleme der Frau zu studieren. Ihre Worte wurden auf Tonband aufgenommen, um am gleichen Abend \u00fcbertragen zu werden. Sie sprach von Europa, vom Jemen, von Kuba, Brasilien, Afrika, Amerika.<\/p>

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\u201eGro\u00dfartig\u201c, riefen die Redakteure, \u201edas ist genau das, was wir brauchen: Vergleiche mit anderen L\u00e4ndern!\u201c<\/p>

Sie h\u00e4tten das Tonband besser verbrannt. Das Interview wurde von der Zensur verboten. Und nicht nur das: Die gesamte Sendung an die weibliche Jugend wurde aus \u201etechnischen Gr\u00fcnden\u201c auf unbestimmte Zeit vom Programm abgesetzt. Dabei hatte Claude eigentlich nur gesagt, da\u00df die meisten Revolutionen die Frauen nicht vergessen h\u00e4tten, und da\u00df es L\u00e4nder gibt, in denen die M\u00e4nner weniger selbstherrlich sind als in Algerien.<\/p>

Die Moral von der Geschichte? Je l\u00e4nger wir diese Reportage \u00fcber die Frauen der Welt fortsetzen, um so mehr m\u00fcssen wir feststellen, da\u00df es sich dabei eigentlich um eine Analyse der m\u00e4nnlichen Haltung handelt. Unsere Serie \u00fcber die Frau wird zur Anklage gegen den Mann \u2013 gegen seine Vorurteile, Komplexe, Neurosen und Sexualpsychosen. Das ist unvermeidlich, denn sie sind es, die letztlich das Los der Frau bestimmen. Selbst in L\u00e4ndern, in denen die Frau sehr frei zu sein scheint, ist sie noch das Produkt der Vorstellung, die der Mann von ihr hat \u2013 oder genauer gesagt: von sich selbst haben m\u00f6chte.<\/p>

In Algerien h\u00e4lt der Mann den Rekord an Selbstherrlichkeit und sexueller Besessenheit. Er teilt ihn nicht nur mit den Uferv\u00f6lkern des Mittelmeeres. Seine islamischen Glaubensbr\u00fcder von Marokko bis Pakistan verhalten sich kaum anders.<\/p>

Wir glauben, mit der Revolution h\u00e4tte sich auch auf diesem Gebiet einiges ge\u00e4ndert. Das war ein Irrtum. Algerien ist nicht, wie man erwarten durfte, zum fortschrittlichen Gewissen der islamischen Welt geworden. Weiterhin erstreckt sich \u00fcber zwei Erdteile hinweg die \u201eH\u00f6lle der Frau\u201c. \u2013 Wie diese aussieht, lesen Sie im n\u00e4chsten STERN.<\/p>","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Stern, Heft 48, 28. November 1965 Algerien ist seit drei Jahren unabh\u00e4ngig. Nach den langen, blutigen K\u00e4mpfen war der Siegestaumel gro\u00df. Auch f\u00fcr die Frau schien die Zeit der Freiheit angebrochen zu sein. Sie hatte mitgek\u00e4mpft. Viele waren gefoltert worden, vergewaltigt, umgebracht. Die Freiheitsk\u00e4mpferinnen wurden als Heldinnen der Revolution gefeiert. Aber die Ern\u00fcchterung lie\u00df nicht…<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":62777,"parent":62861,"menu_order":4,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":{"_seopress_robots_primary_cat":"","_seopress_titles_title":"","_seopress_titles_desc":"","_seopress_robots_index":"","footnotes":""},"categories":[],"tags":[],"class_list":["post-62776","page","type-page","status-publish","has-post-thumbnail","hentry","entry","has-media"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/62776"}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/types\/page"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=62776"}],"version-history":[{"count":5,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/62776\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":64923,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/62776\/revisions\/64923"}],"up":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/62861"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media\/62777"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=62776"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=62776"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=62776"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}