{"id":62802,"date":"2020-07-19T11:21:20","date_gmt":"2020-07-19T09:21:20","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=62802"},"modified":"2022-08-03T15:09:52","modified_gmt":"2022-08-03T13:09:52","slug":"frankreichs-frauen-lieben-anders","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/1-die-frauen-dieser-welt\/frankreichs-frauen-lieben-anders\/","title":{"rendered":"Frankreichs Frauen lieben anders"},"content":{"rendered":"

Stern, <\/em>Heft 51, 20. Dezember 1964<\/p>

<\/p>

<\/p>

Orly, der Flughafen von Paris, ist der Stolz der Franzosen. Alles glitzert. Und es riecht nach Paris. Nur die Zollbeamten haben heute keinen guten Tag. Sie befehlen mehr als sie bitten.
\u201eHaben sie etwas zu verzollen?\u201c
\u201eNein.\u201c
\u201eMachen Sie mal auf.\u201c
Der amerikanische Fluggast blickt mich hilfesuchend an. Er kann kein Franz\u00f6sisch, und ich \u00fcbersetze.
\u201eH\u00f6flich sind die auch nicht\u201c, murmelt er und schlie\u00dft seinen Koffer auf.
\u201eWas ist das?\u201c fragt der Z\u00f6llner und deutet auf eine Reihe blauer Schachteln, die am linken Rand des Koffers s\u00e4uberlich aufgereiht stehen.
\u201eWell\u201c, meint der Herr mit einem verlegenen L\u00e4cheln, \u201edas ist etwas ganz Neues, um keine Babys zu bekommen.\u201c
\u201eBeschlagnahmt.\u201c
\u201eWas?\u201c
\u201eEinfuhr verboten.\u201c
\u201eIn Paris? Im Land der Liebe? Der ist wohl nicht ganz dicht. Glauben Sie, ich sei nach Paris gekommen, um den Eiffelturm zu besteigen? Sagen Sie ihm, da\u00df ich protestiere.\u201c
\u201eDer soll keine Geschichten machen\u201c, sagt der Beamte und bittet mich, dem aufgebrachten Amerikaner beim Ausf\u00fcllen der Papiere behilflich zu sein.<\/p>

Nach zehn Minuten gehen wir zusammen durch die Haupthalle des Flughafens. Die Augen meines Bekannten irren w\u00fctend durchs Gew\u00fchl.
\u201eUnd mies sind die Weiber hier auch noch\u201c, flucht er. \u201eUngewaschen wahrscheinlich. Diese Haare, schauen Sie sich doch blo\u00df die Haare. Wo ist die franz\u00f6sische Eleganz? Ich werd` verr\u00fcckt. Wer hat das M\u00e4rchen von den h\u00fcbschen Pariserinnen nur in die Welt gesetzt?\u201c<\/p>

Das haben sich schon viele gefragt. Die Franz\u00f6sin ist weder elegant noch sch\u00f6n. Sie hat nur \u201ece quelque chose\u201c, dieses gewisse Etwas, das vielen anderen Frauen fehlt und sie neidisch macht.
\u201eWissen Sie was?\u201c br\u00fcllt er mich jetzt an. \u201eIch bin fast froh, da\u00df man mir die verfluchten Dinger beschlagnahmt hat.\u201c
\u201eWarum haben Sie auch gleich hundert mitgebracht?\u201c
Ich scheine ihn beleidigt zu haben. \u201eIch will genau einen Monat in Paris bleiben\u201c, sagt er mit Nachdruck. \u201eDas sind drei\u00dfig Tage. Stimmt\u00b4s? Und wenn Sie drei\u00dfig mit drei multiplizieren, auf welche Zahl kommen Sie dann?\u201c<\/p>

Wer ist der Spielverderber?<\/strong><\/p>

\u201eAuf neunzig\u201c, sage ich brav wie in der Schule, ohne jedoch vor Bewunderung in die Knie zu gehen. Mit der Prahlsucht der M\u00e4nner ist es \u00e4hnlich wie mit dem \u201eschlechten\u201c Ruf der Franz\u00f6sinnen: Es sind Wunschtr\u00e4ume. F\u00fcr alle, die leicht lieben wollen, ist Paris ein hartes Pflaster. Es sei denn, sie begn\u00fcgen sich mit jenen Touristenvierteln, aus denen der Ruf des Pariser Vergn\u00fcgens stammt.<\/p>

Wenn man gestern noch in New York war und heute durch Paris bummelt, wird man den Eindruck nicht los, aus einer anderen Welt zu kommen. Dr\u00fcben sind Eleganz und gutes Benehmen die Abzeichen weiblicher W\u00fcrde, und ein breites L\u00e4cheln \u00f6lt den Umgang mit dem N\u00e4chsten. Hier pfeift man auf die Firma. Man l\u00e4chelt nur, wenn es Spa\u00df macht, und schreit sich w\u00fctend an, auch wenn es nicht sein mu\u00df.<\/p>

Eben hatte ich einen jungen Mann br\u00fcllen h\u00f6ren. Er stand vor einem Zeitungskiosk. Ganz dicht hinter einem M\u00e4dchen. Wahrscheinlich war er ihr ein wenig zu nah gekommen. Jedenfalls hatte sie ihren St\u00f6ckelabsatz auf seinen Schuh gesetzt und war dann, mit einer kurzen Drehung, stolz davongegangen.<\/p>

Und jetzt geht es schon wieder los. Ein Mann man\u00f6vriert sein Auto so ungeschickt, da\u00df er einem anderen Wagen den Weg versperrt. Eine Frau steigt aus, st\u00fcrzt auf den Fahrer zu, rei\u00dft die T\u00fcr auf, und dann \u2013 aufrecht, hochm\u00fctig, gelassen:
\u201eAch so \u2013 ein Mann. Hatt` ich mir doch gedacht. Der Herr Sultan kann mit dem kleinen Spielzeug wohl nicht recht umgehen? Soll ich vielleicht helfen?\u201c
Bevor der Mann auch nur Luft holen kann, schl\u00e4gt sie die T\u00fcr wieder zu und schreitet zu ihrem Wagen zur\u00fcck.<\/p>


\u201eH\u00e9 \u2013 Madame\u201c, rufe ich. \u201eNur eine Sekunde \u2013 bitte\u2026\u201c
In zwei S\u00e4tzen erkl\u00e4re ich, welche Reportage ich mache, und bitte sie, mir den Auftritt zu erkl\u00e4ren.
\u201eAch so, einer von der Presse.\u201c Sie blickt mich herausfordernd an. \u201eWas tun Sie, wenn eine Frau schlecht Auto f\u00e4hrt? Sie fluchen auf die Weiber und w\u00fcnschen sie alle zum Teufel. Jeder Mann tut das. Wenn aber so ein Kerl die G\u00e4nge verwechselt und Gas gibt wie ein Stier, dann f\u00e4llt es keinem ein, auf die M\u00e4nner zu schimpfen. Oder?\u201c
Ich mu\u00df ihr leider recht geben, und triumphierend f\u00e4hrt sie fort: \u201eIch verpasse keine Gelegenheit, es ihnen heimzuzahlen. Diese arroganten Gro\u00dfm\u00e4uler. Und ich bin nicht die einzige. Darauf k\u00f6nnen Sie Gift nehmen.\u201c
\u201eAber warum nannten Sie ihn einen Sultan?\u201c
\u201eSie kommen wohl vom Mond. Sie wissen nicht, was ein Sultan ist? Diese fetten Schweine aus der T\u00fcrkei, die sich Harems hielten.\u201c
Ich gebe zu bedenken, da\u00df der Herr im Auto zwar einen koketten Schnurrbart tr\u00e4gt und sogar ein wenig dicklich ist, sonst aber sehr franz\u00f6sisch aussieht.
\u201eDas ist es ja gerade\u201c, ruft sie ernst wie ein Trauzeuge. \u201eHeute will jeder sich ein paar Frauen halten. Um anzugeben. So wie die Reichen sich Rennpferde halten. Fr\u00fcher gab es das nat\u00fcrlich auch. Aber nur f\u00fcr die dicken Brieftaschen. So ein paar Damen gaben den Herren den n\u00f6tigen Glanz. Heute will auch Piefke dabei sein. Weil er ein paar Franken mehr verdient. Aber ohne uns. Wir gehen auf die Barrikaden. Haben der Herr Sultan sonst noch eine Frage?\u201c
\u201eH\u00e9 \u2013 Moment mal\u2026\u201c
Sie lacht, steigt ein und fragt: \u201eKennen Sie einen Mann, der kein Sultan sein m\u00f6chte?\u201c
\u201eNein \u2013 aber leider wollt ihr keine Haremsdamen werden. Also wer ist der Spielverderber? Ihr oder wir?\u201c
\u201eC`est l`amour\u201c, ruft sie und rast davon.<\/p>

\"\"<\/figure>

Bei Maurice, meiner alten Stammkneipe, sitzen nur Paare. Wei\u00dfe, schwarze, gemischte. Ein pechschwarzer Afrikaner k\u00fc\u00dft ungeniert seine goldblonde Partnerin. Ihr scheint es zu gefallen, wenn auch der Wirt mir mit dem Glas Wein ein h\u00f6hnisches Grinsen \u00fcber die Theke schiebt.<\/p>

\u201eDie glauben, Neger w\u00e4ren besser\u201c, fl\u00fcstert er. \u201eDas wird direkt zur Seuche. Abends habe ich nur noch gemischte Kundschaft. Und blutjunge Dinger\u2026\u201c<\/p>

Der Ku\u00df dauert immer noch. Der Wirt blickt auf die Uhr.<\/p>

\u201eSchon drei Minuten. Ich stoppe immer. Der l\u00e4ngste hat elf Minuten gedauert. Ich bin wei\u00df Gott nicht pr\u00fcde. Aber so kann das nicht weitergehen.\u201c<\/p>

General de Gaulle scheint der gleichen Meinung zu sein. Z\u00e4rtlichkeiten in der \u00d6ffentlichkeit sollen verboten werden. Fr\u00fcher gingen Bildb\u00e4nde mit sich k\u00fcssenden P\u00e4rchen durch die ganze Welt und weckten Sehnsucht nach dem freien Paris. Heute scheint diese Freiheit nicht mehr zu Frankreichs neuer W\u00fcrde zu passen. Tante Yvonne, wie man Frau de Gaulle hier nennt, soll die treibende Kraft hinter dieser S\u00e4uberungswelle sein. Sie geht t\u00e4glich zur Messe und h\u00e4lt auf strenge Sitten. Frankreichs moralischer Ruf soll der politischen Gr\u00f6\u00dfe entsprechen. So wurde selbst Ministerpr\u00e4sident Pompidou getadelt, als er auf einem Bankett in Schweden Juliette Greco und Fran\u00e7oise Sagan eingeladen hatte. Sie passen nicht mehr zum offiziellen Bild der franz\u00f6sischen Frau.<\/p>

Und dabei gelten gerade sie \u2013 Jeanne Moreau und Brigitte Bardot, als Vertreterinnen des neuen Frauentyps, der in Frankreich geradezu Schule gemacht hat.<\/p>

Ihre Devise hei\u00dft: w\u00e4hlen, wechseln \u2013 aber lieben. Warum sollte die Initiative ein Vorrecht des Mannes sein? \u201eSag, liebst du mich wirklich?\u201c \u2013 dieses bange Bitten um das Kr\u00e4hen eines Hahnes mag den dummen G\u00e4nsen gen\u00fcgen, die ohnehin nur aus zweiter Hand lieben k\u00f6nnen, weil Soraya, Margaret und tausend rosarote M\u00e4rchen das eigene Erleben abgel\u00f6st haben. Eine echte Frau hat es nicht n\u00f6tig, ihr Innenleben dankend aus den H\u00e4nden des Mannes zu empfangen. Das Betteln um seelische Almosen ist vorbei. \u2013 So will es die neue Welle.<\/p>

Sie wehrt sich energisch gegen den Vorwurf der Frivolit\u00e4t. Man hopst keineswegs von einem zum anderen dem kleinen Vergn\u00fcgen nach. Im Gegenteil. Man will lieben. So ehrlich und genu\u00dfvoll wie m\u00f6glich. Und deshalb auch jedesmal neu \u2013 wenn man neu liebt.<\/p>

Von den M\u00e4nnern werden diese Frauen nat\u00fcrlich geha\u00dft. Wenn der Mann ebenso genommen und weggeworfen wird, wie er es mit Frauen zu tun pflegt, dann rei\u00dft man an den Sporen seines Hahnenstolzes, und er erfindet pl\u00f6tzlich die Moral, um seine Eitelkeit zu tarnen.<\/p>

\u201eWenn das so weitergeht, werden wir zu kl\u00e4glichen Weibern\u201c, gestand mit ein sichtlich abgearbeiteter Ingenieur. \u201eIch habe eine gro\u00dfartige Freundin. Ich liebe sie. Das dauert schon zwei Jahre. Aber zu welchem Preis. Glaubst du, ich k\u00f6nnte abends einfach Pantoffeln anziehen und mich ausruhen? Nach einem Tag Arbeit und zwei Stunden Verkehrsgew\u00fchl sind wir M\u00e4nner heute doch alle nur noch m\u00fcde Krieger. Nein. Ich mu\u00df permanent dasein. Verstehst du. Innerlich dasein. Sonst geht bei ihr das Licht aus, und sie haut einfach ab.\u201c<\/p>

\"\"<\/figure>
\"\"<\/figure>
\"\"<\/figure>

Brigitte Bardot, Juliette Gr\u00e9co, Jeanne Moreau werden ebenso begehrt wie geha\u00dft. M\u00e4nner hassen sie, weil sie zu jenem neuen Frauentyp geh\u00f6ren, der nicht mehr Spielzeug des Mannes sein will, sondern selber w\u00e4hlt und verwirft<\/em><\/p>

St\u00fcmperei \u2013 kein Merkmal der Ehrbarkeit<\/strong><\/p>

Ich treffe auch seine Freundin. Sie hei\u00dft Claire und f\u00fchrt einen Antiquit\u00e4tenladen. Mit dem kindlichen Ernst, mit dem viele Franz\u00f6sinnen von der Liebe sprechen, sagt sie:<\/p>

\u201eJa, die M\u00e4nner gehen am Stock. Die k\u00f6nnen sich an den Wandel unserer Rolle noch nicht gew\u00f6hnen. Die Zeit ist vorbei, wo wir nur die k\u00f6rperliche Liebe hatten, um einen Mann zu halten.\u201c<\/p>

\u201eMoment mal. Die Kinder, sind die vielleicht kein Band?\u201c<\/p>

\u201eWir reden im Augenblick nicht von der Ehe. Es geht um die Liebe. Da gab es f\u00fcr die Frau kaum eine andere Gewi\u00dfheit ihrer Macht als ihren K\u00f6rper. Warum glauben Sie wohl, da\u00df wir auf diesem Gebiet so ein betr\u00e4chtliches K\u00f6nnen entwickelt haben?\u201c<\/p>

\u201eSollte der zweifelhafte Ruf der Franz\u00f6sin daher kommen?\u201c<\/p>

\u201eNat\u00fcrlich\u201c, sagt Claire. \u201eSexuelle St\u00fcmperei galt hier nie als ein Zeichen der Ehrbarkeit. Das ist auch so geblieben. Nur hat die Sexualit\u00e4t eine andere Bedeutung erhalten. Und wissen Sie, warum? Weil wir freier sind. Jawohl. Die M\u00e4nner f\u00fchlen sich um so mehr an uns gebunden, je leichter sie uns verlieren k\u00f6nnen.\u201c<\/p>

Das ist alles recht sch\u00f6n gesagt. Aber irgendwie scheint diese Erkl\u00e4rung zu hinken. Wie konnten die \u201eSultane\u201c in diesem Paradies weiblicher Gleichheit und m\u00e4nnlicher Abdankung Fu\u00df fassen?<\/p>

\u201eWeil bei weitem nicht alle Frauen frei sein wollen\u201c, meint sie. \u201eUnd die Herren nutzen das geschickt aus. Es ist doch so bequem, ein paar Ruhepunkte zu haben, wo man verw\u00f6hnt wird, weil man das Geld mitbringt oder bei der Karriere ein wenig nachhelfen kann. Und f\u00fcr die Eitelkeit der M\u00e4nner sind mehrere Frauen nat\u00fcrlich besser als eine \u2013 sie strengen physisch auch viel weniger an.\u201c<\/p>

Jetzt verstehe ich \u00fcberhaupt nichts mehr. Die Franz\u00f6sinnen bringen es immer wieder fertig, mir R\u00e4tsel aufzugeben. Warum f\u00fcnf Frauen weniger anstrengend sein sollen als eine einzige, will mir beim besten Willen nicht einleuchten.<\/p>

\u201eAber das wei\u00df doch jeder\u201c, meint sie, als spr\u00e4che sie vom Wetter. \u201eAusgehaltene M\u00e4dchen, die nicht lieben, stellen weniger Anspr\u00fcche. Aber eine wirklich liebende Frau bringt den st\u00e4rksten Mann zur Verzweiflung. Warum, glauben Sie wohl, dauern Verh\u00e4ltnisse um so l\u00e4nger, je weniger die Frau liebt?\u201c<\/p>

Mir graust pl\u00f6tzlich vor dieser alles verschlingenden Liebe \u00e0 la fran\u00e7aise. Sollten die M\u00e4nner nur aus Selbsterhaltungstrieb gehandelt haben, als sie die Frau versklavten und auf Haus und Kind beschr\u00e4nkten? Es sieht fast so aus, denn dieses neue Spiel mit der Freiheit scheint zum Heldenfriedhof der M\u00e4nner zu werden. Kein Wunder, da\u00df sie wieder Sultane sein wollen und einen friedlichen Harem den vernichtenden St\u00fcrmen der Liebe vorziehen. In Paris mu\u00df man sich die Frage ernsthaft stellen, ob der Mann der vollen Freiheit der Frau gewachsen ist.<\/p>

Claire l\u00e4chelt geheimnisvoll, als kenne sie auch die Antwort auf diese Frage. Aber sie sagt nur:<\/p>

\u201eWir sind ja noch nicht ganz frei. Vielleicht ist das der Preis, den die M\u00e4nner zun\u00e4chst einmal zahlen m\u00fcssen, weil sie uns so lange erniedrigt haben. Sp\u00e4ter pendelt sich dann alles ein. Und glauben Sie mir: Die Liebe wird neu erfunden \u2013 und selbst die Ehe wird einen neuen Sinn bekommen\u2026\u201c<\/p>

Ich glaube im Augenblick \u00fcberhaupt nichts mehr. Ich wei\u00df nur, da\u00df dieses Wort Liebe nirgendwo soviel herumspukt wie in den K\u00f6pfen der Franz\u00f6sinnen. Es kommt mir fast so vor, als m\u00fcsse ich mich davor retten. Und ich bin nicht der einzige:<\/p>

\u201eGestern begn\u00fcgten sich die Frauen mit ein paar z\u00e4rtlichen Worten\u201c, jammert ein befreundeter Journalist. \u201eHeute wollen sie \u00fcber die Liebe reden. Das Ding mu\u00df analysiert werden. Systematisch. T\u00e4glich. Es gen\u00fcgt nicht mehr, ganz einfach zu lieben. Man mu\u00df erkl\u00e4ren, wie, warum, auf welcher Ebene. Wer h\u00e4lt das noch aus. Man sollte auswandern.\u201c<\/p>

Strip-tease \u2013 Zeichen von Kultur<\/strong><\/p>

Ich gehe in ein Arbeiterviertel und frage einen Schlosser, wie es dort zwischen Mann und Frau aussieht.<\/p>

\u201eBei uns wird \u00fcbers Geld geredet\u201c, sagt er. \u201eDie Frauen wollen die Kohlen verwalten. Und das ist ja wohl auch richtig. Meine Kollegen sind auch der Meinung. Selbst wenn sie nicht verheiratet sind, geben sie ihren Gef\u00e4hrtinnen den Lohn und erhalten Taschengeld. Von einem Haushalt kann man doch erst reden, wenn die Frau ihn in die Hand nimmt.\u201c<\/p>

\u201eUnd wie ist es mit der Liebe?\u201c will ich wissen.<\/p>

\u201eJetzt werden Sie wahrscheinlich furchtbar lachen\u201c, meint er verlegen. \u201eFr\u00fcher zog man sich dabei gar nicht er aus. Aber heute schon. Meine Frau hat darauf bestanden. Und ich sage Ihnen, das ist ein Fortschritt, Ehrenwort. Seither bin ich richtig z\u00e4rtlich. Die Alte ist mir tausendmal lieber.\u201c<\/p>

Also auch hier scheinen die Frauen die Entwicklung in ihre H\u00e4nde genommen zu haben. Auf eine ganz besondere Art. Die klugen Soziologen haben hierf\u00fcr ein Wort, das mir leider entfallen ist. Auf alle F\u00e4lle l\u00e4uft es darauf hinaus, das der Grad der Entkleidung im direkten Verh\u00e4ltnis zur Kultur eines Menschen steht. Primitive Leute schlafen in ihrem Anzug. Weniger primitive in ihrer Unterw\u00e4sche. Die n\u00e4chste Stufe zieht einen Pyjama dar\u00fcber. Noch weiter ist man, wenn man die Unterw\u00e4sche nicht darunter l\u00e4\u00dft. Und ich erinnere mich nicht mehr genau, ob es zum h\u00f6chsten Zeichen der Kultur geh\u00f6rt, wenn man v\u00f6llig unbekleidet schl\u00e4ft. Eins jedoch wei\u00df ich noch: Die \u201eLiebeskultur\u201c soll sich auf gleiche Art verfeinern, und zwar bis zu diesem letzten Punkt. Diese Entwicklung soll bereits mit den ersten Tagen der Menschheit begonnen haben. Und zwar zun\u00e4chst r\u00fcckl\u00e4ufig. Denn schlie\u00dflich erfand Eva das kulturelle Strip-tease an jenem Tage im Paradies, als sie sich zum erstenmal anzog.<\/p>

Ich kenne \u00fcbrigens ein M\u00e4dchen, das so sein Geld verdient. Es tanzt in einer Revue irgendwo am Pigalle. Es ist sehr h\u00fcbsch und geh\u00f6rt zu jenen Menschen, die man einfach lieben m\u00f6chte, um sie gl\u00fccklich zu machen.<\/p>

Jacques gab sich damals alle M\u00fche. Aber leider hatte er einen gro\u00dfen Fehler. Auch er wollte sie nackt sehen. Zwar nicht wie all die Touristen und m\u00fcden Provinzler, die tosend Beifall klatschten, wenn Nicole, mit nur ein paar Federn bekleidet, ihren Bolero tanzte. Er wollte sie nat\u00fcrlich allein bewundern. Aber bewundern war das Wort. Und das machte Nicole ungl\u00fccklich. Sie sch\u00e4mte sich. Sie, die sich t\u00e4glich Hunderten zeigte, brachte es nicht \u00fcbers Herz, sich vor ihm auszuziehen. Obwohl sie ihn liebte \u2013 oder gerade weil sie ihn liebte.<\/p>

Wir verlebten damals dramatische Tage, und ich fragte mich, wie es ausgehen w\u00fcrde. Nicole nahm immer alles sehr ernst.<\/p>

Jacques \u00f6ffnete die T\u00fcr. Er tr\u00e4gt nur eine Hose. Nicole liegt im Bett. Als sie mich erkennt, st\u00fcrzt sie auch mich zu, und wir k\u00fcssen uns, wie es in Frankreich unter Freunden Sitte ist: auf beide Backen. In der Aufregung scheint Nicole vergessen zu haben, da\u00df sie \u00fcberhaupt nichts anhat.
\u201eWie ich sehe, hat sich ja alles eingerenkt\u201c, stelle ich bewundernd fest.
\u201eOh\u201c, schreit sie, rast ins Nebenzimmer und kommt im Morgenrock zur\u00fcck.
\u201eWir sind sogar verheiratet\u201c, strahlt Jacques.
\u201eUnd redet ihr auch den ganzen Tag \u00fcber die Liebe?\u201c
\u201eDie Zeit ist Gott sei Dank vor\u00fcber.\u201c
\u201eAber wor\u00fcber streitet ihr euch jetzt?\u201c<\/p>

Diese Frage h\u00e4tte ich nie stellen d\u00fcrfen. Wie ein Wolkenbruch prasseln die S\u00e4tze auf mich nieder. Ich wei\u00df, da\u00df Franz\u00f6sinnen schnell reden und viel nachdenken, und Nicole geh\u00f6rt auch noch zu jenen, die intensiv an allen Problemen des Tages teilnehmen. Aber was hier pl\u00f6tzlich auf mich einst\u00fcrzt, sind Ziffern, Produktionskurven, Statistiken und Gewerkschaftslatein.<\/p>

Nicole ist mittlerweile technische Zeichnerin geworden und versucht, die beruflichen Rechte der Frau ebenso leidenschaftlich zu verteidigen, wie sie fr\u00fcher f\u00fcr die Freiheit der Liebe gek\u00e4mpft hat. Sie hat sogar einen wichtigen Posten in der Gewerkschaft.<\/p>

So erfahre ich, da\u00df der Streit um die weibliche Arbeit heute zu den Hauptthemen Frankreichs geh\u00f6rt. Es geht nicht nur um die endg\u00fcltige Gleichberechtigung der Frauen. Sie verlangen mehr: eine Arbeitseinteilung, die den besonderen Gegebenheiten der Frau gerecht wird und besonders auf Hausarbeit und Kinderpflege R\u00fccksicht nimmt.<\/p>

Das neue Bewu\u00dftsein der Frau<\/strong><\/p>

Die Welt der Arbeit ist vom Mann geschaffen worden \u2013 f\u00fcr den Mann. Die Frauen haben sich einfach anpassen m\u00fcssen. Dagegen laufen sie jetzt Sturm. Energisch und mit beredten Zahlen. Eine berufst\u00e4tige Frau arbeitet fast doppelt soviel wie ein Mann. Wenn er sich die Pantoffeln anzieht, beginnt f\u00fcr sie das zweite Tagespensum. Sie mu\u00df weitere vier bis sechs Stunden schuften, unter Bedingungen, die kein Arbeitsgesetz regelt und die oft jeder Beschreibung spotten.<\/p>

In Frankreich wird pro Jahr 105 Milliarden Stunden gearbeitet. Davon entfallen 70 Milliarden Stunden auf die Frauen und nur 35 Milliarden auf die M\u00e4nner. Und dabei behaupten die Antifeministen immer, das \u201eschwache Geschlecht\u201c sei nicht zur Arbeit geschaffen.<\/p>

Es ist ein Hohn, meinen die Frauen. Aber es mu\u00df anders werden. Wenn die industrielle Gesellschaft ohne die Frau nicht mehr auskommen kann, dann soll sie gef\u00e4lligst auch jene Arbeitsbedingungen schaffen, die den Frauen ein menschenw\u00fcrdiges Dasein erlauben. Sonst werden letztlich Familie und Ehe gef\u00e4hrdet, oder die Gesundheit der Frau geht vor die Hunde. Warum sollte es nicht weibliche Arbeitsstunden geben? Oder Halbzeitbesch\u00e4ftigung? Oder m\u00e4nnliche und weibliche Schichten? \u2013 Wie fr\u00fcher die Suffragetten, so sind auch heute die Frauen wieder auf die Barrikaden gegangen.<\/p>

\u201eIm Atomzeitalter m\u00fcssen wir \u00fcber die Arbeit und die Liebe anders denken als zur Zeit der absoluten m\u00e4nnlichen Vorherrschaft\u201c, sagt Nicole. \u201eMan f\u00e4hrt doch auch nicht mehr mit Ochsenkarren durch Paris. De Gaulle hat uns die Politik versauert. Der will alles allein machen. Aber daf\u00fcr wird um so mehr um die Rechte der Frau gek\u00e4mpft. Auf allen Gebieten. Schau dich doch um\u2026\u201c<\/p>

Es gen\u00fcgt, die Zeitungen aufzuschlagen oder in die B\u00fcchereien zu gehen. Die Frau steht wieder im Mittelpunkt der Diskussion. \u00dcberall versucht man, ihre Rolle neu zu definieren. Ohne falsche Scham oder blinde Traditionshuldigung.<\/p>

So machen sich die Franzosen zum Beispiel Gedanken dar\u00fcber, wie man die Ehe retten kann. Mit der Geburtenkontrolle, so sagen sie, ist eine v\u00f6llig neue Epoche in den Beziehungen zwischen Mann und Frau angebrochen. Im Moment n\u00e4mlich, in dem der Mensch es ablehnt, die Entscheidung \u00fcber seine Nachkommen dem blinden Zufall der Natur zu \u00fcberlassen, mu\u00df sich auch die Rolle der Frau grundlegend \u00e4ndern. Die Ehe bleibt f\u00fcr die zwar noch eine wichtige Aufgabe \u2013 sie h\u00f6rt jedoch auf, ihr Schicksal zu sein.<\/p>

Deshalb auch z\u00f6gert die katholische Kirche, der Geburtenkontrolle zuzustimmen. Denn sie f\u00fcrchtet, da\u00df die Ehe, sobald die Zeugung ausschlie\u00dflich dem Willen des Menschen unterworfen wird, ihren heiligen Charakter verliert. Aber gleichzeitig gewinnen Sexualit\u00e4t und Gef\u00fchl in den ehelichen Beziehungen eine neue, viel gr\u00f6\u00dfere Bedeutung.<\/p>

Und hier wiederum bewundere ich die Franzosen. Sie wissen, da\u00df es keinen Sinn hat, das Unvermeidliche mit einem moralischen M\u00e4ntelchen zu verdecken. Die Krise der Ehe ist eine Tatsache. Um sie zu l\u00f6sen, scheuen selbst Priester nicht davor zur\u00fcck, die erotische Quelle der Liebe in die Sakramentalit\u00e4t der Ehe mit hinein zu heben. Sie sprechen den K\u00f6rper heilig, als Werkzeug der Erkenntnis und der Einheit zwischen zwei Menschen, die sich lieben. Und es sieht ganz so aus, als ob dies der einzige Weg sei.<\/p>

Wenn es eine Revolution der Frau gibt, dann findet sie heute in Frankreich statt. Sie hat nichts mit der vielbesungenen \u201eSex-Revolution\u201c der Amerikaner zu tun. Dort versucht die Frau durch technische Perfektion jenen Teil ihrer Person wieder in Schwung zu bringen, der im harten Kampf um materielle Sicherheit vernachl\u00e4ssigt worden ist. Es geht ihr haupts\u00e4chlich um ihr seelisches Gleichgewicht.<\/p>

In Frankreich hatte der Aufbruch der Frau nie diesen klinischen Beigeschmack. Vom pathetischen Kniefall vor der Technik ganz zu schweigen. Am Raffinement haben die Franzosen seit \u00fcber tausend Jahren erfolgreich herumgebastelt.<\/p>

Nein. Heute wollen sie endlich die Frau mit unserer Zeit in Einklang bringen. Selbst wenn es auf der Oberfl\u00e4che wie ein Generalabrechnung der Geschlechter aussieht und Ausw\u00fcchse unvermeidlich sind, so scheint sich doch ein Weg anzubahnen, auf dem Mann und Frau als gleiche Partner in die Zukunft gehen k\u00f6nnen.<\/p>","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Stern, Heft 51, 20. Dezember 1964 Orly, der Flughafen von Paris, ist der Stolz der Franzosen. Alles glitzert. Und es riecht nach Paris. Nur die Zollbeamten haben heute keinen guten Tag. Sie befehlen mehr als sie bitten.\u201eHaben sie etwas zu verzollen?\u201c\u201eNein.\u201c\u201eMachen Sie mal auf.\u201cDer amerikanische Fluggast blickt mich hilfesuchend an. Er kann kein Franz\u00f6sisch, und…<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":62803,"parent":62861,"menu_order":5,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":{"_seopress_robots_primary_cat":"","_seopress_titles_title":"","_seopress_titles_desc":"","_seopress_robots_index":"","footnotes":""},"categories":[],"tags":[],"class_list":["post-62802","page","type-page","status-publish","has-post-thumbnail","hentry","entry","has-media"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/62802"}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/types\/page"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=62802"}],"version-history":[{"count":5,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/62802\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":64917,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/62802\/revisions\/64917"}],"up":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/62861"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media\/62803"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=62802"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=62802"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=62802"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}