{"id":63187,"date":"2020-08-17T15:02:09","date_gmt":"2020-08-17T13:02:09","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=63187"},"modified":"2022-08-03T15:12:51","modified_gmt":"2022-08-03T13:12:51","slug":"angst-vor-der-liebe","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/1-die-frauen-dieser-welt\/angst-vor-der-liebe\/","title":{"rendered":"Angst vor der Liebe (China)"},"content":{"rendered":"

Stern,<\/em> Heft 30, 24. Juli 1966 <\/p>

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Fr\u00e4ulein Han tr\u00e4gt eine wei\u00df-rot karierte Hose, eine gelbe Bluse und schwarze Samtpantoffeln. Ihre Z\u00f6pfe reichen bis zu den H\u00fcften. Als sie sich mir zuwendet, fliegen die Z\u00f6pfe wie zwei Besen durch die Luft.<\/p>

\u201eJa, Sie haben richtig geh\u00f6rt\u201c, sagt die junge Chinesin. \u201eWir erziehen unsere Eltern. Besonders die M\u00fctter. Viele m\u00fcssen noch lernen, was unsere Revolution bedeutet. Die Zeiten sind vor\u00fcber, wo es wichtig war, fr\u00fch unter die Haube zu kommen. Das will meine Mutter zum Beispiel nicht begreifen.\u201c<\/p>

\u201eWollen Sie denn nicht heiraten?\u201c frage ich. \u201eIn Ihrem Alter ist man doch sicher verliebt.\u201c – Sie ist neunzehn.<\/p>

Fr\u00e4ulein Han wird rot wie ein Granatapfel. Aber sie verliert die Fassung nicht. Wahrscheinlich wundert sie sich nur \u00fcber die europ\u00e4ische Geschmacklosigkeit, so private Dinge zur Sprache zu bringen, denn sie f\u00e4hrt fort, als habe sie die Frage nicht geh\u00f6rt: \u201eMeine Mutter will nicht verstehen, da\u00df nur materielle Unabh\u00e4ngigkeit auch Freiheit f\u00fcr die Frau bedeutet. Sie glaubt immer noch, da\u00df eine Frau ihre Existenzberechtigung ausschlie\u00dflich vom Mann beziehen kann. Ich mu\u00df ihr erkl\u00e4ren, da\u00df es nicht mehr so sein darf.\u201c
\u201eBefehl der Partei?\u201c
\u201eAber nein!\u201c Jetzt l\u00e4chelt sie ein wenig sp\u00f6ttisch. \u201eDie Partei unterst\u00fctzt uns nur mit Argumenten, wenn wir altmodischen Eltern den Gehorsam verweigern. Die Familie kann das Grab der Freiheit sein.\u201c<\/p>

Solche S\u00e4tze sind nat\u00fcrlich Wasser auf die M\u00fchle aller \u201ekalten Krieger\u201c. \u201eIn China wird die Familie zerst\u00f6rt\u201c, so lautet eines ihrer Hauptargumente gegen die gelben Kommunisten. Wer an der Familie r\u00fcttelt, kann nur vom Teufel besessen sein.<\/p>

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F\u00fcr Chinas Jugend ersch\u00f6pft sich die Liebe im Blick. Vor mehr hat sie eine panische Angst. Erotik Sexualit\u00e4t sind so innig mit der Entw\u00fcrdigung der Frau in fr\u00fcheren Zeiten verquickt, da\u00df es schwerf\u00e4llt, sie heute ins Alphabet der Liebe einzugliedern<\/strong><\/em><\/figcaption><\/figure>

M\u00e4dchen f\u00fcr die Schweine<\/strong> <\/p>

Aber so einfach ist das nicht. Etwas chinesische Geschichte und ein wenig vergleichende Soziologie w\u00fcrden dieses Kriegsgeschrei im Nu verstummen lassen. Wenn die Chinesen von \u201eFamilie\u201c sprechen, dann haben sie n\u00e4mlich nur unsere Einheit von Vater, Mutter und Kind im Sinn. Wogegen Jugend und Partei Sturm laufen, das ist ausschlie\u00dflich die traditionelle chinesische Sippe und insbesondere das Los der Frau in diesem komplizierten Gef\u00fcge.<\/p>

Fr\u00fcher wurde eine Frau \u00fcberhaupt nicht als Mensch betrachtet. Sie konnte verkauft, geschlagen und sogar umgebracht werden. Das galt keineswegs als Verbrechen. Der Mensch begann erst beim Mann. Und auch dort gab es Stufen. Oben auf der Leiter thronte der \u00c4lteste, der Chef der Familie. Die vielbesungene Verehrung der Alten, die oft als Beispiel angepriesene Kindesliebe der Chinesen waren nichts anderes als diese durch Sitte und Gesetz erzwungene Allmacht des Patriarchen. Alle Generationen mu\u00dften unter seinem Dach wohnen, und er allein entschied \u00fcber alles \u2013 selbst \u00fcber Leben und Tod.<\/p>

Wenn der Sippenchef der Meinung war, gen\u00fcgend Frauen im Haus zu haben, lie\u00df er alle neugeborenen M\u00e4dchen den Schweinen zum Fra\u00df vorwerfen oder einfach ertr\u00e4nken. In schweren Zeiten erhielten die M\u00e4dchen weniger zu essen als die Jungen, oder sie wuren kurzerhand sogar ganz von der Verteilung der Nahrung ausgeschlossen. Warum sollte man in mageren Jahren ern\u00e4hren, was doch eines Tages das Haus verlassen w\u00fcrde, um als Frau eines Fremden Dienste zu leisten?<\/p>

Hatte ein M\u00e4dchen das Gl\u00fcck, bis zur Reife zu \u00fcberleben, dann wechselte es nur den Herrn. Sie wurde an einen Mann verheiratet, bei dessen Wahl sie kein Wort mitreden durfte. Und selbst er war nicht ihr ausschlie\u00dflicher Meister. Auch in seiner Familie gab es den allm\u00e4chtigen \u00c4ltesten, der ihn seinerseits gezwungen hatte, diese Frau zu nehmen.<\/p>

Da\u00df solche Ehen auch bei jungen M\u00e4nnern keine Begeisterung ausl\u00f6sten, ist verst\u00e4ndlich. Deshalb hatte der Mann das Recht auf Konkubinen. Diese Damen dienten ihm zum Vergn\u00fcgen. F\u00fcr die Arbeit hatte er ja seine Frau, die er \u00fcbrigens versto\u00dfen oder sogar als Konkubine an einen anderen verkaufen konnte.<\/p>

Als die Kommunisten Scheidungs\u00e4mter errichteten, erschienen viele Frauen mit ihrem Ehemann auf dem Arm. Ja, das gab es auch: Baby-Gatten, Familien, die noch keine m\u00e4nnlichen Nachkommen hatten, kauften vorsorglich zuk\u00fcnftige Schwiegert\u00f6chter, die geduldig warten mu\u00dften, bis der Herr Gemahl endlich zur Welt kam. Je j\u00fcnger eine Schwiegertochter erworben wurde, um so billiger bekam man sie. Warum also warten, bis der ersehnte Spr\u00f6\u00dfling geboren war? Und wenn der Ehemann ausblieb, konnte man das M\u00e4dchen ja wieder verkaufen.<\/p>

Jedesmal, wenn Frauen mir ihre Leidensgeschichte erz\u00e4hlen, danken sie dem Schicksal, da\u00df Mao Tse-tung sie endlich erl\u00f6st hat. \u201eEr ist unser aller Retter\u201c, hei\u00dft es immer wieder.<\/p>

Das ist keine leere Propagandaformel f\u00fcr die Ohren einer ausl\u00e4ndischen Journalistin. Es klingt jedesmal wie ein Dankgebet. Nicht ohne Grund. Die Befreiung der Frau und die Sprengung der Sippentyrannei geh\u00f6rten von Anfang an zu den Hauptzielen der kommunistischen Rebellen.<\/p>

Im Grunde haben diese M\u00e4nner nur die freiheitlichen Ideale verwirklicht, die einst mit den christlichen Missionaren nach China gekommen waren. Durch ihren Impuls hatte es bereits im neunzehnten Jahrhundert Versuche gegeben, die Frau aus ihrer Versklavung zu befreien. Herzzerrei\u00dfende B\u00fccher wurden geschrieben. Junge Intellektuelle meuterten. Es gab ein paar Bewegungen und viel Geschrei. Aber wie sollten Literatur und individuelle Revolten Hunderte von Millionen aufr\u00fctteln und tausendj\u00e4hrige Sitten zerst\u00f6ren? Das konnte nur durch Vertreibung jener Machthaber geschehen, die diese unmenschlichen Sitten verewigten und dank ihrer Erhaltung das Land beherrschten.<\/p>

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Vor der Revolution galten die durch Wickeln verkr\u00fcppelten F\u00fc\u00dfe als feinster Ausdruck erotischen Raffinements. Die Verst\u00fcmmelung zwang die Frauen zu einer Gangart, die gewisse Muskeln des Leibes besonders stark und geschmeidig machte und den M\u00e4nnern entsprechende Freuden schenkte<\/strong><\/em><\/p><\/div><\/div>

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Mao Tse-tung und seine Freunde f\u00fchrten diesen Umsturz herbei. Weniger durch Waffengewalt als durch vorgelebtes Beispiel und geduldige Zwiesprache mit den Bauern. W\u00e4hrend die Truppen der Zentralregierung und \u00f6rtlicher Potentaten raubend und pl\u00fcndernd durchs Land zogen, durften die Soldaten Mao Tse-tungs nicht einmal Reis requirieren, geschweige denn einer Frau Gewalt antun. Darauf stand Todesstrafe. – Kein Wunder, da\u00df sie siegten.<\/p>

In diesem Zusammenhang ist es vielleicht wichtig, daran zu erinnern, da\u00df Stalin und seine Genossen \u00fcber diese Gerechtigkeitsfanatiker sp\u00f6ttelten und mit allen Mitteln versuchten, ihren Sieg zu verhindern. Dazu geh\u00f6rte die Unterst\u00fctzung ihrer Gegner mit Waffen und Geld. Die alte Garde der chinesischen Revolution war also keineswegs eine Zweigstelle der Moskauer Zentrale des Weltkommunismus. Es handelte sich vielmehr um Idealisten, die ihre Mitb\u00fcrger aus jeglicher Form der Entfremdung befreien wollten.<\/p>

Keine Sehnsucht nach Komfort<\/strong><\/p>

Dieses Ziel sprach besonders die junge Generation an. M\u00e4nner, die der Tyrannei der Familie entkommen wollten, fl\u00fcchteten zu den Rebellen in die Berge, B\u00e4uerinnen folgten ihnen, und die weiblichen Sklaven der Minen und Fabriken warteten klopfenden Herzens auf die Befreier. Damals herrschte kein Mangel an Arbeitskr\u00e4ften. Ganz im Gegenteil. In den Gro\u00dfst\u00e4dten verhungerten Millionen unbesch\u00e4ftigter M\u00e4nner \u2013 weil Kinder billiger waren, besonders M\u00e4dchen.

Als der Dolmetscher meine Frage \u00fcbersetzt, erl\u00f6scht das L\u00e4cheln auch auf den Gesichtern der Frauen. Die \u00c4lteste bittet ihn, nochmals zu \u00fcbersetzen. Sie verstehen immer noch nicht, was ich mit dem Wort \u201eOpfer\u201c meine.
\u201eDie Einfachheit eures Lebens\u201c, erkl\u00e4re ich. \u201eDie schwere Arbeit. Der Dienst au\u00dferhalb der Fabrik. Diese nackten Zimmer.\u201c
Jetzt atmen alle erleichter auf. Sie l\u00e4cheln sogar wieder, und eine sagt: \u201eAber das sind doch keine Opfer. Opfern kann man doch nur etwas, das man besitzt. Uns geh\u00f6rte nie etwas. Wir hatten kein Haus, kein Bett, keine festen Arbeitsstunden und nie genug zu essen.\u201c
\u201eIch habe in dieser Fabrik schon mit sieben Jahren angefangen\u201c, erz\u00e4hlt eine andere. \u201eMeine Schwester war dreizehn. Wir arbeiteten an der gleichen Maschine. Wir schliefen auch daneben. Auf dem Boden. Nachts kamen die Vorarbeiter. Ich hatte Gl\u00fcck, denn ich war noch klein. Aber meine Schwester wurde schwanger. Da hat man sie davongejagt. Sie starb in einem Freudenhaus an Tuberkulose. Das Baby auch. Nein, Madame, wir bringen keine Opfer. Verstehen Sie jetzt?\u201c<\/p>

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Das M\u00e4dchen ganz rechts sagte mir: \u201eFr\u00fcher waren Frauen nur Brut- und Arbeitstiere oder wurden an Bordelle verkauft. Heute aber d\u00fcrfen wir am Aufbau unserer Nation teilnehmen und sie verteidigen \u2013 mit Kn\u00fcppeln, wenn es sein mu\u00df\u201c<\/strong><\/em><\/figcaption><\/figure>

Ich verstehe vor allem, da\u00df man diese chinesische Welt nie mit der unseren vergleichen kann. Bei uns haben die meisten Frauen nur einen Wunsch: Sie wollen gl\u00fccklich sein. Ein verschwommener Begriff, aber innigst verquickt mit Vorstellungen von Luxus, Reichtum und sorgenfreiem Dasein. Sie lieben das Leben im Verh\u00e4ltnis zu den Dingen, mit denen sie sich umgeben.<\/p>

Die Chinesin hingegen ist so \u00fcberw\u00e4ltigt, endlich w\u00fcrdevoll leben zu d\u00fcrfen, da\u00df den Dingen kaum noch eine Bedeutung zukommt. Sie liebt ihr Leben unbek\u00fcmmert der Dinge, die sie umgeben. Eine wahrhaft idealistische Weltanschauung, die f\u00fcr einen Menschen unserer Konsumgesellschaft heute unbegreiflich erscheinen mu\u00df.<\/p>

Deshalb ist es kaum verwunderlich, da\u00df nicht ein Fernsehger\u00e4t, eine gute Partie oder das Eigenheim die Kr\u00f6nung des Lebens einer Chinesin ist. F\u00fcr sie war es das 1950 verabschiedete Ehegesetz, denn es garantiert v\u00f6llige Gleichheit, zwischen Mann und Frau und die individuelle Freiheit jedes Erwachsenen innerhalb der Familie. Wenn heute zwei junge Menschen heiraten, fragt der Standesbeamte ausdr\u00fccklich, ob sie aus freien St\u00fccken handeln. Falls ein Zwang durch die Familie festgestellt wird, ist die Ehe ung\u00fcltig. <\/p>

Hochzeit erst mit F\u00fcnfundzwanzig<\/strong><\/p>

Die Ermordung neugeborener M\u00e4dchen war eine so tief verwurzelte Sitte geworden, da\u00df sie im neuen Gesetz ausdr\u00fccklich als Verbrechen angeprangert werden mu\u00dfte. Jetzt kann die Frau sich scheiden lassen oder als Witwe wieder heiraten. Konkurbinen sind verboten. In der Ehe gibt es keinen Herrn mehr, nur noch gleichwertige Partner.
An die Stelle der traditionellen Brut- und Arbeitsgemeinschaft unter der Fuchtel des Patriarchen tritt mit diesem Gesetz die Familie westlichen Stils, das hei\u00dft: eine auf Zuneigung und Liebe fu\u00dfende Einheit von Mann, Frau und Kind. Das liebende Paar l\u00f6st die allm\u00e4chtige Sippe ab. Jeder hat jetzt das Recht, \u00fcber sich selbst zu verf\u00fcgen. Und deshalb predigt man auch heute noch den Kampf gegen die Familie \u2013 gemeint ist nat\u00fcrlich nur die alte Ordnung, jene Sippendiktatur, die es China unm\u00f6glich machte, ein modernes Land zu werden.<\/p>

Es wird immer ein R\u00e4tsel bleiben, wie die Chinesinnen sich w\u00e4hrend Jahrtausenden treten und t\u00f6ten lie\u00dfen, ohne sich zu erheben und blindlings Amok zu laufen. F\u00fcr sie wiederum ist es unbegreiflich, da\u00df der christliche Westen, der N\u00e4chstenliebe und Menschenw\u00fcrde zu seinen h\u00f6chsten Werten z\u00e4hlt, die endlich stattgefundene Befreiung der chinesischen Frau ausschlie\u00dflich an politischen Ma\u00dfst\u00e4ben mi\u00dft und pauschal verurteilt, ohne den Menschen zu ber\u00fccksichtigen.<\/p>

Ich bin selbst so von dieser westlichen Schwarzwei\u00dfmalerei beeinflu\u00dft, da\u00df ich es immer wieder f\u00fcr n\u00f6tig halte, verf\u00e4ngliche Fragen zu stellen, um hinter der jetzt ausgebrochenen Begeisterung die M\u00e4ngel zu entdecken. Vor allem, wenn ich Volkskommunen besichtige. Dort suche ich zum Beispiel nach den Schlafs\u00e4len \u2013 \u00fcber die soviel geschrieben worden ist und wo nicht nur Mann und Frau getrennt schlafen, sondern sogar die Kinder der elterlichen Obhut entzogen sein sollen.<\/p>

So etwas gibt es gar nicht. Die so oft kritisierten \u201eVolkskommunen\u201c sind heute lediglich verwaltungstechnisch zusammengefa\u00dfte D\u00f6rfer, St\u00e4dte und Siedlungen, in denen Menschen genauso zusammenleben wie bei uns. Das hei\u00dft in Familien; zwar gibt es Arbeitsbrigaden, aber abends sind Mann, Frau und Kind zusammen.
\u201eNur die ledigen Leute schlafen in gro\u00dfen Schlafs\u00e4len\u201c, erkl\u00e4rt man mir. \u201eAber ist das schlimm?\u201c<\/p>

Ich bohre trotzdem weiter: \u201eSicherlich nicht. Ich wei\u00df aber auch, da\u00df die Regierung euch empfiehlt, erst mit 25 oder 30 zu heiraten. Auf diese Weise werden gewaltige Arbeiterreserven geschaffen, ohne Familien zerrei\u00dfen zu m\u00fcssen.\u201c<\/p>

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Kinderreiche Familien werden immer seltener. Um eine Bev\u00f6lkerungsexplosion zu vermeiden, empfiehlt Peking den jungen Chinesen, nicht vor F\u00fcnfunfzwanzig zu heiraten und nur zwei Kinder zu zeugen. Mit Erfolg<\/em><\/strong><\/figcaption><\/figure>

Jetzt werden meine Gespr\u00e4chspartnerinnen richtig ungehalten. Sie erkl\u00e4ren mir, da\u00df diese Empfehlung \u00fcberhaupt nichts mit dem Arbeitseinsatz zu tun habe, sondern ein viel wichtigeres Problem zu l\u00f6sen versuche: die Geburtenkontrolle. Je sp\u00e4ter geheiratet wird, um so weniger Kinder kommen zur Welt. Bevor die Pillen oder andere Verh\u00fctungsmittel in gro\u00dfem Ausma\u00df angewandt werden k\u00f6nnen, versucht Peking den Geburten\u00fcberschu\u00df auf diese Weise zu beschr\u00e4nken. \u201eTrotzdem m\u00fcssen wir jedes Jahr f\u00fcnfzig Millionen Menschen mehr ern\u00e4hren\u201c, hei\u00dft es. \u201eDas entspricht der gesamten Bev\u00f6lkerung Frankreichs.\u201c<\/p>

Fanatische Verfechter der Liebe<\/strong><\/p>

Mir geht es wie den meisten Europ\u00e4ern. Wenn ich von dieser Entwicklung h\u00f6re, steigt zwangsl\u00e4ufig das Bild von der \u201egelben Gefahr\u201c in mir auf. Angesichts der gewaltigen Menschenmassen Asiens geht dieses Gespenst seit Anfang des Jahrhunderts in Europa um.<\/p>

Als ich es wage, dieses Problem zur Sprache zu bringen, wird mir eine besch\u00e4mende Lektion erteilt. \u201eSie scheinen die Geschichte nicht zu kennen\u201c, sagt man herablassend. \u201eWer hat die Welt erobert? Das waren doch unterbev\u00f6lkerte Nationen: Portugal, als dort nur eine Handvoll Menschen lebte; Spanien, Holland, England. Als diese V\u00f6lker auf Eroberung auszogen, hatten sie doch gen\u00fcgend Raum, um im eigenen Land satt zu werden. Nein, nicht Bev\u00f6lkerungsdruck, sondern Machtgier und Eroberungslust trieben die Menschen dazu, andere V\u00f6lker zu unterwerfen.\u201c<\/p>

In einem letzten Versuch, mich nicht geschlagen zu geben, spreche ich von der Notwendigkeit des \u201eLebensraums\u201c. Daraufhin zeigt man mir auf einer chinesischen Landkarte gro\u00dfe Gebiete, die nahezu unbesiedelt sind, und erkl\u00e4rt: \u201eWir k\u00f6nnen noch viele hundert Millionen verkraften. Bei uns kommen nur 70 Einwohner auf einen Quadratkilometer. In der Bundesrepublik sind es 210, in Holland sogar 350. Und sind diese V\u00f6lker etwa arm? M\u00fcssen sie explodieren? Sie brauchen sogar fremde Arbeitskr\u00e4fte, und es geht ihnen heute besser denn je zuvor.\u201c<\/p>

\u201eUnsere Revolution hat lediglich die Aufgabe, unserem Volk \u00e4hnliche M\u00f6glichkeiten zu schenken und f\u00fcr die kommenden Generationen Arbeit zu schaffen. Wenn eure Theorie von der \u201egelben Gefahr\u201c richtig w\u00e4re, w\u00fcrden wir dann die Geburten beschr\u00e4nken? W\u00fcrde Mao Tse-tung dann erkl\u00e4ren, das neue Verh\u00fctungsmittel \u2013 die Plastikspirale \u2013 sei eine der bedeutendsten Errungenschaften der Menschheit und f\u00fcr uns Chinesen ebenso wichtig wie unsere Revolution?\u201c<\/p>

So sprechen Professoren und Parteifunktion\u00e4re. Wenn ich B\u00e4uerinnen und Arbeiterinnen frage, ob sie bereit sind, die Zahl ihrer Kinder zu beschr\u00e4nken, dann sagen alle: \u201eJa, zwei oder h\u00f6chstens drei gen\u00fcgen vollkommen.\u201c Sie sind \u00fcberzeugt, da\u00df Mao Tse-tung nur ihr Bestes will, und folgen deshalb bereitwillig den Empfehlungen aus Peking.<\/p>

F\u00fcr Intellektuelle und Studenten ist die Lage etwas komplizierter. Sie glauben, da\u00df Kinder weit weniger wichtig sind als das Verh\u00e4ltnis zwischen Mann und Frau. F\u00fcr sie ist die Liebe das wichtigste aller Probleme.<\/p>

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Diese beiden lieben sich. Ihr Blick sagt es. Ob sie zusammen passen, messen sie jedoch nicht an Z\u00e4rtlichkeiten, sondern an ihrer Einstellung zum Krieg in Vietnam<\/em><\/strong><\/p><\/div><\/div>

Es mag f\u00fcr viele Leser neu und unglaubw\u00fcrdig klingen: Die chinesischen Kommunisten sind fanatische Verfechter der Liebe. Sie wird als ein fortschrittliches Gef\u00fchl verherrlicht, als der endg\u00fcltige Beweis individueller Freiheit und echter Zivilcourage. Und meistens ist das gar nicht so einfach.<\/p>

\u201eWir wissen, da\u00df nur die Liebe das alte Verh\u00e4ltnis zwischen Mann und Frau radikal \u00e4ndern kann\u201c, erkl\u00e4rt eine junge \u00c4rztin. \u201eAber wir haben Angst, unsere Gef\u00fchle zu zeigen \u2013 oder gar weiter zu gehen.\u201c
\u201eIhr lernt doch schon in der Volksschule pr\u00e4zise Details \u00fcber Empf\u00e4gnisverh\u00fctung. Warum?\u201c
\u201eUm auf die Ehe vorbereitet zu sein.\u201c
Das klingt schon wieder abweisend. Wie jedesmal, wenn ich mit jungen Chinesinnen \u00fcber die Liebe spreche. Diesmal lasse ich nicht locker: \u201eSoviel ich wei\u00df, d\u00fcrft ihr erst mit Achtzehn heiraten und tut es meist nicht vor F\u00fcnfundzwanzig.\u201c
\u201eVerstehen Sie denn nicht, da\u00df wir unsere Vergangenheit noch nicht verkraftet haben\u201c, ruft die Frau. \u201eBis vor kurzem geh\u00f6rte die Liebe nicht ins Herz. Sie war die Peitsche im Viehstall, in dem wir Frauen leben mu\u00dften.\u201c<\/p>

Es bedarf vieler Fragen und Umwege, bevor ich verstehe, warum Moral heute in China so gro\u00df geschrieben wird. Koketterie, Vergn\u00fcgen, Wahl und Erotik waren vor der Revolution das traurige Privileg der Konkubinen und Freudenm\u00e4dchen. Die Liebe war anr\u00fcchig. Sie war der Ausdruck eines niederen Lebenswandels oder tiefster Versklavung, wie sie jene M\u00e4dchen erdulden mu\u00dften, die schon als Kinder an Bordelle verkauft wurden. Wenn sie nicht zum Geb\u00e4ren und Schuften benutzt wurde, war die Frau nur sexuelles Objekt.<\/p>

Weder sexbesessen noch heiratsw\u00fctig<\/strong><\/p>

Das gr\u00e4\u00dflichste Symbol dieser Erniedrigung waren die verkr\u00fcppelten F\u00fc\u00dfe. Die winzigen, von Kindheit an durch Bandagen im Wachstum behinderten F\u00fc\u00dfe galten als der sublimste Ausdruck erotischen Raffinements. Die Frauen watschelten zwar wie Enten oder mu\u00dften getragen werden. Aber darauf kam es nicht an. Die Verst\u00fcmmelung zwang sie zu einer Gangart und Haltung, die gewisse Muskeln des Leibes besonders stark und beweglich machten. Und wenn die f\u00fcnf Typen und achtzehn Varianten der winzigen F\u00fc\u00dfe lyrisch besungen wurden, dann waren es ebenso viele Anspielungen auf Gen\u00fcsse, die zwar mit der Form der F\u00fc\u00dfe zu tun hatten, die aber keineswegs durch deren Betrachtung geschenkt wurden.<\/p>

In China wurden, wie nirgends sonst auf der Welt, erotische Spielarten weiblichen Geschlechts gez\u00fcchtet, und es ist deshalb verst\u00e4ndlich, wenn heute die jungen Chinesen der Sexualit\u00e4t mit Mi\u00dftrauen begegnen. Sie ist zu innig mit der Erniedrigung der Frau verquickt.<\/p>

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Ihre Badeanz\u00fcge sind altmodisch, Schminke und Lippenstift sind verp\u00f6nt. Krampfhaft versucht man, nicht mehr lockendes Weibchen zu sein, sondern nur noch Kamerad<\/strong><\/em><\/p><\/div><\/div>

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\u201eAuch wir sind kokett und lieben z\u00e4rtliche Worte\u201c, sagt eine Studentin. \u201eAber wir d\u00fcrfen uns nicht vergessen. Das will niemand im Westen verstehen. F\u00fcr euch ist China ein gro\u00dfes Konzentrationslager der Lieblosigkeit, weil wir weder sexbesessen noch heiratsw\u00fctig sind.\u201c
\u201eBei uns …\u201c Ich komme nicht weiter.
\u201eWenn ich recht unterrichtet bin, gehen achtzig Prozent eurer Studentinnen zur Universit\u00e4t, um einen gutsituierten Mann zu finden. Sobald sie verheiratet sind, geben sie ihren Beruf auf und damit ihre Freiheit. Bei uns werden Sie nicht eine einzige Studentin finden, die ihren Beruf an den Nagel h\u00e4ngt, wenn sie heiratet. Sonst w\u00e4re die Ehe doch nichts anderes als ein Kompromi\u00df zwischen Existensangst und Sentimentalit\u00e4t.\u201c
Jetzt oder nie kann ich die Frage wagen: \u201eLieben Sie?\u201c
\u201eNat\u00fcrlich!\u201c Es ist fast ein Schrei. \u201eAber ich kann warten\u201c, f\u00e4hrt sie ruhig fort, \u201ebis wir beide unser Studium beendet haben.\u201c
\u201eUnd was tut ihr? Wor\u00fcber sprecht ihr?\u201c
\u201e\u00dcber unsere Arbeit, \u00fcber den Krieg in Vietnam. An unserer Einstellung zu solchen Fragen messen wir, ob wir zusammengeh\u00f6ren. Man braucht doch nicht im Bett zu liegen, um zu wissen, wer der andere ist.\u201c<\/p>

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Seit amerikanische Flugzeugtr\u00e4ger im S\u00fcdchinesischen Meer kreuzen, spielen selbst die Kleinsten \u201eKrieg gegen die USA\u201c<\/strong><\/em><\/p><\/div><\/div>

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\u201eWissen Sie, wie ihr mir vorkommt? Wie der Wirklichkeit gewordene Traum europ\u00e4ischer Moralisten und Theologen. Ihr habt all das verwirklicht, wovon die H\u00fcter unserer traditionellen Ordnung im neunzehnten Jahrhundert tr\u00e4umten: zun\u00e4chst das Studium, dann die Arbeit und sp\u00e4ter die wohl\u00fcberlegte Liebe. Keuschheit vor der Ehe und das Paar mit Kind und Kegel als der moralische Zement der Gesellschaft. Ihr verk\u00f6rpert das Ideal unserer Gro\u00dfv\u00e4ter.\u201c
\u201eNein\u201c, unterbricht sie hastig, \u201edas ist nicht wahr. Zu eurer Moral geh\u00f6rte die Entfremdung der Frau, ihre Abh\u00e4ngigkeit vom Mann. Die haben wir \u00fcberwunden. Hoffentlich geben Sie das zu?\u201c
Ich nicke, und die Studentin atmet erleichtert auf.<\/p>

Soll man nun lachen oder weinen? W\u00e4hrend bei uns die \u201esexuelle Revolution\u201c im Gange ist und alle Erzieher ratlos die H\u00e4nde ringen, bedauert man die chinesische Jugend, weil sie den Lippenstift ablehnt, wi\u00dfbegierig studiert und wenig oder gar nicht flirtet. Ihre selbstauferlegte Tugend wird als Beweis mangelnder Freiheit zitiert und ihre Opferbereitschaft als politische Unterdr\u00fcckung ausgelegt.<\/p>

Eines habe ich auf dieser Reise besser denn je verstanden: Den Luxus politischer Freiheit k\u00f6nnen sich nur reiche V\u00f6lker leisten. Um mit einer tausendj\u00e4hrigen schrecklichen Vergangenheit fertig zu werden, um siebenhundert Millionen Menschen von der Angst vor Hunger und Zukunft zu befreien, bedarf es gro\u00dfer Opfer. Dazu geh\u00f6ren kollektive Disziplin ebenso wie puritanische Lebenshaltung. Und wer unbefangen genug ist, hinter gelber Hautfarbe und roter Politik zun\u00e4chst den Menschen zu sehen, das einfache, unpolitische Wesen, das pathetisch um Leben, Liebe und Sicherheit bangt und k\u00e4mpft wie jeder von uns, der kann nur feststellen, da\u00df sich f\u00fcr die Chinesen ein gewaltiger Wandel zum Guten vollzogen hat. Sie sind sogar tausendmal freier als je zuvor.<\/p>

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Der Mythos von den \u201eblauen Ameisen\u201c ist tot. Die Chinesen sind nicht mehr anonyme Wesen in unscheinbar gleichf\u00f6rmigen Kitteln. Wie bei uns beherrschen heute bunte Kleidung und ein gelockerter Lebensstil das Stra\u00dfenbild<\/strong><\/em><\/figcaption><\/figure>

Ob der erwachte Kolo\u00df eine politische Gefahr bedeutet, steht hier nicht zur Debatte. Wir schreiben im Augenblick \u00fcber das Los der Frau \u2013 in China haben die Frauen, im Vergleich zu fr\u00fcher, sicherlich das Gro\u00dfe Los gezogen.<\/p>

Im n\u00e4chsten ste<\/strong><\/em>rn
Japan –
die ideale Geliebte<\/strong><\/p>","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Stern, Heft 30, 24. Juli 1966 Fr\u00e4ulein Han tr\u00e4gt eine wei\u00df-rot karierte Hose, eine gelbe Bluse und schwarze Samtpantoffeln. Ihre Z\u00f6pfe reichen bis zu den H\u00fcften. Als sie sich mir zuwendet, fliegen die Z\u00f6pfe wie zwei Besen durch die Luft. \u201eJa, Sie haben richtig geh\u00f6rt\u201c, sagt die junge Chinesin. \u201eWir erziehen unsere Eltern. Besonders die…<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":63204,"parent":62861,"menu_order":15,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":{"_seopress_robots_primary_cat":"","_seopress_titles_title":"","_seopress_titles_desc":"","_seopress_robots_index":"","footnotes":""},"categories":[],"tags":[],"class_list":["post-63187","page","type-page","status-publish","has-post-thumbnail","hentry","entry","has-media"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/63187"}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/types\/page"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=63187"}],"version-history":[{"count":5,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/63187\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":64927,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/63187\/revisions\/64927"}],"up":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/62861"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media\/63204"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=63187"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=63187"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=63187"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}