{"id":63264,"date":"2020-10-15T00:51:04","date_gmt":"2020-10-14T22:51:04","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=63264"},"modified":"2022-08-03T15:12:56","modified_gmt":"2022-08-03T13:12:56","slug":"die-ideale-geliebte-japan","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/1-die-frauen-dieser-welt\/die-ideale-geliebte-japan\/","title":{"rendered":"Die ideale Geliebte (Japan)"},"content":{"rendered":"

Stern, Heft 31, 31. Juli 1966<\/em><\/p>

In Japan werden Lust und Vergn\u00fcgen nicht als \u00dcbel oder Schw\u00e4che verdammt. Physische Freuden werden ausgekostet wie alles Sch\u00f6ne im Leben \u2013 sie m\u00fcssen sogar kunstvoll gespendet und empfangen werden. Auch den offenen Kampf der Geschlechter gibt es nicht. Jede Frau lernt bereits als Kind, da\u00df sie f\u00fcr den Mann geschaffen wurde. Ihm zu dienen ist ihre h\u00f6chste Aufgabe. Ihn zu erfreuen ihre Pflicht. Die Liebe wird zum Ritus, zu einem Fest des Lebens. Selbst westlich gekleidete Barm\u00e4dchen vergessen diese Erziehung nicht.<\/strong><\/p>

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Wer m\u00f6chte nicht einmal Sternschnuppen fangen und mit ihnen in eine v\u00f6llig verzauberte Welt fliegen? Wer nicht eine Rose zum Leben erwecken, damit sie zeitlebens das seine versch\u00f6nt? Leuchtend wie beseeltes Porzellan.
Japan ist der Himmel, durch den solche Sternschnuppen huschen. Der Garten, in dem diese Rosen bl\u00fchen: die Frauen. Weiblich, zerbrechlich, dienend, verspielt und doch ernst mit einem Hauch von Melancholie. Wesen, die nur zur Versch\u00f6nerung des Lebens geschaffen zu sein scheinen. Ihre Haut ist wie Seide. Ihre Seele faszinierend unergr\u00fcndlich. Der K\u00f6rper entspricht in seinen Proportionen \u2013 kurze Beine, dicke Waden, flache Br\u00fcste \u2013 zwar nicht den europ\u00e4ischen Idealen weiblicher Sch\u00f6nheit, daf\u00fcr aber antwortet er wie ein ganzes Sinfonieorchester auf den Stab des Dirigenten.
Wer solch eine Sternschnuppe schnappen kann, wird ein neuer Mann. Schwache f\u00fchlen sich stark. Impotente erwachen zu neuem Leben. Gro\u00dfm\u00e4uler werden still und sanft, Neurotiker und Verklemmte zu verr\u00fcckten Verf\u00fchrern.
Ich habe viele M\u00e4nner gesehen, die sich so ver\u00e4ndert haben. Es ist kaum zu beschreiben. Man mu\u00df es selbst erlebt haben, um zu wissen, was es hei\u00dft, einem Wesen zu begegnen, das alles von einer Katze hat, ja selbst die stolze Unabh\u00e4ngigkeit des Raubtiers ausstrahlt und sich doch mit treu blickenden Augen wie ein Hund vor seinem geliebten Herrn benimmt.
Deshalb verstehe ich auch nicht, warum mein Freund John wie ein Toter am Boden liegt und das Zimmer verpestet, als habe er in Whisky gebadet. Denn gerade er hatte ein solches Gesch\u00f6pf getroffen. Und der Vergleich mit den Sternschnuppen stammte von ihm. Als wir gestern durch Tokio bummelten, hatte er mir noch von seiner Verzauberung erz\u00e4hlt.<\/p>

Vorher wird gebadet<\/strong><\/p>

Sie hie\u00df Masako. Drei Wochen hatte er geduldig um sie geworben. Und dann war es endlich passiert. Ohne Voranmeldung. Wie ein pl\u00f6tzlicher Sturm \u00fcber spiegelglatter See. Sie hatte ihn einfach mit zu sich nach Hause genommen: ein kleines Zimmer. Ein Bad. Eine Ecke zum Kochen. Da gab es keinen Stuhl. Nur ein paar Kisten. Zuerst servierte sie ihm Sake (Reiswein). Sp\u00e4ter holte sie eine Matratze aus dem Schrank und legte sie aus. Das Bett. Dann zog sie langsam an Johns Socken, bis die F\u00fc\u00dfe nackt waren. Er fand das komisch. Weniger wohl f\u00fchlte er sich, als sie auch Jacke und Hemd abnahm. Er wollte sich wehren. Sie l\u00e4chelte nur und machte h\u00f6fliche Knickse, bis sie ihn ganz ausgezogen hatte.
Dann f\u00fchrte sie ihn ins Bad und setzte ihn auf einen Schemel. John suchte verzweifelt nach einem Handtuch, um wenigstens das um seine Lenden zu wickeln. Aber sie tat alles mit einer solchen Selbstverst\u00e4ndlichkeit, da\u00df seine englische Zur\u00fcckhaltung mit dem ersten Eimer Wasser davongeschwemmt wurde. Sie seifte ihn ein, wusch ihn sorgf\u00e4ltig und sp\u00fclte ihn siebenmal ab. Anschlie\u00dfend wurde er in ein kleines Holzbecken mit hei\u00dfem Wasser gesteckt, aus dem er rot wie ein gekochter Hummer erst nach einigen Minuten wieder herausdurfte.
Jetzt glaubte John, da\u00df es an ihm sei, die Rolle des Putzers zu \u00fcbernehmen. Aber nein: \u201eM\u00e4dchen waschen sich immer selber.\u201c \u2013 Das klang so bestimmt, da\u00df er nicht zu widersprechen wagte und sich wie ein artiges Baby ins Bett legen lie\u00df.<\/p>

Kein Kampf der Geschlechter<\/strong><\/p>

\u201eDu kannst es dir kaum vorstellen\u201c, hatte er erz\u00e4hlt. \u201eSie tut alles mit dem ernsten Eifer eines Kindes. Manchmal sieht es so aus, als w\u00fcrde sie nur sehr sorgf\u00e4ltig ihre Schulaufgaben machen. Und dann f\u00fchle ich, wie sie lebt und bebt Gewissenhaft, mit einem leuchtenden L\u00e4cheln. Sp\u00e4ter hat sie mich sogar massiert. Den Hals, die Schultern. Ich habe nie so gut geschlafen.\u201c<\/p>

Wer Japan nicht kennt, h\u00e4tte wahrscheinlich geantwortet, da\u00df John einer begabten Prostituierten in die H\u00e4nde gefallen war, die ihre Aufgabe ernst nahm. Das war keineswegs der Fall. Masako stammte aus einer angesehenen Familie aus Osaka und studierte in Tokio. Was sie von den Frauen unterschied, die John bis jetzt in seiner Heimat gekannt hatte, war vor allem ihre Einstellung zur Liebe, die frei von jedem Schuldgef\u00fchl ist. Lieben ist keine S\u00fcnde, Scham in unserem Sinne unbekannt. Aber zimperlich zu lieben oder seine Rolle als Frau st\u00fcmperhaft zu spielen \u2013 das ist in Japan ein grober Versto\u00df gegen die Sitte.<\/p>

\u201eIch werde sie heiraten\u201c, jubelte John. \u201eSolch eine Frau kriege ich nie und nirgends wieder. Niemals!\u201c
\u201eVorsicht, alter Junge, das sagen die meisten Ausl\u00e4nder nach der ersten Begegnung mit einer japanischen Frau.\u201c<\/p>

Die Gr\u00fcnde sind derart augenscheinlich, da\u00df ich glaubte, auch John \u00fcberzeugen zu k\u00f6nnen: Da kommt ein Mann aus Europa oder Amerika, wo die Frauen recht anspruchsvoll sind. Sie wollen verehrt, bedauert, begehrt, bemitleidet oder in den Himmel gehoben werden \u2013 sei es als Geliebte, als Mutter oder als Frau. Immer verlangen sie etwas, und sei es nur Mitleid.
Dabei wissen sie nie genau, ob sie Partner sein m\u00f6chten oder Weibchen, Frau oder Kamerad. Sie sind zu seelischen Zwittern geworden, in die der Mann seine Idealvorstellungen hineinpumpt wie in einen durchl\u00f6cherten Ballon, bis ihm die Puste ausgeht.<\/p>

Die Gleichberechtigung hat die Geschlechter unsicher gemacht. Der Mann ist nicht mehr der Herr und m\u00f6chte es so gern noch sein. Die Frau ist nicht mehr das Weibchen, aber sie versucht immer noch, als solches zu bet\u00f6ren und zu erpressen. Niemand kennt mehr seinen Platz. Und die meisten M\u00e4nner sehnen sich nach einem Partner, der Mutter, Kind und Weib vereint, wenig oder gar nichts verlangt und alles gibt. Solch eine Frau existiert heute weder diesseits noch jenseits des Atlantiks.<\/p>

In Japan wird dieser Traum Fleisch und Blut. Eine traditionell erzogene Japanerin wei\u00df nichts von den Zweifeln ihrer wei\u00dfen Schwestern. Sie kennt genau ihre Rolle im komplizierten Gef\u00fcge von Rechten und Pflichten. Da gibt es eine Welt der M\u00e4nner und eine Welt der Frauen, keinen offenen Kampf der Geschlechter, sondern pr\u00e4zise abgesteckte Grenzen f\u00fcr jeden. Diese zu respektieren ist f\u00fcr sie ebenso selbstverst\u00e4ndlich wie das Atmen. Sie hat gelernt, die Rangordnung der gesellschaftlichen und geschlechtlichen Unterschiede zu achten \u2013 ja, darauf ihre Lebensberechtigung abzuleiten. Zuerst kommt der Mann. Ihm zu dienen ist ihre h\u00f6chste Aufgabe. Ihr zu erfreuen ihre Pflicht. Wenn sie dabei, heimlich hungrig, sich selbst nicht vergi\u00dft, dann ist das ihre Sache \u2013 oder vielmehr abermals in ihrer Erziehung verankert. Denn sie hat gelernt, da\u00df die Liebe ein Ritus ist, ein Fest des Lebens.<\/p>

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Begr\u00fc\u00dfung \u2013 die Etikette des japanischen Alltags ist so streng, da\u00df jede Sekunde \u00e4u\u00dferste Selbstbeherrschung notwendig ist. Selbst die Liebe unterliegt Gesetzen, die Spontanit\u00e4t ausschlie\u00dfen<\/em><\/figcaption><\/figure>

Mann, Geliebter, Held und Herr<\/strong><\/p>

Die meisten Japaner sind Buddhisten. Obwohl diese Religion Entsagung empfiehlt, hat man in Japan die Lust und das Vergn\u00fcgen nicht als \u00dcbel oder Schw\u00e4che verdammt. Im Gegenteil. Physische Freuden werden ausgekostet wie alles Sch\u00f6ne und Angenehme im Leben. Sie m\u00fcssen sogar kunstvoll gespendet und empfangen werden. Sie geh\u00f6ren zum Bereich der Sinne und Gef\u00fchle, die noch fl\u00fcchtiger sind als die ebenfalls verg\u00e4ngliche Welt der Dinge, und sie werden gehegt wie das Blumenbeet des Lebens.<\/p>

Was sp\u00e4ter kommt ist unwichtig. Die Japaner glauben nicht an einen Himmel oder \u00e4hnliches, wo wir f\u00fcr irdische Taten bestraft oder belohnt werden. Deshalb kultivieren sie das Reich der Sinne und alles Verg\u00e4ngliche mit dem Respekt, der ihrer fl\u00fcchtigen Einmaligkeit entspricht.<\/p>

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Freiheit in sexuellen Fragen hat es den Japanern leicht gemacht, das Problem der Geburtenkontrolle ohne falsche Scham zu l\u00f6sen. Heute haben sie den geringsten Geburten\u00fcberschu\u00df Asiens: 1,1 Prozent<\/em><\/figcaption><\/figure>

Kein Wunder, da\u00df der Ausl\u00e4nder den Verstand verliert, wenn er pl\u00f6tzlich diesen zerbrechlichen Gesch\u00f6pfen gegen\u00fcbersteht, die das komplizierte Spiel der Liebe mit der unschuldigen Art von Kindern meistern. Jetzt f\u00fchlt er sich Vater, Mann, Geliebter, Held und Herr zugleich. Die in der Heimat verdr\u00e4ngten Tr\u00e4ume werden hier Wirklichkeit. Seine \u201eSeele\u201c und seine \u201eM\u00e4nnlichkeit\u201c scheinen sich pl\u00f6tzlich zu decken. \u201eO Gott\u201c, schreit er, \u201edas kann doch nur Liebe sein. Echte Liebe.\u201c
Als das hatten wir in Tokio schon oft diskutiert. Auch John h\u00f6rte aufmerksam zu \u2013 und glaubte nat\u00fcrlich kein Wort.
\u201eWir lieben uns nun schon vierzehn Tage\u201c, sagte er. \u201eUnd jeden Abend ist es d a s Erlebnis meines Lebens. Warum soll ich z\u00f6gern?\u201c<\/p>

Da wiehern die Teutonen<\/strong><\/p>

Ich gab zu bedenken, da\u00df die meisten Mischehen schiefgehen \u2013 laut Statistik.\u201eWarum?\u201c wollte er wissen.
\u201eWeil wir Wei\u00dfen grotesk gro\u00dfe Nasen haben, Hundeaugen und Kinders\u00e4rge an Stelle von F\u00fc\u00dfen. Wir riechen auch entsetzlich und haben eine Haut wie Schmirgelpapier. Das k\u00f6nnen die kleinen Damen auf die Dauer nicht ertragen, obwohl unsere h\u00f6fliche Art \u2013 im Vergleich zur R\u00fcpelhaftigkeit des japanischen Mannes \u2013 sie vor\u00fcbergehend in die Wolken hebt.\u201c
\u201e\u00c4u\u00dferlichkeiten sollen die Ehe zerst\u00f6ren?\u201c‘
\u201eNur zum Teil. Gemessen am Sch\u00f6nheitsideal der Japaner sind wir wirklich unf\u00f6rmige Gestalten. Aber wahrscheinlich gehen die meisten Mischehen auseinander, weil der Ausl\u00e4nder letztlich doch mehr verlangt als perfekten Service. Sicherlich, weil er langsam von Zweifeln aufgefressen wird; denn nie kommt er dahinter, ob die Frau ihn wirklich liebt, oder nur ihre Rolle vollendet spielt. Die Deutschen sind Ausnahmen. Mit denen scheint es meistens zu klappen.\u201c
\u201eHast du auch daf\u00fcr eine Erkl\u00e4rung?\u201c fragt er sp\u00f6ttisch. \u201eGerade sie haben gro\u00dfe F\u00fc\u00dfe und sind so furchtbar sentimental.\u201c
\u201eIch wei\u00df nur, wie man es hier erkl\u00e4rt: Angeblich giert der Deutsche am meisten nach Verehrung und verwechselt deshalb Opferbereitschaft mit Liebe. Seine Gef\u00fchlsduselei soll auch nur Theater sein. Genau wie Kinder weinen, um Zugest\u00e4ndnisse zu erzwingen, so zeigt er sein gro\u00dfes deutsches Herz, um Treue und Gehorsam zu erpressen. Er kann hier tun, was er will. Seitenspr\u00fcnge werden mit einem L\u00e4cheln quittiert, selbst Ohrfeigen duldend eingesteckt. ,Da wiehern die Teutonen und f\u00fchlen sich gl\u00fccklich`, sagte mir einmal eine weitgereiste Japanerin, ,dabei scheinen die gar nicht zu merken, wie dick wir es hinter den Ohren haben.\u00b4\u201c
\u201eDas kannst du mir nicht einreden\u201c, protestierte John. \u201eMasako hat es nicht dick hinter den Ohren. Sie ist z\u00e4rtlich. Sie w\u00e4scht mich. Sie massiert mich. Sie tut alles mit soviel Liebe.\u201c
\u201eAber, alter Junge, das bedeutet nicht mehr, als wenn du einer Frau in den Mantel hilfst. Es ist nur Etikette. Versteh` doch.\u201c
\u201eH\u00f6r auf damit. Ich kriege Bauchschmerzen. Du verstehst eben nichts von Frauen. Sie liebt mich. H\u00f6rst du? Und heute werden wir uns verloben.\u201c<\/p>

Das waren Johns letzte Worte, als wir uns vor Masakos Wohnung verabschiedeten. Und jetzt stinkt er nach Whisky und kann sich kaum r\u00fchren. Neben ihm liegt ein teurer Brillantring. Sein Verlobungsgeschenk f\u00fcr Masako.<\/p>

Nach dem dritten Glas Reiswein hatte John den Ring stolz an Masakos Finger gesteckt und feierlich um ihre Hand angehalten. Die erwarteten feuchten Augen blieben aus. Sie wurde rot. Zum erstenmal schien sie erregt, fast ungehalten.<\/p>

\u201eDer Brillant ist echt\u201c, stammelte John aus purer Verlegenheit. Zu seinem Ungl\u00fcck, denn jetzt ri\u00df sie den Ring vom Finger.
\u201eIch kann diese Pflicht nicht tragen.\u201c Ihre Augen wurden hart, wie John es noch nie gesehen hatte. \u201eMit diesem Ring machst du mich ungl\u00fccklich. Ich bin nicht stark genug, ihn anzunehmen.\u201c<\/p>

Waren es Phrasen? Ausfl\u00fcchte? Er hatte doch schon einige Male vom Heiraten gesprochen. Wollte sie ihn kr\u00e4nken? John konnte es nicht sagen. Es war entsetzlich lange still im Raum. Dann hatte Masako pl\u00f6tzlich ihr unschuldiges L\u00e4cheln wiedergefunden, das Bett ausgerollt und das Bad vorbereitet. Er rannte w\u00fctend davon uns betrank sich in der n\u00e4chsten Bar.<\/p>

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Hochzeit in Tokio. Fr\u00fcher wurden alle Ehen zwischen den Eltern abgesprochen. Auch heute noch heiraten viele M\u00e4dchen den Mann, den Vater und Mutter ausgesucht haben<\/em><\/figcaption><\/figure>

Die Last der moralischen Schuld<\/strong><\/p>

Das typische Mi\u00dfverst\u00e4ndnis zwischen zwei Menschen aus v\u00f6llig verschiedenen Welten. Ich m\u00f6chte wetten, da\u00df selbst Masako schon ans Heiraten gedacht hatte. Aber nicht so. Nicht ohne die Erlaubnis ihrer Eltern wahrscheinlich. Sicherlich nicht unter Zwang. F\u00fcr japanische Ma\u00dfst\u00e4be hatte John versucht, sie zu zwingen, und die somit tief beleidigt. Er h\u00e4tte wissen m\u00fcssen, da\u00df es f\u00fcr Japaner kaum etwas Schlimmeres gibt, als der \u201emoralische Schuldner\u201c eines anderen Menschen zu werden. Ein Geschenk, ja selbst Aufmerksamkeit oder nur H\u00f6flichkeit, die nicht durch Rang oder gesellschaftliches Gef\u00e4lle gerechtfertigt sind, machen den Empf\u00e4nger zum Gefangenen einer inneren Verpflichtung. Man hat ihm eine Last aufgeb\u00fcrdet, der er sich eigentlich nie wieder entledigen kann. Deshalb war das Geschenk, das John als ein Zeichen der Liebe betrachtete, f\u00fcr Masako der Inbegriff der Erniedrigung \u2013 wenigstens in jenem Stadium ihrer Beziehung.<\/p>

Es geht hier um Begriffe, f\u00fcr die bei uns fast die Vokabeln fehlen, vor allem die entsprechenden Gef\u00fchle. Nur wer gesehen hat, wie Japaner sich streiten, wenn es ums Zahlen einer Restaurantrechnung geht, kann sich ein Bild davon machen, wie empfindlich sie auf Geschenke und die hieraus entstehenden Verpflichtungen reagieren. Wenn da einer heimlich bezahlt, ohne da\u00df es sein \u201eRecht\u201c ist, dann kann es sogar zum Totschlag kommen.<\/p>

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Genau wie sich Tradition und westliches Leben im Dasein der Japaner verquicken, so bohren sich moderne Bauten durch alte, winklige Gassen. Hier eine Schnellstra\u00dfe in Tokio<\/em><\/figcaption><\/figure>

Meisterin im Labyrinth der Gef\u00fchle<\/strong><\/p>

Warum zum Beispiel gehen viele Japaner scheinbar unber\u00fchrt an einem Verungl\u00fcckten vorbei? Um ihn nicht zu kr\u00e4nken. Buchst\u00e4blich. Der Beistand k\u00f6nnte als ein Versuch ausgelegt werden, ungerechtfertigte Vorteile und Rechte zu erschleichen. Nur die Polizei darf helfen. Es ist ihre Aufgabe, und der Verletzte braucht sich weder beleidigt noch verpflichtet zu f\u00fchlen.<\/p>

Zur\u00fcckgewiesene Zuneigung kann ebenfalls katastrophale Folgen haben. Wenn ein Japaner sich wie John hinrei\u00dfen lie\u00dfe, im falschen Augenblick Liebe und Ehe gemeinsam mit einem kostbaren Ring anzubieten, ohne erh\u00f6rt zu werden, dann k\u00f6nnte er sich nie wieder sehen lassen. Vor zwanzig Jahren h\u00e4tte er wahrscheinlich Selbstmord begangen. Nicht aus Liebeskummer. Sein verletztes Ich h\u00e4tte nicht \u00fcberleben k\u00f6nnen.<\/p>

Deshalb binden sich junge M\u00e4nner T\u00fccher um den Kopf, wenn sie M\u00e4dchen den Hof machen. In einigen Gegenden Japans ist es gestattet, sich nachts in Zimmer eines M\u00e4dchens zu schleichen und um ihre Gunst zu bitten. Nat\u00fcrlich wei\u00df es genau, wer den Antrag stellt. Um jedoch sein \u201eGesicht\u201c zu wahren, versteckt der Bewerber es sorgf\u00e4ltig, So kann er sich im Falle eines Korbes einreden, pers\u00f6nlich nicht betroffen zu sein.<\/p>

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In diesem komplizierten Spiel von Geben und Nehmen, von Verpflichtung, Abh\u00e4ngigkeit, Schuld und \u201eGesicht\u201c k\u00f6nnen Europ\u00e4er sich nie zurechtfinden. Wie sollten sie auch? Besonders wenn es um Frauen geht. Nur ihre Virtuosit\u00e4t in diesem Gef\u00fchlslabyrinth verdanken es die japanischen Frauen, da\u00df sie trotz Unterw\u00fcrfigkeit und gegenteiligen Anscheins nie wirklich Sklaven des Mannes geworden sind.<\/p>

Wir sprechen von ihrem Mann, Es geschieht mit solcher Offenheit, weil wir Setuko aus Paris kennen, wo sie ein Jahr studiert hat. Sie wurde im alten Stil erzogen. In Frankreich kam ihre Welt ein wenig durcheinander. Trotzdem heiratete sie sp\u00e4ter gehorsam den Mann, den ihre Eltern ihr ausgesucht hatten.<\/p>

Nur einen radikalen Bruch mit der Tradition hatte sie gewagt und erreicht: die Entfernung der Schwiegermutter als Zensor ihres Lebens. Im normalen japanischen Haushalt kontrolliert sie alles, fordert Arbeit, \u00fcberwacht das Verhalten. Falls die Schwiegertochter ihr nicht pa\u00dft, kennt sie Mittel und Wege, um ihren Sohn zur Scheidung zu zwingen. Die M\u00e4nner sind fast nie zu Hause. Bei den Schwiegereltern zu wohnen bedeutet deshalb ein ewiges Zwiegespr\u00e4ch zweier einsamer Frauen verschiedener Generationen, von denen die eine befehlen darf, die andere gehorchen mu\u00df.<\/p>

Es ist viel \u00fcber das unw\u00fcrdige Los der Japanerin geschrieben worden. Meistens wurde der r\u00fccksichtslose Egoismus des japanischen Manens daf\u00fcr verantwortlich gemacht. Letztlich ist es jedoch die Allmacht der Schwiegermutter, die das Leben vieler Frauen unertr\u00e4glich macht und manche zum Selbstmord treibt. Mit dem Mann werden diese kleinen Damen auf ihre Art recht gut fertig, wie Setukos Beispiel beweist.<\/p>

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Ansehen ist wichtiger als Aussehen: Vom westlichen Wahn, um jeden Preis jung zu erscheinen, ist Japan bisher verschont geblieben. Alte Herren haben gro\u00dfe Chancen.<\/em><\/p>\n\n

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Wenn ein junges M\u00e4dchen sich sch\u00f6nmachen l\u00e4\u00dft, mag das sehr wohl einem \u00e4lteren Herrn gelten. In Japan hei\u00dft es: Je \u00e4lter man wird, desto aufregender ist das Leben<\/em><\/p><\/div><\/div>

Jede Z\u00e4rtlichkeit eine Falle<\/strong><\/p>

\u201eIch nehme Anti-Baby-Pillen und lasse die Schachtel sichtbar herumliegen\u201c, erz\u00e4hlt sie weiter. \u201eAuf diese Weise bitte ich ihn, fr\u00fch nach Hause zu kommen.\u201c
\u201eDie mu\u00df man doch jeden Tag nehmen.\u201c
\u201eOh, ihr schwerf\u00e4lligen Europ\u00e4er. Das tue ich auch. Die Schachtel lasse ich nur an solchen Tagen herumliegen, wenn ich will, da\u00df mein Mann nicht alle Bars abklappert, bevor er m\u00fcde nach Hause kommt. Und es geht selten schief.\u201c<\/p>

Eine echte, herk\u00f6mmlich erzogene Japanerin sagt niemals, was sie wirklich will. Alles ist nur Zeichen, Andeutung, Seufzer, ein Spiel mit hundert Spiegeln.
\u201eIn Deutschland w\u00fcrde ein Mann solche Zeichen und Andeutungen gar nicht bemerken\u201c, sage ich zu Setuko.<\/p>

\u201eDas braucht er auch nicht. Eure Frauen fordern, bitten, weinen oder drohen. Ich habe gesehen, wie deutlich die werden k\u00f6nnen. Bei euch gelten Liebe und Z\u00e4rtlichkeit als unkontrollierbare Gef\u00fchle und werden nicht verheimlicht. Der Geliebte ist deshalb auch nicht verpflichtet, gleiche Regungen zu haben. Bei uns ist die Andeutung eines Gef\u00fchls nie spontan oder gar gratis. Jeder Gef\u00fchlsausdruck kann eine Falle sein, ein Netz, in dem der andere sich f\u00e4ngt und nur durch Gegenleistung wieder frei kommt. Stell die vor, ich bin pl\u00f6tzlich weit h\u00f6flicher, als die Konvention es verlangt. Dann mu\u00df mein Mann etwas tun, um die so erfahrene Dem\u00fctigung wiedergutzumachen. Aber was rede ich. Das k\u00f6nnt ihr nie verstehen.\u201c
Ein schelmisches L\u00e4cheln huscht \u00fcber ihr Gesicht. \u201eOder vielleicht doch. Warte!\u201c<\/p>

Nach einer Weile kommt sie mit einem sorgf\u00e4ltig gebundenen Heft zur\u00fcck. \u201eIch mu\u00df es immer gut verstecken\u201c, sagt sie. \u201eDas ist mein Tagebuch. Darin findest du nat\u00fcrlich nichts von dem, was wirklich in mir vorgeht. Ich schreibe nur Dinge, von denen ich wei\u00df, da\u00df sie bei meinem Mann die von mir gew\u00fcnschte Reaktionen ausl\u00f6sen.\u201c
\u201eSetuko, du bist ein kleines Luder.
\u201eNat\u00fcrlich\u201c, antwortet sie ernst, \u201eAus eurer Sicht schon. Ich erreiche genau, was ich will. Aber was will ich? Eigentlich doch nur etwas weniger Einsamkeit. Ist das ein Verbrechen?\u201c
\u201eUnd deinen Mann am G\u00e4ngelband.\u201c
\u201eSelbstverst\u00e4ndlich! Was denkst du denn? Wenn einem von Kindheit an eingebleut worden ist, da\u00df man zum Dienen geboren wurde, dann verlangt man als Frau nach Macht.\u201c<\/p>

Geheime W\u00fcnsche im Tagebuch<\/strong><\/p>

Das Tagebuch ist ein Meisterwerk angewandter Psychologie. Setuko schreibt zum Beispiel hin und wieder ganz beil\u00e4ufig, da\u00df sie \u00fcberzeugt ist, ihr Mann w\u00fcrde es nie lesen. Sie erw\u00e4hnt sein Ehrgef\u00fchl, seine W\u00fcrde und kommentiert: \u201eSonst w\u00fcrde ich all dies ja nicht zu Papier bringen.\u201c<\/p>

Manchmal aber l\u00e4\u00dft sie sich absichtlich beim Schreiben \u00fcberraschen. Seine Neugier soll geweckt werden. Gleichzeitig versteckt sie das Buch mit gro\u00dfer Sorgfalt. Er soll nicht auf die Idee kommen, sie schreibe es nur f\u00fcr ihn. Und jedesmal bringt sie heimliche Siegel an, um zu kontrollieren, wann und was er gelesen hat.<\/p>

Und so \u201ejubelt sie ihm\u201c \u2013 das ist ihr eigener Ausdruck \u2013 eine zus\u00e4tzliche Verpflichtung unter: ihres Vertrauens unw\u00fcrdig zu sein. Aber das gen\u00fcgt immer noch nicht. Er mu\u00df noch tiefer verstrickt werden. Deshalb schreibt sie: \u201eIch kenne seine Diskretion. Er ist ein Ehrenmann und wird nie etwas Unrechtes tun. Aber will ich eigentlich, da\u00df er so stark ist? Verlangt mein Herz nicht heimlich danach, da\u00df er alle Bedenken hinwegfegt? W\u00e4re nicht gerade seine Indiskretion der sch\u00f6nste Beweis daf\u00fcr, da\u00df mein Leben und meine Gef\u00fchle wichtiger sind als seine Ehre? Ich wage nicht daran zu denken!\u201c<\/p>

Auf diese Weise schenkt sie ihm gro\u00dfm\u00fctig eine Entschuldigung f\u00fcr seine Neugierde \u2013 kn\u00fcpft daran aber im gleichen Federstrich die Bedingung der Liebe. Er soll auch annehmen, da\u00df sie von seiner heimlichen Lekt\u00fcre wei\u00df, darf aber nie ganz sicher sein und mu\u00df vor allem ewig zweifeln, ob er nun wirklich den Schl\u00fcssel zu ihren geheimsten Gedanken besitzt oder ob er sich selbst aus Charakterschw\u00e4che in eine Falle gesetzt hat.<\/p>

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Das t\u00e4gliche Leben der meisten Japanerinnen ist hart. Frauen verdienen wenig. Unverheiratete wohnen in kleinen Gruppen zusammen. Vier nackte W\u00e4nde. Eine einzige Matratze als Bett f\u00fcr drei oder vier Schlafgenossinnen<\/em><\/p><\/div><\/div>

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Lieben, aber nicht heiraten!<\/strong><\/p>

Das ist ein kompliziertes Spiel. Nahezu unheimlich f\u00fcr europ\u00e4ische Begriffe. Aber womit soll Setuko ihre Zeit verbringen? Wie soll sie sich sonst im ungleichen Kampf mit dem Herrn und Gebieter behaupten? Und die Erfolge sind sichtbar: Pelzm\u00e4ntel, Schmuck, kostbare Kimonos und eine relative Freiheit. Die Neugierde auf erotische Extravaganzen, von denen sie gelesen hat, wird auf dem Umweg \u00fcber das Tagebuch ebenso prompt befriedigt wie materielle W\u00fcnsche oder moralische Forderungen.<\/p>

Setuko ist vielleicht ein extremer Fall. Ich m\u00f6chte jedoch behaupten, da\u00df die meisten japanischen Frauen sich \u00e4hnlicher Mittel bedienen, um den \u00e4u\u00dferlichen Vorrang des Mannes innerlich auszugleichen. Sie k\u00f6nnen nicht, wie wir, offen \u00fcber Herz und Liebe sprechen. Es bleibt also nur diese hohe Schule der Gef\u00fchlsdiplomatie, die mit Andeutungen und verschl\u00fcsselten Zeichen jene F\u00e4den spinnt, die den Mann fesseln und abh\u00e4ngig machen.<\/p>

Unter diesen Umst\u00e4nden ist es schwer zu wissen, ob eine Japanerin wirklich liebt. Europ\u00e4er erfahren es wahrscheinlich nie. Im ersten Jahr stehen sie verzaubert vor soviel Hingabe und Unschuld. Dann entdecken sie die kleinen F\u00e4den, die bei ihnen nicht richtig ziehen, weil die psychologischen Ansatzpunkte fehlen. Und zum Schlu\u00df glauben sie es nur noch mit einem hart berechnenden Wesen zu tun zu haben, das hinterlistig um seine Vorteile k\u00e4mpft.<\/p>

Kein Wunder, da\u00df Ausl\u00e4nder behaupten, die Japanerin sei zwar die beste Geliebte der Welt, heiraten aber sollte man sie nicht.<\/p>","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Stern, Heft 31, 31. Juli 1966 In Japan werden Lust und Vergn\u00fcgen nicht als \u00dcbel oder Schw\u00e4che verdammt. Physische Freuden werden ausgekostet wie alles Sch\u00f6ne im Leben \u2013 sie m\u00fcssen sogar kunstvoll gespendet und empfangen werden. Auch den offenen Kampf der Geschlechter gibt es nicht. Jede Frau lernt bereits als Kind, da\u00df sie f\u00fcr den…<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":63637,"parent":62861,"menu_order":17,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":{"_seopress_robots_primary_cat":"","_seopress_titles_title":"","_seopress_titles_desc":"","_seopress_robots_index":"","footnotes":""},"categories":[],"tags":[],"class_list":["post-63264","page","type-page","status-publish","has-post-thumbnail","hentry","entry","has-media"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/63264"}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/types\/page"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=63264"}],"version-history":[{"count":5,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/63264\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":64928,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/63264\/revisions\/64928"}],"up":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/62861"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media\/63637"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=63264"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=63264"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=63264"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}