{"id":63308,"date":"2020-09-02T22:57:10","date_gmt":"2020-09-02T20:57:10","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=63308"},"modified":"2022-08-03T15:11:48","modified_gmt":"2022-08-03T13:11:48","slug":"die-rasse-der-sonne-japan","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/1-die-frauen-dieser-welt\/die-rasse-der-sonne-japan\/","title":{"rendered":"Die Rasse der Sonne (Japan)"},"content":{"rendered":"

Stern, Heft 33, 14. August 1966<\/em><\/p>

Rasse der Sonne nennt man Japans junge Generation, die sich vom traditionellen Leben losgerissen hat und moderne Wege sucht. Vor allem in der Liebe. In dunklen Jazz-Kellern kostet Japans Jugend ihre neue Freiheit aus. Oft beseitigt Rauschgift letzte Hemmungen.<\/strong><\/p>

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Tokio. Ein Jazzkeller f\u00fcr junge Leute. Schallplattenmusik, Surrealistische Dekoration. Ungef\u00e4hr f\u00fcnfzig Jungen und M\u00e4dchen. Wir gehen von einem Tisch zum anderen und dr\u00fccken mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze der M\u00e4dchen. Das ist kein neues Gesellschaftsspiel. Es handelt sich um einen Test, den wir gemeinsam mit einem befreundeten japanischen Journalisten durchf\u00fchren. Vor jedem M\u00e4dchen verbeugt er sich h\u00f6flich und fragt: \u201eWir machen eine Untersuchung \u00fcber die Form der weiblichen Nase. Erlauben Sie, da\u00df wir mal kurz auf die Ihre dr\u00fccken?\u201c<\/p>

Die M\u00e4dchen l\u00e4cheln und nicken. Er legt seinen Zeigefinger auf die betreffende Nasenspitze und wackelt einmal darauf hin und her. Dann tue ich das gleiche. Wir kommen jedesmal zum gleichen Ergebnis, das Claude Deffarge in ihr Notizbuch eintr\u00e4gt: \u201eJa\u201c, wenn die Nasenspitze ein einziger harter Punkt ist, \u201enein\u201c, wenn sie sich wie zwei gespaltene Knorpel anf\u00fchlt.<\/p>

Im ersten Fall ist das M\u00e4dchen noch Jungfrau, im zweiten nicht mehr. So wenigstens hatte es uns ein alter Wunderdoktor erkl\u00e4rt, dem wir in einem Dorf an der Westk\u00fcste Japans begegnet waren. Er behauptete, das sei eine sichere Diagnose. Nun wollten wir es auch einmal ausprobieren oder wenigstens zum Vorwand unserer Umfrage machen. Ein indiskreter Test. Zugegeben. Besonders das Ergebnis: Von den zweiundzwanzig \u201ebefragten\u201c Nasen sind siebzehn gespalten, und keines der dazugeh\u00f6rigen M\u00e4dchen ist \u00fcber zwanzig.<\/p>

Jetzt bitten wir die jungen M\u00e4nner an unseren Tisch. Sie kommen ohne Str\u00e4uben. In Japan ist die Jugend heute ebenso umfragefreudig wie in den USA. \u201eW\u00fcrden Sie ein M\u00e4dchen heiraten, das nicht mehr Jungfrau ist?\u201c fragt unser Freund.
\u201eNein\u201c, sagen sieben von zehn mit gro\u00dfer Bestimmtheit. Die \u00fcbrigen meinen, es sei ihnen v\u00f6llig egal, vorausgesetzt, die Frau habe vorher nicht mit einem Ausl\u00e4nder zusammengelebt. \u201eDann sind sie verdorben und ewig unzufrieden.\u201c<\/p>

Einer sieht mich herausfordernd an: \u201eIhr m\u00f6gt es ja auch nicht, wenn eine wei\u00dfe Frau mit einem Neger ausgeht. Oder?\u201c
\u201eGlauben Sie, da\u00df Ihre Begleiterin von heute abend Sie heiraten w\u00fcrde?\u201c fragt unser Freund.
Diesmal sagen die meisten ja.
\u201eAber f\u00fcr Sie sind diese M\u00e4dchen nur vor\u00fcbergehende Freundinnen?\u201c<\/p>

Unsere Fragen sind gezielt indiskret. Nur wenige Jahre \u00e4ltere Gespr\u00e4chspartner w\u00fcrden jeden Satz als Beleidigung auffassen, unsere Zigaretten zur\u00fcckweisen, die Getr\u00e4nke entr\u00fcstet ablehnen, ja, nicht einmal zuh\u00f6ren. Aber die \u201eRasse der Sonne\u201c, wie man die jungen Menschen nennt, die nach den Massakern von Hiroshima und Nagasaki auf die Welt gekommen sind, wollen heute beenden, was damals mit den Atompilzen begann: die Zerst\u00f6rung der alten Ordnung. Jedenfalls benehmen sie sich so und antworten deshalb mit betonter Offenheit auf unsere herausfordernden Fragen.<\/p>

Die letzte wird eindeutig mit \u201eJa\u201c beantwortet. Die anwesenden M\u00e4dchen werden nur als kurzfristige Begleiterinnen betrachtet. Niemand f\u00fchlt sich fest gebunden. Die Begr\u00fcndungen sind jedoch sehr unterschiedlich.
\u201eIch will keine Studentin heiraten\u201c, sagt einer. \u201eDie wissen sp\u00e4ter nicht mehr, was sich geh\u00f6rt.\u201c
\u201eMir kommt es nur auf die Liebe an\u201c, meint ein anderer. \u201eDie habe ich noch nicht gefunden.\u201c
\u201eIch bin der Erstgeborene\u201c, erkl\u00e4rt ein dritter. \u201eDeshalb werde ich in meinem Heimatort eine von meinen Eltern ausgesuchte Frau nehmen. Verstehen Sie. Die Frau mu\u00df meiner Mutter gefallen.\u201c<\/p>

Er wird es nicht leicht haben. Wenigstens nicht mit den M\u00e4dchen der \u201emodernen Welle\u201c. Sie h\u00fcten sich, einen Erstgeborenen zu heiraten. Das mag materielle Vorteile haben und sichere Unterkunft bieten. Es bedeutet aber vor allem, unter der Fuchtel der Schwiegermutter \u201eM\u00e4dchen f\u00fcr alles\u201c zu spielen.<\/p>

\u201eIch lebe auch wirtschaftlichen Gr\u00fcnden mit meiner Freundin zusammen\u201c, erz\u00e4hlt ein Medizinstudent. \u201eUns kommt es nur darauf an, eine Miete zu sparen. Mit einem M\u00e4dchen ist das angenehmer als mit einem Jungen. Viele Studenten tun das.\u201c
Wir finden in der Tat mehrere. Einer behauptet sogar, da\u00df die zu dritt mit einem M\u00e4dchen das Zimmer teilen.
Mir will scheinen, da\u00df Eifersucht eine solche L\u00f6sung des Wohnungsproblems unm\u00f6glich macht.
\u201eAber warum denn?\u201c fragt er erstaunt. \u201eKeiner von uns will sie heiraten. \u00dcbrigens hat sie nebenbei ein paar zahlende Freunde.\u201c
\u201eDas ist also keine Studentin, sondern eine Prostituierte, die bei euch Unterschlupf gefunden hat. Ich verstehe.\u201c
\u201eSie verstehen \u00fcberhaupt nichts\u201c, ruft er. \u201eDas M\u00e4dchen studiert ebenso ernsthaft wie wir. Nebenbei verdient sie Geld, um auch ihrem Bruder das Studium zu erm\u00f6glichen. Das ist sehr ehrenwert.\u201c
\u201eWarum lebt sie dann nicht mit ihrem Bruder zusammen, um dessen Miete zu sparen?\u201c<\/p>

Dem Jungen bleibt die Sprache weg. Er, der sehr gut Englisch spricht, wirft pl\u00f6tzlich ein paar japanische Worte \u00fcber den Tisch und geht davon, ohne seinen Whisky aus zu trinken.
\u201ePasst doch ein wenig auf, was du sagst\u201c, schimpft mein Freund, der Journalist.
\u201eDas war doch nur logisch\u201c, versuche ich mich zu verteidigen.
\u201eAber nicht japanisch.
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Es kann tats\u00e4chlich ehrenhaft sein, wenn eine Schwester sich prostituiert, um das Studium des Bruders zu erm\u00f6glichen. Aber der Junge mu\u00df so tun, als habe er keine Ahnung. Sonst verlieren alle Beteiligten das Gesicht. Verstehst du das denn nicht?\u201c
Sicherlich. Ich verstehe aber auch, da\u00df die sogenannte \u201eRasse der Sonne\u201c ebenso tief im Traditionellen verstrickt ist wie ihre Eltern. Viele der hier versammelten jungen Leute nehmen Philopon, ein ziemlich starkes Rauschgift. Das ist im Augenblick so Mode. Man will beweisen, da\u00df man alles \u00fcber Bord geworfen hat, vor allem die vielger\u00fchmte japanische Selbstdisziplin. Trotzdem fordern sie, genau wie ihre V\u00e4ter, unber\u00fchrte Frauen als Ehepartner und behandeln ihre freiheitstrunkenen Geliebten schlechter als ein alter Japaner seine Geisha. Und wenn einer seinen Doktortitel dank der \u201eHingabe\u201c seiner Schwester erwirbt, dann braucht er sich nur zu sch\u00e4men, wenn man wei\u00df, da\u00df er es wei\u00df.<\/p>

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Junge M\u00e4dchen glauben an echte Kameradschaft und Gleichheit mit dem Mann. Japans neue Verfassung verspricht Gleichberechtigung, und die jungen M\u00e4nner fordern sexuelle Freiheit<\/strong><\/em><\/p><\/div><\/div>

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Wenn aber geheiratet wird, verlangen die M\u00e4nner von den Frauen immer noch das Siegel der Reinheit und traditionelle Demut. Dann ist die Frau wieder Dienerin und der Mann der Herr der Sch\u00f6pfung<\/em><\/strong><\/p><\/div><\/div>

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Was sagen die M\u00e4dchen dazu? Sie kommen zun\u00e4chst z\u00f6gernd an unseren Tisch. Sobald der Kontakt hergestellt ist, sprechen sie ebenso frei wie die jungen M\u00e4nner.
Mimi liebt ihren Dichter, der in einer Ecke schlummert. Betrunken, berauscht vielleicht von Philopon. Eben noch hatte sie ihm seine neue Hose k\u00fcrzer gemacht. Hier im Jazzkeller. Mit Nadel und Faden. Ich glaube, ihre ganze Habe steckt in der gro\u00dfen Korbtasche, die sie fest an sich dr\u00fcckt.
\u201eDenkt ihr ans Heiraten?\u201c frage ich.
\u201e Wir sind noch zu jung.\u201c
\u201eAber nicht zum Lieben?\u201c
\u201eDie Liebe ist ein Geschenk.\u201c
Was hei\u00dft das?\u201c
\u201eZum Heiraten braucht man Geld. Das bekommt man nicht geschenkt.\u201c<\/p>

Verr\u00fcckt nach Liebeserfahrung<\/strong><\/p>

Die n\u00e4chste gesteht, da\u00df sie unseren Nasentest sofort durchschaut hat. Seine Richtigkeit habe sie \u00fcbrigens vor vier Jahren bei sich selbst best\u00e4tigt gefunden.
Alle behaupten, sie seien verliebt. Aber jedesmal, wenn wir die Frage nach der Ehe stellen, weichen sie aus. \u201eJetzt studieren wir\u201c, hei\u00dft es. \u201eW\u00e4hrend dieser Zeit z\u00e4hlt nur die Arbeit und die Liebe. Wir wollen lernen, viel lernen.\u201c<\/p>

Von dieser Wi\u00dfbegierde kann ich ein Lied singen. Mindestens ein dutzendmal bin ich auf der Stra\u00dfe von M\u00e4dchen angesprochen worden.
\u201eK\u00f6nnte ich ein wenig Englisch mit Ihnen \u00fcben?\u201c lautete jedesmal die h\u00f6fliche Frage. Und, bei Gott, sie war ernst gemeint. Das war keine \u201eMasche\u201c, um sich an einen Ausl\u00e4nder heranzumachen. Ich mu\u00dfte wirklich zuh\u00f6ren und verbessern. Nach einer halben Stunde blickte das M\u00e4dchen dann entsetzt auf die Uhr und bedankte sich mit einer tiefen Verbeugung.

Bald wurde auch mir die Zeit zu schade daf\u00fcr. Ich war ja nicht in Japan, um englischen Unterricht zu erteilen, sondern um Frauen auszufragen. Also bestand ich als Gegenleistung auf einem Wiedersehen. Mehrere nahmen an. Aber nicht etwa f\u00fcr den n\u00e4chsten Tag. \u201eIch mu\u00df arbeiten\u201c, hie\u00df es. \u201eExamen stehen vor der T\u00fcr. Das geht vor.\u201c
Und dann, wenn ich die Begegnung schon lange vergessen habe, ist das M\u00e4dchen p\u00fcnktlich zur Stelle. Einfach so. In meinem Hotelzimmer. In der ersten Viertelstunde will sie wissen, ob ich eine Frau habe, wie alt ich bin, was ich tue. Dann macht sie die Schubladen auf, st\u00f6bert in meinen Papieren herum, liest Briefe. Anschlie\u00dfend l\u00e4\u00dft sie sich noch ein paar englische Worte erkl\u00e4ren, blickt \u00fcberrascht auf die Uhr und ist wieder weg.
Am n\u00e4chsten Tag klingelt das Telefon. \u201eAm Sonntag habe ich nichts zu tun. K\u00f6nnen wir uns sehen?\u201c
\u201eO nein\u201c, schreie ich. \u201eInquisition und Indiskretion sind mir gleicherma\u00dfen verha\u00dft.\u201c
\u201eDiesmal habe ich den ganzen Abend Zeit\u201c, fl\u00fcsterte es am anderen Ende des Drahtes.
Das klingt wie ein Versprechen. Wenn ich nicht so lange hier w\u00e4re, k\u00f6nnte ich mir einbilden, mein pers\u00f6nlicher Charme habe sie \u00fcberw\u00e4ltigt. Aber nein, sie hat sich erkundigt und wei\u00df jetzt, da\u00df ich wirklich f\u00fcr eine internationale Zeitschrift arbeite. Wenn sie mir eine so gro\u00dfe Reise bezahlt, dann mu\u00df schon etwas dahinter stecken. \u2013 Ja, so \u00fcberlegen die kleinen M\u00e4dchen hier. Sie sind zwar verr\u00fcckt nach \u201eLiebeserfahrung\u201c wie sie selbst sagen, aber zuerst kommt immer noch das Studium, der Wunsch, ins Ausland zu gehen, Stipendien zu ergattern, gute Verbindungen anzukn\u00fcpfen. Die Schn\u00fcffelei in meinem Zimmer und beim Hotelportier scheint also ergeben zu haben, da\u00df ich einen solchen Versuch wert bin.
Im Grunde versteckt sich hinter diesem brennenden Wunsch, m\u00f6glichst schnell vorw\u00e4rtszukommen, nichts anderes als eine gro\u00dfe Angst vor der Zukunft. Es ist der Versuch, dem Los der japanischen Frau zu entrinnen, sei es durch Flucht ins Ausland oder durch Zugang zu den wenigen Stellen, in denen Frauen Karriere machen k\u00f6nnen.
Ich spreche wohlverstanden nicht von den herk\u00f6mmlich erzogenen M\u00e4dchen. Diese w\u00fcrden es nie wagen, sich selber einzuladen. Es handelt sich um jene junge Vorhut des modernen Japan, die verzweifelte Anstrengungen macht, zu einem individuellen Bewu\u00dftsein zu erwachen. Ich wei\u00df, das klingt geschwollen. In Japan hat diese Suche nach der eigenen Pers\u00f6nlichkeit jedoch wirklich einen dramatischen Unterton und f\u00fcr die Frau meist einen tragischen Ausgang.<\/p>

Dort hat es einen Individualismus in unserem Sinne nie gegeben. Der Mensch war nur ein anonymes R\u00e4dchen in einer streng gegliederten Gesellschaft, die keine Au\u00dfenseiter duldete. Vor allem trennten un\u00fcberwindliche Grenzen die Welten von Mann und Frau. Eigene Pers\u00f6nlichkeit zu entfalten oder gar zu offenbaren, galt \u2013 vor allem f\u00fcr die Frau \u2013 als Vergehen.<\/p>

Dann kamen der Krieg, die Bomben, die Amerikaner, der Zusammenbruch der alten Ordnung. Eine neue Verfassung schenkte individuellen Rechte und garantierte die Gleichheit der Frau. Ihre Befreiung kam so \u00fcberrauschend, da\u00df immer wieder die Frage auftauchte: \u201eWenn wir wirklich den M\u00e4nnern gleich sind, d\u00fcrfen wir sie dann auch lieben anstatt ihnen nur mit Respekt und Unterw\u00fcrfigkeit zu begegnen?\u201c<\/p>

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Selbst arme Marktfrauen k\u00f6nnen heute ihre Kinder studieren lassen<\/strong><\/em><\/p><\/div><\/div>

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Die traditionellen sozialen Schranken sind gefallen: junge Studenten<\/strong><\/em><\/p><\/div><\/div>

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Strip-tease in den Semesterferien<\/strong><\/p>

\u201eSelbstverst\u00e4ndlich\u201c, lautete die Antwort. \u201eJeder kann jetzt \u00fcber sein eigenes Schicksal entscheiden.\u201c Und die Scheidungsklagen der Frauen \u00fcberstiegen die der M\u00e4nner um das Dreifache. Jetzt wurde die romantische Liebe zum Symbol demokratischer Gesinnung und der amerikanische Lebensstil zum Pr\u00fcfstein der individuellen Freiheit.<\/p>

F\u00fcr die Alten war dieser Umsturz nur eine katastrophale Fortsetzung der Niederlage. Die Jugend hingegen warf sich taumelnd in das Experiment der individuellen Revolution. Bevorzugtes Schlachtfeld: die Liebe. In Zeitschriften wurden und werden heute noch Tips f\u00fcr die Liebestechnik erteilt, die vor keinem Detail zur\u00fcckschrecken und bei uns in Europa als Pornographie verboten w\u00fcrden. Der freie Verkauf von Empf\u00e4ngnisverh\u00fctungsmitteln und die offizielle Toleranz der Abtreibung machten es selbst \u00e4ngstlichen M\u00e4dchen leicht.<\/p>

Nie werde ich jene Filmaufnahmen vergessen, zu denen uns ein Student eines Tages einlud. \u201eIhr sollt sehen, wie einfallsreich wir das Geld f\u00fcr unser Studium verdienen\u201c, hatte er gesagt, und wir waren p\u00fcnktlich zur Stelle: eine leere Garage, vier Scheinwerfer, zwei Beleuchter, ein Kameramann und noch ein paar Jungen und M\u00e4dchen. Im Lichte der Scheinwerfer lag ein Paar auf einer Strohmatte. Liegen ist zu wenig gesagt. Sie liebten sich. Vor uns allen.<\/p>

\u201eDiesen Film verkaufen wir an Ausl\u00e4nder\u201c, erkl\u00e4rte unser Freund. Ein neues Paar trat in Aktion. Wieder summte die Kamera. \u201eWir m\u00fcssen Abwechslung bieten. Stell dir vor, f\u00fcr solch einen Film k\u00f6nnen wir alle f\u00fcr zwei Monate unser Studium bezahlen.\u201c<\/p>

Ich mu\u00df gestehen, da\u00df ich von soviel Zynismus ein wenig benommen war.<\/p>

\u201eWir sind nicht zynisch\u201c, meinte er. \u201eWir sind nur konsequent. Die Kommerzialisierung der Nacktheit haben wir von den Amerikanern gelernt. Vorher gab es hier kein Strip-tease. M\u00e4nner und Frauen badeten nackt zusammen, ohne sich zu zieren. Aber die Amerikaner wollten Br\u00fcste und H\u00fcften. Und sie schlugen sich f\u00f6rmlich, um unsere traditionellen B\u00e4der fotografieren zu k\u00f6nnen. Da haben wir schnell geschaltet.\u201c<\/p>

In Europa geschieht heute auch mancherlei zwischen blutjungen Menschen. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, da\u00df hier Studenten \u00e4hnliche \u201eNebenberufe\u201c aus\u00fcben, um Zimmer und Essen zu bezahlen. Sie haben es auch unvergleichlich besser als ihre japanischen Kollegen. In Japan findet nach Abschlu\u00df des Studiums nur die H\u00e4lfte der Absolventen Arbeit. Das Geld zum Studieren k\u00f6nnen etwa nur drei\u00dfig Prozent aufbringen. Der Rest mu\u00df es sich besorgen. Jungen und M\u00e4dchen.<\/p>

Wenn sie dabei Dinge tun, die aus unserer Sicht moralisch verwerflich sind, so kann man die jungen Leute trotzdem nicht als haltlos oder zynisch bezeichnen. Ihr Verhalten wird durch eine v\u00f6llig andere Moral bestimmt als das unsere. F\u00fcr einen Japaner kommt es wenig darauf an, Charakterfestigkeit zu beweisen oder zu Prinzipien zu stehen. Er wird vielmehr angehalten, in jeder Situation das von ihm Erwartete zu tun. Von jungen Leuten erwartet man vor allem den erfolgreichen Abschlu\u00df des Studiums, von dem wahrscheinlich die Zukunft der gesamten Familie abh\u00e4ngt. Diese Erwartung d\u00fcrfen sie nicht entt\u00e4uschen. Welche Mittel sie dabei anwenden, ist kaum noch wichtig.<\/p>

Hier liegt der Zwiespalt, mit dem die japanische Jugend nicht fertig wird. Einerseits lebt sie \u201emodern\u201c, ja, sogar ungezwungener als ihr westliches Vorbild Amerika, andererseits sind ihre tiefen Beweggr\u00fcnde nach wie vor von den alten Normen gepr\u00e4gt. Niemand wei\u00df mehr, wo sein \u201eGesicht\u201c ist \u2013 jener Nimbus, den er vor sich und der Welt wahren mu\u00df, in der Zukunft oder in der Vergangenheit.<\/p>

Doppelte Moral mit doppeltem Boden<\/strong><\/p>

In der Politik ist es nicht anders: Viele Studenten sind Sozialisten oder Kommunisten. Sobald sie jedoch eine Stellung gefunden haben, werden die meisten schlagartig zu braven B\u00fcrgern konservativer Pr\u00e4gung. Jetzt passen Marx, die individualistischen M\u00e4dchen und die freie Liebe nicht mehr zu ihrem Leben. Das gilt keineswegs als Gesinnungswechsel. Es ist wiederum die automatische Anpassung an das, was jetzt erwartet wird: Unterordnung. Es entspricht dem Wechsel von einer Altersgruppe in die n\u00e4chste, von einer zukunftshungrigen Gesellschaftsklasse in eine sichergestellten. Wer in einem japanischen Betrieb unterkommt, ist zeitlebens versorgt. Das gilt nat\u00fcrlich nur f\u00fcr den Mann. M\u00e4dchen m\u00fcssen ihre Stellungen aufgeben, wenn sie \u00e4lter werden. Meistens zwischen f\u00fcnfundzwanzig und drei\u00dfig. Zu viele M\u00e4nner dr\u00e4ngen nach. Um Sicherheit zu finden, bleibt den Frauen nur die Ehe. Und nun werden sie zu Opfern der m\u00e4nnlichen Unentschlossenheit. Der Mann hat sie mitgerissen. Sie haben \u201emodern\u201c gelebt. Jetzt aber fordert er pl\u00f6tzlich von ihnen das Zeugnis der Unber\u00fchrtheit.<\/p>

Was sollen sie tun? Sie gehen zum Arzt. Nur er kann die Spuren der Vergangenheit verwischen und die einstmals freien Kameradinnen der Jungen wieder zu akzeptablen Partnerinnen der M\u00e4nner machen.<\/p>

Als wir in Tokio waren, f\u00fchrte ein Gyn\u00e4kologe gerade die zehntausendste Operation dieser Art durch. Einer allein! \u2013 Auf den Operationstischen dieser \u00c4rzte endet der Traum von der romantischen Liebe. Hier wird die \u201eRasse der Sonne\u201c mit Nadel und Faden besiegt.<\/p>

Es ist das alte Lied. \u2013 \u00dcberall dort, wo die Frau seit jeher ihre Existenzberechtigung vom Mann bezog und das Tabu der Jungfr\u00e4ulichkeit zur doppelten Moral gef\u00fchrt hat, halten die Herren an ihrer Vorrangstellung fest. Zwar predigen sie Freiheit, Gleichheit, Freundschaft und Vertrauen. Aber das sind nur Lippenbekenntnisse. Wenn es n\u00e4mlich zum Schwur kommt, folgt die moralische Verurteilung der Frau auf dem Fu\u00dfe. Was da so leicht zu haben war, kann doch nur ein Flittchen sein. Und da wir in einer Klassengesellschaft leben, pa\u00dft die doppelte Moral der M\u00e4nner sich nat\u00fcrlich dem sozialen Gef\u00e4lle an.<\/p>

Eine \u201ewillige\u201c Sekret\u00e4rin ist nat\u00fcrlich billig. Die \u201eh\u00f6here Tochter\u201c hingegen hat \u201eFormat\u201c, wie jene Herren sich auszudr\u00fccken pflegen, deren Selbstgef\u00fchl durch solche Eroberungen auf Hochglanz gebracht wird. Kurzum: Geldbeutel und Herkunft entscheiden \u00fcber die Qualit\u00e4t des Gef\u00fchls, seinen moralischen Wert und f\u00fcr viele M\u00e4nner sogar \u00fcber die Intensit\u00e4t der dazugeh\u00f6rigen Freuden.<\/p>

Es ist eine doppelte Moral mit doppeltem Boden. Trotz offizieller Gleichberechtigung und \u201esexueller Revolution\u201c bestimmt sie auch heute noch das Los der meistens Frauen. Und ich spreche zun\u00e4chst nur von der Liebe und der moralischen Dem\u00fctigung der Frau.<\/p>

Gleichberechtigung und sexuelle Revolution<\/strong><\/p>

Ihre wirtschaftliche Ausbeutung ist so selbstverst\u00e4ndlich geworden, da\u00df man sie nahezu vergi\u00dft. Hausfrauen haben keine festen Arbeitsstunden, keinen bezahlten Urlaub, keine Pension. Und dabei arbeiten sie mehr und h\u00e4rter als M\u00e4nner. Wenn die Herren nach getaner Arbeit ihre Pantoffeln anziehen, ist f\u00fcr die Frauen noch lange nicht Feierabend. Wenn Urlaub gemacht wird, dann \u00e4ndert sich f\u00fcr sie meistens nur die Umgebung. Sie hat weiterhin die Sorge um Kind und Kegel. Und wenn der Herr sich endg\u00fcltig zur bezahlten Ruhe setzt, mu\u00df sie immer noch schuften und ihn pflegen, bis er stirbt. ..<\/p>

Und wie ist es im Beruf? Bei gleicher Arbeitsleistung erhalten Frauen weniger Lohn als ihre m\u00e4nnlichen Kollegen. Voreingenommenheit und Widerstand des Mannes versperren den Weg zu verantwortlichen Stellungen. In der gewaltigen Wirtschaftsmaschine sind die Frauen nur Hilfskr\u00e4fte. Eine Art Sklaven \u2013 genau wie die Fremdarbeiter -, die f\u00fcr billiges Geld all das tun, was unter der W\u00fcrde der Herren liegt. Ja, die meisten Frauen m\u00fcssen sich damit abfinden, unterbezahlte Gelegenheitsarbeiter zu bleiben. Die Ruderer in der gro\u00dfen Galeere, die wir stolz \u201eFortschritt\u201c nennen. Und alles nur, weil der Mann auf seinen Vorrechten beharrt und der Frau keine echten Chancen gibt, sich selbst zu entfalten.<\/p>

Frauen m\u00fcssen \u201enein\u201c sagen k\u00f6nnen<\/strong><\/p>

Eines glaube ich auf dieser Reise um die Welt gelernt zu haben: Am Los der Frau erkennt man die Reife einer Zivilisation. In der Haltung zur Frau offenbart sich in der Tat das Weltbild jedes Mannes und selbst der V\u00f6lker. Erst wenn das Verh\u00e4ltnis zum anderen Geschlecht auf allen Ebenen ein Zwiegespr\u00e4ch unter Gleich ist, werden die gro\u00dfen Worte wie Gerechtigkeit, Friede und Menschenw\u00fcrde kein leeres Geschw\u00e4tz mehr sein. Erst dann k\u00f6nnen auch andere Menschen au\u00dferhalb der eigenen Klasse, der nationalen Grenzen und der eigenen Hautfarbe mit echtem Verst\u00e4ndnis rechnen.<\/p>

Jetzt werden viele M\u00e4nner sp\u00f6ttisch l\u00e4cheln, weil sie zerbrechlich aufgemachte Puppen in ihren Armen halten, die gar nichts anderes wollen, als versorgt und bevormundet zu sein. Andere deuten auf ehrenwerte Frauen, die v\u00f6llig in ihrer Familie aufgehen und des Mannes Schutz und \u00dcberlegenheit mit Dankbarkeit quittieren. Ich wei\u00df, es ist tausendmal leichter, umhegtes Weib zu spielen, als verantwortungsbewu\u00dfter Mensch zu sein.<\/p>

Aber das soll man mit jetzt nicht als Argument gegen die Gleichheit der Frau anf\u00fchren und dazu noch behaupten, sie wolle offenbar gar nicht anders leben als bisher. Wie sollte sie wissen, was sie wirklich will? Seit Jahrtausenden lebt sie im Spiegel, den der Mann ihr vorh\u00e4lt. Sie ist sein Werk, das Bild, das er sich von ihr gemacht hat \u2013 und nicht mehr. Ihr das vorzuhalten w\u00e4re ungef\u00e4hr so, als w\u00fcrde man einem Sklaven vorwerfen, sich nicht wie ein Herr zu benehmen, obwohl man ihn von Geburt an zum Diener gedrillt hat.<\/p>

Und wenn ich der Frau zu Schlu\u00df dieser Artikelserie einen Rat geben darf: Materielle Unabh\u00e4ngigkeit ist letztlich der einzige Weg zu Gleichheit und Freiheit. Das mag unser herk\u00f6mmliches Familiensystem ein wenig durcheinanderbringen; es belastet Kinder und Familie jedoch weit weniger als unausgeglichene M\u00fctter und die unvermeidliche Spannung geschlechtlicher Rangunterschiede. Ebenso wie unterdr\u00fcckte V\u00f6lker nur unabh\u00e4ngig werden, wenn sie auf eigenen F\u00fc\u00dfen stehen, so kann die Ehefrau erst dann wirklich frei sein, wenn sie sich nicht mehr aus Existenzangst unterwerfen mu\u00df, sondern laut und deutlich \u201enein\u201c sagen kann.<\/p>

– E N D E –<\/p>","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Stern, Heft 33, 14. August 1966 Rasse der Sonne nennt man Japans junge Generation, die sich vom traditionellen Leben losgerissen hat und moderne Wege sucht. Vor allem in der Liebe. In dunklen Jazz-Kellern kostet Japans Jugend ihre neue Freiheit aus. Oft beseitigt Rauschgift letzte Hemmungen. Tokio. Ein Jazzkeller f\u00fcr junge Leute. Schallplattenmusik, Surrealistische Dekoration. Ungef\u00e4hr…<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":63304,"parent":62861,"menu_order":19,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":{"_seopress_robots_primary_cat":"","_seopress_titles_title":"","_seopress_titles_desc":"","_seopress_robots_index":"","footnotes":""},"categories":[],"tags":[],"class_list":["post-63308","page","type-page","status-publish","has-post-thumbnail","hentry","entry","has-media"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/63308"}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/types\/page"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=63308"}],"version-history":[{"count":5,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/63308\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":64920,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/63308\/revisions\/64920"}],"up":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/pages\/62861"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media\/63304"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=63308"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=63308"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=63308"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}