{"id":63308,"date":"2020-09-02T22:57:10","date_gmt":"2020-09-02T20:57:10","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=63308"},"modified":"2022-08-03T15:11:48","modified_gmt":"2022-08-03T13:11:48","slug":"die-rasse-der-sonne-japan","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/1-die-frauen-dieser-welt\/die-rasse-der-sonne-japan\/","title":{"rendered":"Die Rasse der Sonne (Japan)"},"content":{"rendered":"
Stern, Heft 33, 14. August 1966<\/em><\/p> Rasse der Sonne nennt man Japans junge Generation, die sich vom traditionellen Leben losgerissen hat und moderne Wege sucht. Vor allem in der Liebe. In dunklen Jazz-Kellern kostet Japans Jugend ihre neue Freiheit aus. Oft beseitigt Rauschgift letzte Hemmungen.<\/strong><\/p> <\/p> <\/p> <\/p> Tokio. Ein Jazzkeller f\u00fcr junge Leute. Schallplattenmusik, Surrealistische Dekoration. Ungef\u00e4hr f\u00fcnfzig Jungen und M\u00e4dchen. Wir gehen von einem Tisch zum anderen und dr\u00fccken mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze der M\u00e4dchen. Das ist kein neues Gesellschaftsspiel. Es handelt sich um einen Test, den wir gemeinsam mit einem befreundeten japanischen Journalisten durchf\u00fchren. Vor jedem M\u00e4dchen verbeugt er sich h\u00f6flich und fragt: \u201eWir machen eine Untersuchung \u00fcber die Form der weiblichen Nase. Erlauben Sie, da\u00df wir mal kurz auf die Ihre dr\u00fccken?\u201c<\/p> Die M\u00e4dchen l\u00e4cheln und nicken. Er legt seinen Zeigefinger auf die betreffende Nasenspitze und wackelt einmal darauf hin und her. Dann tue ich das gleiche. Wir kommen jedesmal zum gleichen Ergebnis, das Claude Deffarge in ihr Notizbuch eintr\u00e4gt: \u201eJa\u201c, wenn die Nasenspitze ein einziger harter Punkt ist, \u201enein\u201c, wenn sie sich wie zwei gespaltene Knorpel anf\u00fchlt.<\/p> Im ersten Fall ist das M\u00e4dchen noch Jungfrau, im zweiten nicht mehr. So wenigstens hatte es uns ein alter Wunderdoktor erkl\u00e4rt, dem wir in einem Dorf an der Westk\u00fcste Japans begegnet waren. Er behauptete, das sei eine sichere Diagnose. Nun wollten wir es auch einmal ausprobieren oder wenigstens zum Vorwand unserer Umfrage machen. Ein indiskreter Test. Zugegeben. Besonders das Ergebnis: Von den zweiundzwanzig \u201ebefragten\u201c Nasen sind siebzehn gespalten, und keines der dazugeh\u00f6rigen M\u00e4dchen ist \u00fcber zwanzig.<\/p> Jetzt bitten wir die jungen M\u00e4nner an unseren Tisch. Sie kommen ohne Str\u00e4uben. In Japan ist die Jugend heute ebenso umfragefreudig wie in den USA. \u201eW\u00fcrden Sie ein M\u00e4dchen heiraten, das nicht mehr Jungfrau ist?\u201c fragt unser Freund. Einer sieht mich herausfordernd an: \u201eIhr m\u00f6gt es ja auch nicht, wenn eine wei\u00dfe Frau mit einem Neger ausgeht. Oder?\u201c Unsere Fragen sind gezielt indiskret. Nur wenige Jahre \u00e4ltere Gespr\u00e4chspartner w\u00fcrden jeden Satz als Beleidigung auffassen, unsere Zigaretten zur\u00fcckweisen, die Getr\u00e4nke entr\u00fcstet ablehnen, ja, nicht einmal zuh\u00f6ren. Aber die \u201eRasse der Sonne\u201c, wie man die jungen Menschen nennt, die nach den Massakern von Hiroshima und Nagasaki auf die Welt gekommen sind, wollen heute beenden, was damals mit den Atompilzen begann: die Zerst\u00f6rung der alten Ordnung. Jedenfalls benehmen sie sich so und antworten deshalb mit betonter Offenheit auf unsere herausfordernden Fragen.<\/p> Die letzte wird eindeutig mit \u201eJa\u201c beantwortet. Die anwesenden M\u00e4dchen werden nur als kurzfristige Begleiterinnen betrachtet. Niemand f\u00fchlt sich fest gebunden. Die Begr\u00fcndungen sind jedoch sehr unterschiedlich. Er wird es nicht leicht haben. Wenigstens nicht mit den M\u00e4dchen der \u201emodernen Welle\u201c. Sie h\u00fcten sich, einen Erstgeborenen zu heiraten. Das mag materielle Vorteile haben und sichere Unterkunft bieten. Es bedeutet aber vor allem, unter der Fuchtel der Schwiegermutter \u201eM\u00e4dchen f\u00fcr alles\u201c zu spielen.<\/p> \u201eIch lebe auch wirtschaftlichen Gr\u00fcnden mit meiner Freundin zusammen\u201c, erz\u00e4hlt ein Medizinstudent. \u201eUns kommt es nur darauf an, eine Miete zu sparen. Mit einem M\u00e4dchen ist das angenehmer als mit einem Jungen. Viele Studenten tun das.\u201c Dem Jungen bleibt die Sprache weg. Er, der sehr gut Englisch spricht, wirft pl\u00f6tzlich ein paar japanische Worte \u00fcber den Tisch und geht davon, ohne seinen Whisky aus zu trinken. Es kann tats\u00e4chlich ehrenhaft sein, wenn eine Schwester sich prostituiert, um das Studium des Bruders zu erm\u00f6glichen. Aber der Junge mu\u00df so tun, als habe er keine Ahnung. Sonst verlieren alle Beteiligten das Gesicht. Verstehst du das denn nicht?\u201c
\u201eNein\u201c, sagen sieben von zehn mit gro\u00dfer Bestimmtheit. Die \u00fcbrigen meinen, es sei ihnen v\u00f6llig egal, vorausgesetzt, die Frau habe vorher nicht mit einem Ausl\u00e4nder zusammengelebt. \u201eDann sind sie verdorben und ewig unzufrieden.\u201c<\/p>
\u201eGlauben Sie, da\u00df Ihre Begleiterin von heute abend Sie heiraten w\u00fcrde?\u201c fragt unser Freund.
Diesmal sagen die meisten ja.
\u201eAber f\u00fcr Sie sind diese M\u00e4dchen nur vor\u00fcbergehende Freundinnen?\u201c<\/p>
\u201eIch will keine Studentin heiraten\u201c, sagt einer. \u201eDie wissen sp\u00e4ter nicht mehr, was sich geh\u00f6rt.\u201c
\u201eMir kommt es nur auf die Liebe an\u201c, meint ein anderer. \u201eDie habe ich noch nicht gefunden.\u201c
\u201eIch bin der Erstgeborene\u201c, erkl\u00e4rt ein dritter. \u201eDeshalb werde ich in meinem Heimatort eine von meinen Eltern ausgesuchte Frau nehmen. Verstehen Sie. Die Frau mu\u00df meiner Mutter gefallen.\u201c<\/p>
Wir finden in der Tat mehrere. Einer behauptet sogar, da\u00df die zu dritt mit einem M\u00e4dchen das Zimmer teilen.
Mir will scheinen, da\u00df Eifersucht eine solche L\u00f6sung des Wohnungsproblems unm\u00f6glich macht.
\u201eAber warum denn?\u201c fragt er erstaunt. \u201eKeiner von uns will sie heiraten. \u00dcbrigens hat sie nebenbei ein paar zahlende Freunde.\u201c
\u201eDas ist also keine Studentin, sondern eine Prostituierte, die bei euch Unterschlupf gefunden hat. Ich verstehe.\u201c
\u201eSie verstehen \u00fcberhaupt nichts\u201c, ruft er. \u201eDas M\u00e4dchen studiert ebenso ernsthaft wie wir. Nebenbei verdient sie Geld, um auch ihrem Bruder das Studium zu erm\u00f6glichen. Das ist sehr ehrenwert.\u201c
\u201eWarum lebt sie dann nicht mit ihrem Bruder zusammen, um dessen Miete zu sparen?\u201c<\/p>
\u201ePasst doch ein wenig auf, was du sagst\u201c, schimpft mein Freund, der Journalist.
\u201eDas war doch nur logisch\u201c, versuche ich mich zu verteidigen.
\u201eAber nicht japanisch.
<\/p>
Sicherlich. Ich verstehe aber auch, da\u00df die sogenannte \u201eRasse der Sonne\u201c ebenso tief im Traditionellen verstrickt ist wie ihre Eltern. Viele der hier versammelten jungen Leute nehmen Philopon, ein ziemlich starkes Rauschgift. Das ist im Augenblick so Mode. Man will beweisen, da\u00df man alles \u00fcber Bord geworfen hat, vor allem die vielger\u00fchmte japanische Selbstdisziplin. Trotzdem fordern sie, genau wie ihre V\u00e4ter, unber\u00fchrte Frauen als Ehepartner und behandeln ihre freiheitstrunkenen Geliebten schlechter als ein alter Japaner seine Geisha. Und wenn einer seinen Doktortitel dank der \u201eHingabe\u201c seiner Schwester erwirbt, dann braucht er sich nur zu sch\u00e4men, wenn man wei\u00df, da\u00df er es wei\u00df.<\/p>