{"id":63324,"date":"2020-09-07T14:17:06","date_gmt":"2020-09-07T12:17:06","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?page_id=63324"},"modified":"2022-08-03T15:11:37","modified_gmt":"2022-08-03T13:11:37","slug":"vielmaennerei-macht-gluecklich-indien","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/zeitungsreportagen\/1-die-frauen-dieser-welt\/vielmaennerei-macht-gluecklich-indien\/","title":{"rendered":"Vielm\u00e4nnerei macht gl\u00fccklich (Indien)"},"content":{"rendered":"
Stern, Heft 42, 17. Oktober 1965<\/em><\/p> <\/p> <\/p> <\/p> Seit zwanzig Minuten folge ich einer Frau. Nicht, weil sie gut aussieht und meine Blicke sich nicht von ihr losrei\u00dfen k\u00f6nnen. Ihr Benehmen fasziniert mich: Sie geht in ein Gesch\u00e4ft, hebt den Rock hoch, erh\u00e4lt Geld und geht gelassen in den n\u00e4chsten Laden. Dort f\u00fchrt sie einen obsz\u00f6nen Tanz auf, kassiert wiederum und trabt weiter. Im dritten Gesch\u00e4ft p\u00f6belt sie die Kunden an und kn\u00f6pft ihre Bluse auf. Bis zum Nabel. Ich entdecke keine Brust. Nur ein paar k\u00fcmmerliche Haare. Trotzdem steckt man ihr Geld zu. \u201eIn den letzten Wochen sind hier wenig Kinder geboren worden\u201c, sagt ein Mann, der mich eben so fasziniert verfolgt wie ich die Frau: Mit gemischten Gef\u00fchlen n\u00e4here ich mich dem \u201es\u00e4chlichen\u201c Wesen. Er spricht einige Worte Englisch, ist zuvorkommend, fast sch\u00fcchtern und willigt schlie\u00dflich sogar ein, fotografiert zu werden. \u201eAber nicht allein!\u201c Kommen Sie bitte morgen fr\u00fch, dann versammelt sich die ganze Gruppe wir sind einundzwanzig, und ich bin der Chef.\u201c <\/p> Den Nachmittag und die Nacht verbringen wir damit, uns \u00fcber die Hermaphroditen zu informieren. \u201eWenn wenig Kinder geboren werden, m\u00fcssen sie betteln gehen\u201c, hatte der kontaktfreudige Herr gesagt. Damit kannten wir bereits die zwei Hauptbesch\u00e4ftigungen dieser Leute.: Betteln und Babys. Die befremdende Art des Bettelns hatte ich gesehen. Was aber hatten Babys damit zu tun? \u2013 Wir sollten es bald erfahren.<\/p> Sobald in ihrer Gegend ein Mensch geboren wird, eilen die Hermaphroditen zum Ort des freudigen Ereignisses, um zu tanzen und zu singen. Das ist so Sitte, und daf\u00fcr bekommen Sie Geld.
Niemand protestiert oder schreit nach der Polizei. Die Gesch\u00e4ftsleute geben einige Pennies, die Kunden lachen, und jeder scheint das normal zu finden.<\/p>
\u201eDeshalb mu\u00df er betteln gehen.\u201c
\u201eEr? \u2013 Sie!\u201c
\u201eSie oder er. Man wei\u00df es nie genau. Einmal sind diese Leute mehr sie als er, ein anderes Mal mehr er als sie. Die meisten wollen als \u201asie\u2018 gelten. Deshalb die R\u00f6cke und die langen Haare.\u201c
Wenn hier ein Inder glaubt, englischen Humor an den Mann zu bringen, ist er an der falschen Stelle.
\u201eReden Sie verst\u00e4ndlich, Mann\u201c, sage ich.
\u201eAber Mister\u201c, protestiert er, \u201ehaben Sie denn noch nie etwas von Hermaphroditen geh\u00f6rt?\u201c
\u201eJa, in unserem Museen stehen ein paar Statuen herum, die weder Mann noch Frau sind \u2013 oder beides. Manchmal liest man bei uns auch in der Presse, da\u00df ein Soldat operiert wird und sp\u00e4ter als gl\u00fcckliche Braut vor den Altar tritt.\u201c
\u201eSehen Sie, Mister, ich rede kein dummes Zeug\u201c, sagt der kleine Mann jetzt ganz stolz. \u201eSowas gibt es also auch in Europa. Wollen Sie den Herren \u2013 Verzeihung \u2013 die Dame kennen lernen?\u201c<\/p>
Ihre Eile hat jedoch tiefere Gr\u00fcnde. Sie suchen Nachwuchs. So beugen sie sich \u00fcber die Wiege und betrachten pr\u00fcfend das Neugeborene. Wenn sie geschlechtliche Mi\u00dfbildungen entdecken, nehmen sie das Baby mit. Das ist ihr Recht, und die Eltern atmen erleichtert auf, von einem Wesen befreit zu sein, das nicht normal ist.<\/p>