{"id":60989,"date":"2020-07-01T14:55:08","date_gmt":"2020-07-01T12:55:08","guid":{"rendered":"http:\/\/www.troeller-deffarge.com\/?p=60989"},"modified":"2020-07-01T14:55:10","modified_gmt":"2020-07-01T12:55:10","slug":"brasilien-2","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/www.troeller-deffarge.com\/brasilien-2\/","title":{"rendered":"Brasilien"},"content":{"rendered":"
01. November 1964, Stern Nummer 44<\/span><\/span><\/p>\n Die Frauen dieser Welt<\/span><\/span><\/p>\n Wie sie leben<\/span><\/span><\/p>\n Wie sie lieben<\/span><\/span><\/p>\n Wie sie leiden<\/span><\/span><\/p>\n Brasilien ist die erste Etappe auf unserer Reise um die Welt. Ein hei\u00dfes Land mit sch\u00f6nen Frauen. Rio, Karneval, Copacabana und aufregende Mulattinnen sind die g\u00e4ngigen Vorstellungen. Brasilien ist aber auch ein Schulbeispiel der m\u00e4nnlichen Vorherrschaft alten Stils. \u201eEr hat den Spa\u00df und sie das Kind\u201c \u2013 dieser Satz bestimmt bis auf den heutigen Tag das Los der Frau und die Allmacht des Mannes. Der Hahnenstolz der Herren wird hier zur H\u00f6lle der Frauen.<\/span><\/span><\/p>\n Auf seiner Brust stehen genau zweiundneunzig Haare. Pechschwarze gekr\u00e4uselte Haare. F\u00fcnfzig verlaufen schnurgerade vom Brustbein bis zum Nabel. Einundzwanzig ziehen sich in einer horizontalen Linie nach Links. Ebenso viele nach rechts. Das Ganze bildet ein Kreuz. Fernando modelliert es t\u00e4glich mit einer Pinzette. Er ist ein gl\u00e4ubiger Mann. Genau im Schnittpunkt der Linien h\u00e4ngt ein goldenes Medaillon mit dem Bild der Madonna.<\/span><\/span><\/p>\n Wir sitzen am Strand von Bahia. Neben uns tauscht ein Liebespaar kleine Z\u00e4rtlichkeiten aus. Fernando schein fasziniert.<\/span><\/span><\/p>\n \u201eEs kotzt mich an\u201c, meint er pl\u00f6tzlich. \u201eJa, es kotzt mich an.\u201c <\/span><\/span><\/p>\n Er starrt w\u00fctend aufs Meer. Die Sonne dr\u00fcckt auf meinen Kopf. Nach ein paar Minuten werde ich trotzdem neugierig und frage:<\/span><\/span><\/p>\n \u201eWas, die Liebe?\u201c<\/span><\/span><\/p>\n \u201eNein, die Schwestern.\u201c<\/span><\/span><\/p>\n \u201eWelche Schwestern?\u201c<\/span><\/span><\/p>\n \u201eAlle Schwestern.\u201c<\/span><\/span><\/p>\n \u201eUnd warum?\u201c<\/span><\/span><\/p>\n \u201eWeil sie Br\u00fcder haben.\u201c<\/span><\/span><\/p>\n \u201eEs gibt auch Frauen ohne Br\u00fcder.\u201c<\/span><\/span><\/p>\n \u201eDie haben V\u00e4ter.\u201c<\/span><\/span><\/p>\n \u201eUnvermeidlich.\u201c<\/span><\/span><\/p>\n \u201eAuch das macht mich krank.\u201c<\/span><\/span><\/p>\n \u201eUnd warum?\u201c<\/span><\/span><\/p>\n \u201eWegen der Ehre.\u201c<\/span><\/span><\/p>\n \u201eWelcher Ehre?\u201c<\/span><\/span><\/p>\n \u201eUnsere Ehre nat\u00fcrlich.\u201c<\/span><\/span><\/p>\n \u201eAha\u201c, sage ich und blicke flehend aufs behaarte Kreuz. Aber auch von dort kommt keine Erleuchtung. Nur ein Schmetterling sitzt dort und spiegelt sich im Medaillon. <\/span><\/span><\/p>\n \u201eHaben sie eine Schwester?\u201c fragt Fernando jetzt.<\/span><\/span><\/p>\n \u201eNein.\u201c<\/span><\/span><\/p>\n \u201eDann k\u00f6nnen sie nicht wissen, was es bedeutet, mit einer Frau ins Bett zu gehen\u201c, meint er. \u201eIch mu\u00df immer an die Ehre des Bruders denken, die sie besudelt. Das ist unertr\u00e4glich. Meine Schwester hat es getan. Vater jagte sie davon. Aber ich werde sie umbringen, wenn ich sie finde. Deshalb bin ich hier. Sie soll in Salvador auf den Strich gehen.\u201c<\/span><\/span><\/p>\n \u201eW\u00e4re es nicht besser, ihr zu helfen?\u201c frage ich z\u00f6gernd.<\/span><\/span><\/p>\n \u201eSind sie verr\u00fcckt? Soll ich denn ewig leiden?\u201c schreit er, und der Schmetterling fliegt erschrocken davon.<\/span><\/span><\/p>\n Fernando ist ein extremer Fall. Er kommt aus einer kleinen Stadt des Innern, wo die M\u00e4nner stolz sind, die Sitten streng. Trotzdem ist seine Auffassung der Ehre typisch f\u00fcr viele Brasilianer. Besonders f\u00fcr die biederen Leute und nicht, wie man annehmen k\u00f6nnte, f\u00fcr die Armen und Analphabeten. <\/span><\/span><\/p>\n Die wirklich Armen k\u00f6nnen sich den Luxus der Ehre nicht leisten. Solange sie keinen Status, keinen Ruf zu behaupten haben, f\u00e4llt es ihnen auch nicht ein, die Keuschheit ihrer Frauen zum Banner ihrer Redlichkeit zu erheben.<\/span><\/span><\/p>\n Das beginnt erst, wenn man die ersten Sprossen der sozialen Leiter erklommen hat. Die Wecker klingeln nur in den H\u00e4usern des Mittelstandes. Und nat\u00fcrlich auf dem Lande. Bei den kleinen und mittleren B\u00fcrgern und bei den Bauern wird die Moral zum G\u00f6tzen des sozialen Ranges und des m\u00e4nnlichen Wertes.<\/span><\/span><\/p>\n Sie haben noch kein Geld, kein richtiges Geld, das ihnen erlaubt, auf die Dinge herabzusehen wie die wirklich Reichen. Und sie stecken nicht mehr im anonymen Dreck des Elends. Sie haben einen Namen, und damit beginnt die Moral.<\/span><\/span><\/p>\n Die wirklich Armen, sie heiraten nicht einmal. Oder selten. Warum auch? Was haben sie zu verteidigen, au\u00dfer dem nackten Leben? Was k\u00f6nnen ihre Kinder erben, au\u00dfer gesunden Gliedern? Sie leben zusammen, haben Kinder und trennen sich und haben Kinder mit anderen. Die Frauen arbeiten, und nicht selten schleppen sie ihre M\u00e4nner mit durch. Oder sie suchen nach einem anderen Mann, der ihre Kinder besser ern\u00e4hren kann. Sie sind freier, tausendmal freier als die Frauen des Mittelstandes oder der Bauern. Sie haben eine unmittelbare Verantwortung f\u00fcr das Leben ihrer Kinder, und hieraus entwickelt sich eine fast r\u00fccksichtslose Unabh\u00e4ngigkeit gegen\u00fcber den M\u00e4nnern.<\/span><\/span><\/p>\n Groteskerweise gibt ihnen gerade das Elend die M\u00f6glichkeit, gleichberechtigte Partner des Mannes zu sein, verantwortungsvolle Menschen, und nicht durch Kirche, Staat oder stand geweihte Dienerinnen eines Herrn.<\/span><\/span><\/p>\n Es ist kein Wunder, da\u00df die armen Frauen trotz ihrer Not fr\u00f6hlicher aussehen als ihre materiell gl\u00fccklicheren Schwestern, gelockerter, menschlicher. Und es ist kein Zufall, da\u00df sie von ihnen geha\u00dft werden. Nicht der Armut wegen. Nein, weil sie frei sind. Freiheit bedeutet S\u00fcnde.<\/span><\/span><\/p>\n Nat\u00fcrlich sind sie nicht frei von Furcht und Krankheit. Auch was man gemeinhin W\u00fcrde nennt und mit Geld verwechselt, haben sie nicht. Aber daf\u00fcr echte W\u00fcrde im Umgang mit den M\u00e4nnern und menschliche W\u00e4rme im Verkehr mit den Nachbarn.<\/span><\/span><\/p>\n In Recife leben zwei Drittel der Bewohner im Elend. Wir gehen in eines der \u201eber\u00fcchtigten\u201c Armenviertel. Viele Frauen wohnen allein und m\u00fcssen arbeiten, um ihre Kinder zu ern\u00e4hren. Wenn die Nachbarsfrau verheiratet ist und nicht arbeitet, k\u00fcmmert sie sich um die Kinder der alleinstehenden M\u00fctter. Da jedoch fast alle Frauen arbeiten m\u00fcssen oder wollen, haben sie sich zusammengetan und eine Art Kindergarten gegr\u00fcndet. Dort h\u00fcten abwechselnd zwei oder drei von ihnen die Kinder von allen. Es ist ein gro\u00dfer lustiger Kinderpool und sicher einer der billigsten und zweckm\u00e4\u00dfigsten, die wir in Brasilien gesehen haben.<\/span><\/span><\/p>\n Wir haben vorsichtig versucht, von den Kindern zu erfahren, welches von ihnen \u201elegitim\u201c und welches unehelich zur Welt gekommen ist. Sie wu\u00dften gar nicht, wovon wir sprachen. Wir haben auch verheiratete Frauen gefragt, ob sie die ledigen M\u00fctter verachten oder meiden.<\/span><\/span><\/p>\n \u201eWarum verachten? Die sind wie wir. Das sind M\u00fctter\u201c, hie\u00df es.<\/span><\/span><\/p>\n \u201eHabt ihr denn keine Angst um eure eigenen M\u00e4nner?\u201c<\/span><\/span><\/p>\n \u201eDie M\u00e4nner haben hier wenig zu melden. Manchmal ist man froh, wenn man sie los wird.\u201c<\/span><\/span><\/p>\n \u201eAlso keine Schwierigkeiten?\u201c<\/span><\/span><\/p>\n \u201eDoch, wenn ledige M\u00fctter als Dienstm\u00e4dchen arbeiten, m\u00fcssen sie oft ihre Kinder verleugnen, weil sie sonst rausfliegen.\u201c<\/span><\/span><\/p>\n Viele dieser Frauen sind Mitglieder einer \u201eFrauenliga\u201c, in der sie regelm\u00e4\u00dfig ihre Probleme besprechen. Hier wird auch Politik gemacht. Ohne die M\u00e4nner. Wir fragen, ob sie die Erlaubnis ihrer M\u00e4nner haben.<\/span><\/span><\/p>\n \u201eDie Erlaubnis brauche ich nicht\u201c, sagt eine Mulattin, deren Falten das Alter nicht verraten. Sie ist vielleicht drei\u00dfig oder f\u00fcnfzig.<\/span><\/span><\/p>\n \u201eIch arbeite und verdiene\u201c, f\u00fcgt sie stolz hinzu.<\/span><\/span><\/p>\n \u201eUnd wenn sie nicht arbeiten?\u201c<\/span><\/span><\/p>\n \u201eDann ist es anders, dann mu\u00df ich tun, was er sagt.\u201c<\/span><\/span><\/p>\n \u201eFinden sie das richtig?\u201c<\/span><\/span><\/p>\n Sie l\u00e4chelt, Es ist ein sehr m\u00fcdes L\u00e4cheln. \u201eDas ist sicher schlecht. Aber die M\u00e4nner sind so. Die wollen kommandieren.\u201c<\/span><\/span><\/p>\n \u201eWenn wir arbeiten und sie frech werden, dann setzen wir sie einfach vor die T\u00fcr.\u201c So spricht eine Wei\u00dfe, die als Schneiderin t\u00e4tig ist. \u201eIch habe schon zwei weggeschickt, die nur lieben und befehlen wollten.\u201c<\/span><\/span><\/p>\n Alle lachen. \u201eja\u201c, sagen sie fast im Chor, \u201edie M\u00e4nner w\u00e4ren unausstehlich, wenn wir keine Arbeit h\u00e4tten und die M\u00f6glichkeit, sie aus dem Haus zu jagen.\u201c<\/span><\/span><\/p>\n Eine kleine hagere Negerin hat sich bis jetzt noch nicht am Gespr\u00e4ch beteiligt. Ich frage sie nach ihrer Meinung.<\/span><\/span><\/p>\n \u201eWenn man zw\u00f6lf Kinder hat und nicht mehr arbeiten kann, dann mu\u00df man gehorchen.\u201c Ihre Stimme zittert.<\/span><\/span><\/p>\n Eine junge, sehr hellh\u00e4utige Mulattin springt pl\u00f6tzlich vom Stuhl. Sie streckt ihre H\u00e4nde aus.<\/span><\/span><\/p>\n \u201eArbeiten \u2013 arbeiten\u201c, ruft sie, \u201eich kann das Wort heute nicht mehr h\u00f6ren. Ich habe einen Artikel gelesen. In einer feinen Zeitung. Da stand drin, da\u00df die Frauen ihre Natur vergewaltigen, wenn sie ein Recht auf Arbeit beanspruchen. Ja, das stand da: Frauen d\u00fcrfen nicht arbeiten. Das sei falsch verstandener Fortschritt. Sie sollten den M\u00e4nnern jene Dinge \u00fcberlassen, f\u00fcr die sie geboren sind. Ihr Frauen seid zu zart und zerbrechlich, hie\u00df es da. Schaut euch doch eure H\u00e4nde an, die sind geschaffen, um eure Kinder zu streicheln und einen Mann zu liebkosen. Zur Arbeit taugen die nicht. \u2013 Schaut euch doch eure H\u00e4nde an\u2026\u201c<\/span><\/span><\/p>\n Von den R\u00f6cken heben sich langsam die Arme. Die H\u00e4nde wenden sich nach oben, und die Frauen starren auf die Narben, die Furchen, die steifen Finger. Und pl\u00f6tzlich, ohne ein Wort, strecken sie ihre H\u00e4nde hilflos uns entgegen. Sie klagen nicht an. Sie fordern nicht. Sie fragen nur. Zwanzig H\u00e4nde fragen: Warum? \u2013 Und ich habe keine Antwort. Es ist unertr\u00e4glich. Claude hat Tr\u00e4nen in den Augen. Ich hasse meine wei\u00dfen gewaschenen Finger. \u2013 Jetzt mu\u00df etwas passieren. Eine Negerin summt vor sich hin. Die Spannung verebbt.<\/span><\/span><\/p>\n Die Mulattin sagt: \u201eMehr als tausend Leben lang haben unsere H\u00e4nde diese Welt ern\u00e4hrt. Niemand hat uns gesagt, da\u00df sie zu fein sind. Schon bevor Jesus, unser Retter, kam, haben wir geschuftet. Und wir schuften weiter, mit dicken B\u00e4uchen, aus denen neue Frauen kommen, die weiterschuften und wieder dicke B\u00e4uche kriegen. Und dann kommt einer von denen, die uns schuften lassen und uns diese dicken B\u00e4uche machen, und sagt: Die feinen zarten H\u00e4nde sind zu zerbrechlich.\u201c<\/span><\/span><\/p>\n \u201ePst\u201c, fl\u00fcstert die alte Mulattin mit den vielen Falten. \u201ePst\u201c, macht auch eine andere und zeigt auf die Frau, die mit geschlossenen Augen vor sich hin summt. \u2013 Jetzt singen schon zwei. Ein dritte f\u00e4llt mit schrillem Ton ein. Alle singen. Es ist ein Lied an die Mutter Gottes.<\/span><\/span><\/p>\n Und wieder heben sich die H\u00e4nde. Eins. Zwei. Eins, zwei, drei. Eins. Sie schlagen den Rhythmus. Sie trommeln die Stimmen hinauf zum Himmel. Sie werden zart, erregt, ja fast zerbrechlich und danken Gott jubelnd f\u00fcr ihr Leben. Sie jagen die Not davon, mit ihren vom Elend gezeichneten H\u00e4nden.<\/span><\/span><\/p>\n Die Frauen des Mittelstandes schleppen ihre Not zum Arzt. Eine \u00c4rztin in Salvador erz\u00e4hlt uns, da\u00df sie mit Krankheiten zu ihr kommen, deren Ursachen oft in psychischer Vergewaltigung zu suchen sind. Wenn diese Frauen ein wenig Geld haben, gehen sie zum Psychiater. Nat\u00fcrlich nie ohne ihren Mann. Er kann es nicht ertragen, da\u00df sich die Seele seiner Frau vor einem anderen \u00f6ffnet \u2013 und sei es zur Genesung. Und wenn der Arzt ihm erkl\u00e4rt, da\u00df er das Zentrum des Konflikts sei, setzt er sich auf das hohe Ro\u00df und verbittet sich, da\u00df man ihm Vorschriften mache, wie er seine Frau zu behandeln habe. Von sexuellen Fragen ganz zu schweigen. Dar\u00fcber spricht man nur unter M\u00e4nnern. Selbst beim Anatomie-Unterricht in den Schulen h\u00f6rt der Mensch beim Blinddarm auf. Wir haben junge M\u00e4dchen getroffen, die zusammenbrachen, weil sie pl\u00f6tzlich Frauen wurden und niemand, nicht einmal die eigene Mutter, ihnen gesagt hatte, da\u00df die weibliche Reife mit einem monatlichen Zyklus beginnt. Sie glaubten krank zu sein, auf immer verloren. M\u00e4dchen, die um jeden Preis \u201erein\u201c gehalten werden m\u00fcssen, um ihren Marktwert nicht zu verringern, und denen man deshalb die elementarsten Funktionen ihres K\u00f6rpers verschweigt.<\/span><\/span><\/p>\n \u201eIch empfange nicht nur verheiratete Frauen\u201c, erz\u00e4hlt die \u00c4rztin. \u201eZu mir kommen auch junge M\u00e4dchen, die dem Dr\u00e4ngen eines Mannes nachgegeben haben und nicht mehr ein noch aus wissen. Se haben geh\u00f6rt, da\u00df \u00c4rzte mit Nadel und Faden die \u201eSchuld\u201c vertuschen k\u00f6nnen.<\/span><\/span><\/p>\n \u201eUnd Sie helfen?\u201c<\/span><\/span><\/p>\n Meine Frage mu\u00df einen moralisierenden Unterton gehabt haben, denn die kleine Frau mit den wei\u00dfen Haaren wir rot vor Zorn.<\/span><\/span><\/p>\n \u201eNat\u00fcrlich helfe ich. Glauben Sie, ich w\u00fcrde diese zu Tode verwundeten armen Dinger abweisen und zusehen, wie sie moralisch gesteinigt werden? Man geht doch auch mit einer langen Nase zum Chirurgen, oder wenn ein Unfall das Kinn zerschmettert hat. Lehnt der Chirurg ab? Nein. Und ebensowenig tue ich das. Denn auch hier handelt es sich um einen Unfall, um einen Sch\u00f6nheitsfehler. Ich mu\u00df hinzuf\u00fcgen, da\u00df ich nur in extremen F\u00e4llen helfe. Wenn es irgendwie m\u00f6glich ist, \u00fcberzeuge ich die M\u00e4dchen ihre Tat bewu\u00dft zu tragen. Ich erkl\u00e4re ihnen, da\u00df nicht sie schuldig sind, sondern da\u00df einzig und allein unsere archaische Gesellschaftsordnung zu verurteilen ist.\u201c<\/span><\/span><\/p>\n \u201eWelche Chancen hat ein M\u00e4dchen, da\u00df nicht mehr Jungfrau ist, einen Mann zu finden?\u201c<\/span><\/span><\/p>\n \u201eWir sprechen nach wie vor vom Mittelstand. In den gro\u00dfen St\u00e4dten wie Rio und S\u00e3o Paolo macht sich seit einigen Jahre eine gewisse Toleranz bemerkbar. Im Rest des Landes kaum. Sie wissen, da\u00df man sich in Brasilien nicht scheiden lassen kann. Wenn jedoch ein Mann w\u00e4hrend der Hochzeitsnacht feststellt, da\u00df er nicht der erste gewesen ist, kann er die L\u00f6sung der Ehe fordern. Auf dem Lande bedeutet das Mord und Totschlag.\u201c<\/span><\/span><\/p>\n Nicht gesagt hat die \u00c4rztin, wie die \u201egewisse Toleranz\u201c der gro\u00dfen St\u00e4dte in den meisten F\u00e4llen aussieht. Die jungen M\u00e4dchen gehen mit M\u00e4nnern ins Bett. Das schon. Aber nur, um einem makabren Tanz um ihre Jungfr\u00e4ulichkeit beizuwohnen. Fast alles ist erlaubt, alles wird gefordert, aber diese letzte H\u00fcrde darf nicht genommen werden. Sie bleibt nach wie vor als einzig kontrollierbarer Beweis der \u201eReinheit\u201c die Hauptvoraussetzung f\u00fcr eine erfolgreiche Ehe.<\/span><\/span><\/p>\n Das nennt man Toleranz: Die Braut ist \u201eunber\u00fchrt\u201c, obwohl ihre Erfahrungen mit M\u00e4nnern kaum hinter denen eines Strichm\u00e4dchens zur\u00fcckstehen d\u00fcrften.<\/span><\/span><\/p>\n Man k\u00f6nnte annehmen, da\u00df die Angst vor Empf\u00e4ngnis die Grenzen dieser Liebesspiele absteckt. Sicher wirkt sie mit. Ausschlaggebend jedoch bleibt die tief verwurzelte \u00dcberzeugung, da\u00df physische Freuden zu den ausschlie\u00dflichen Vorrechten des Mannes geh\u00f6ren, w\u00e4hrend die Frau nur Objekt sein darf. Die Natur hat es so gewollt, hei\u00dft es. Deshalb beginnt die eigentliche S\u00fcnde erst dann, wenn die Frau nicht mehr Mittel ist, sondern zum Partner wird, wenn sie sich nicht mehr ergeben hingibt, sondern erlebend teilnimmt und ihrerseits nach Erf\u00fcllung verlangt.<\/span><\/span><\/p>\n Es ist das alte Lied: Wenn der Mann sich sexuell bet\u00e4tigt, ist er ein Kerl. Tut die Frau es, ist sie ein s\u00fcndiges Weib. Da jedoch das eine schlecht ohne das andere m\u00f6glich ist, wird die Welt sorgf\u00e4ltig getrennt in \u201eschlechte M\u00e4dchen\u201c und \u201egute Frauen\u201c. Mit den einen am\u00fcsiert man sich. Die anderen heiratet man.<\/span><\/span><\/p>\n L\u00e4cherliches Brasilien? \u2013 Keineswegs. Dort benimmt der Mittelstand sich nur so, wie es unsere B\u00fcrger noch vor wenigen Jahrzehnten taten.<\/span><\/span><\/p>\n \u201eEr hat den Spa\u00df und sie das Kind\u201c; war auch bei uns ein Motto, mit dem man die doppelte Moral rechtfertigte, die Frau ausklammerte und die Vorrangstellung des Mannes begr\u00fcndete.<\/span><\/span><\/p>\n Heute sieht es zwar an der Oberfl\u00e4che anders aus: Zwei Weltkriege haben die herk\u00f6mmliche Moral ersch\u00fcttert. Die massive Industrialisierung konnte ohne Hinzuziehung der Frau nicht stattfinden. Man mu\u00dfte sie aus ihrer beh\u00fcteten Rolle herauslassen und gab ihr mit der materiellen Unabh\u00e4ngigkeit einen Vorgeschmack auf gr\u00f6\u00dfere Freiheit. Psychoanalyse und Soziologie rissen die Probleme der Frau, der Ehe, der Liebe und Sexualit\u00e4t aus dem Dunkel der Beichtst\u00fchle und verqualmter M\u00e4nnerabende ins Licht der freien Diskussion.<\/span><\/span><\/p>\n Trotzdem sind die alten Grunds\u00e4tze nicht tot. Sie f\u00e4rben unsere Urteile und bestimmen unser Verhalten, sobald es sich um Frau und Liebe handelt. Auch bei uns klingeln noch viele Wecker, und ein Blick auf Brasilien zeigt, welcher Geist sie aufzieht<\/span><\/span><\/p>\n \u201eDu bist mein Retter\u201c, murmelte sie und k\u00fc\u00dfte ein kleines Bild, das sie in der hohlen Hand verborgen hielt. \u201eM\u00f6ge Gott dir zum Siege verhelfen. Mein Leben geh\u00f6rt dir.\u201c<\/span><\/span><\/p>\n Sie kniete nieder, und Hunderte von Frauen br\u00fcllten: \u201eEs lebe Lacerda! \u2013 Nieder mit den Kommunisten! \u2013 Zur\u00fcck zu W\u00fcrde und Freiheit.\u201c<\/span><\/span><\/p>\n In der einen Hand hielten sie den Rosenkranz, mit der anderen schwangen sie Plakate, die mit gro\u00dfen Buchstaben verk\u00fcndeten: \u201eF\u00fcr Gott, Familie und Vaterland.\u201c<\/span><\/span><\/p>\n Auch Bilder wurden geschwungen. Es waren Vergr\u00f6\u00dferungen des kleinen Fotos, das die Frau mit dem Schleier soeben k\u00fc\u00dfte. Es stellt Lacerda dar, den Gouverneur von Rio de Janeiro, der sich dort an die Spitze des \u201eKreuzzuges gegen den Kommunismus\u201c gestellt hatte und der eigentliche Motor des Staatsstreiches war, der am ersten April in Brasilien zur Milit\u00e4rdiktatur f\u00fchrte.<\/span><\/span><\/p>\n Datum: 26. 3. 1964. Ort: Recife, Hauptstadt des Nordostens. Wir gehen durch die Reihen der Frauen und fragen: \u201eWarum schreit ihr? Warum betet ihr? Was wollt ihr?\u201c<\/span><\/span><\/p>\n\n