Skip to content
  • Deutsch
  • English
  • Français

Das ist die Liebe der Chinesin

Stern Heft 29, 17. Juli 1966

Der Gedanke, allein durch China zu reisen, läßt mein Herz doch etwas schneller schlagen. Gordian Troeller mag mir noch so gut zureden und abermals alle Gründe aufzählen, die für diesen Alleingang sprechen. Mir ist unheimlich zumute, ins Riesenreich Mao Tse-tungs zu fahren – allein unter siebenhundert Millionen Chinesen.

„Eine Frau – besonders eine Französin – wird über Ehe, Liebe und die Probleme der Chinesinnen mehr erfahren als ein journalistisches Zweigespann“, sagt Gordian zum zehntenmal.
Und jetzt ist es zu spät, um Bedenken anzumelden. Wir stehen in der britischen Kronkolonie Hongkong vor dem Zug, der mich an die chinesische Grenze bringen soll.
„Nur 40 Kilometer“, sagt Gordian. „Wenn du ankommst, bin ich wahrscheinlich schon in Bangkok.“

Der hat gut reden. Während ich mich dieser vorsintflutlich anmutenden Eisenbahn anvertrauen muß, wird er eine luxuriöse Düsenmaschine besteigen, um sich in Bangkok mit den Problemen der hübschen Thailänderinnen zu beschäftigen. – Zwar hatten italienische Filmstars und südamerikanische Millionärstöchter mir mal erzählt, daß die Chinesen die galantesten Männer der Welt seien – ja sogar die besten Liebhaber. Aber was hilft das jetzt? Wenn so allgemein von „Chinesen“ die Rede ist, weiß man nie, wer gemeint ist: die Männer Rotchinas oder die Millionen, die in Hongkong, Singapur, San Fransisco, Indonesien oder anderen Ländern leben. Mir sagte auch mal eine Spanierin, daß sie in den Armen irischer Männer am glücklichsten sei. Dabei war sie nie in Irland gewesen. Ihre Erfahrungen beschränkten sich auf ein paar New Yorker Polizisten irischer Abstammung.

Kapitalisten lieben China

Ein schriller Pfiff reißt mich aus meinen Überlegungen. Es geht los.
„Vergiß nicht, ein paar Tage in Sibirien Station zu machen“, ruft Troeller. „Wir treffen uns dann in Paris. Au revoir. Bonne chance.“

Ein Liebespaar auf der chinesischen Mauer. Ein unvorstellbares Bild vor der Revolution. Damals stand eine weit gewaltigere Mauer zwischen den Geschlechtern. Die Frau war die Sklavin des Mannes. Heute gibt es keine Herren mehr. Die Frauen haben gesiegt, wie nirgends sonst auf der Welt

Das klingt alles so einfach. Und es ist sogar sehr einfach. Das Visum zum Beispiel: Mein Paß wurde vom chinesischen Reisebüro in Hongkong nach Kanton geschickt und kam zwei Tage später mit der Einreiseerlaubnis zurück. Mehr noch: Der Abstecher durch China kostet uns keinen Pfennig. Mein Rückflugschein Hongkong-Paris wurde einfach unterschrieben. Anstatt über New Delhi, Teheran und Rom zurückzufliegen, geht es jetzt über Kanton, Schanghai, Peking, Irkutsk und Moskau. Ohne Zuschlag.

„Kaugummi gefällig?“ fragt jetzt ein zahnloser Chinese, der sich durch mein Abteil schlängelt, „drüben in China gibt’s keinen.“
„Aspirin?“ flüstert ein anderer und zieht ein paar dreckige Schachteln aus der Tasche. „Drüben gibt’s keins. Sie können krank werden, Madame.“
„Zigaretten“, ruft ein dritter. „Nehmen Sie die Gelegenheit wahr. Es ist die letzte. Drüben ist alles knapp.“
So geht es bis zur Grenze. Immer die Mahnung, daß ich in ein Land fahre, in dem es nichts geben soll – weder Kaugummi noch Freiheit.
Gott sei Dank bleibt mir die Erinnerung an gestern abend. Wir waren bei französischen Industriellen eingeladen. Die übrigen Gäste gehörten zur Creme der europäischen Wirtschaft. Deutsche, Engländer, Franzosen. Alle hatten China bereist, und es wurde nur mit Superlativen herumgeworfen: „Das sind die korrektesten, anständigsten, arbeitsamsten Menschen der Welt.“ – „Im Vergleich zu den übrigen Staaten Südostasiens ist China ein Paradies.“ – „So höfliche Menschen gibt es nie wieder.“ – „Und der Wodka – das Essen – die Würde – das Bier.“ – „Sie werden ebenso begeistert sein wie wir.“

Das immerhin hatten mir die Vertreter der europäischen Schwerindustrie gesagt, Leute, die regelmäßig China besuchen und politisch sicherlich nicht auf seiten der Kommunisten stehen. Es gibt mir Mut, trotz der Flüsterparolen dieser eifrigen Trödler.

Wer Frauen hilft, beleidigt sie

Als ich endlich den englischen Zug verlasse und über die internationale Brücke chinesischen Boden erreiche, werden die Lobreden meiner gestrigen Gastgeber Wirklichkeit: ein moderner Bahnhof. Tiefe Klubsessel, höfliche Zöllner, die Englisch und Französisch sprechen. Sogar ein köstliches Mittagessen wird serviert. Selbst der Zug, den ich danach besteige, ist ein Superding im Vergleich zu der Rappelkiste, die mich bis zur Grenze gebracht hat. Es gibt Erster und Zweiter Klasse. Für einen Pfennig wird Tee serviert. Alle zehn Minuten erscheint ein hübsches Mädchen, um die Aschenbecher zu leeren und den Boden zu säubern. Wenn das kein Luxus ist? In einer klassenlosen Gesellschaft?

In Kanton erhält die von den Herren der Schwerindustrie angeheizte und über jeden Kilometer sorgfältig gepflegte Begeisterung einen empfindlichen Rippenstoß: Obwohl ein Dolmetscher zur Stelle ist, macht er keine Anstalten, mir beim Tragen der Koffer und Kameras zu helfen. Wenn ich erschöpft stehenbleibe, murmelt er ein paar höfliche Worte über das Wetter und wartet geduldig, bis ich genug Kraft gesammelt habe, um mich und mein Gepäck weiterzuschleppen.

Vor dem Bahnhof geht es einigen Chinesinnen nicht besser. Sie laden schwere Baumstämme auf ihren Rücken. Wenn sie ächtzend zwei- oder dreimal anheben müssen, bevor sie die Last auf ihre Schultern gelegt haben, fällt es keinem der vorbeigehenden Männer ein, Hand anzulegen. Einige stehen sogar herum und gaffen.

Die noch in Hongkong so gerühmte Höflichkeit der Chinesen scheint also doch ein Märchen zu sein und das Los der Frau als Lasttier keineswegs besser als vor der Revolution.
Ich bin erschöpft und wütend genug, um meinen Dolmetscher sofort um eine Erklärung zu bitten.
„Wer einer Frau hilft, beleidigt sie“, lautet die lapidare Antwort.
„Sind die schuftenden Frauen etwa der gleichen Meinung, wenn ich fragen darf?“
„Aber bitte, Madame, fragen sie doch.“


Der Stolz, endlich dem Manne gleichgestellt zu sein, ist groß, daß Frauen sich gekränkt fühlen, wenn ein Mann ihnen bei schwerer Arbeit helfen will

Ich frage. Während meiner vierwöchigen Reise durch China verpasse ich keine Gelegenheit, Frauen jeden Alters darauf anzusprechen. Es stimmt. Sie würden sich tatsächlich beleidigt fühlen. Sie fordern das Recht, genau wie ein Mann zu arbeiten und deshalb auch nicht anders behandelt zu werden. Wer das durch unerwünschte Hilfestellung in Frage stellt, beweist nur, daß er die Frau immer noch wie früher als zweitrangiges Wesen betrachtet – als minderwertig.

So deutlich wird das gesagt. Und da kennen die kleinen Chinesinnen keinen Spaß. Zu ihrer neuen Würde gehört vor allem diese Selbstständigkeit. Sie behaupten sogar, es sei einfach lächerlich und charakterlos, wie die Frauen des Westens einerseits Gleichberechtigung fordern, andererseits jedoch betont das mit Erotik geladene zerbrechliche Geschöpf spielen und vom Mann Rücksicht und Ritterlichkeit verlangen. Das paßt nicht zusammen, meinen sie. Wer den doppelten Vorteil der Gleichheit und Weiblichkeit ausnutzt, ist nichts weiter als ein ehrgeiziges Weibchen – aber keine Frau.

So ist der Dolmetscher auch nur betont höflich, wenn er mir erlaubt, meinen Koffer selbst bis zum wartenden Auto zu schleppen. Wahrscheinlich müßte ich ihm sogar dankbar sein. Als ich ihn frage, ob ich nun auch die stolzen Frauen mit den schweren Baumstämmen fotografieren darf, gerate ich schon wieder mit der Menschenwürde in Konflikt.
„Selbstverständlich“, sagt er. „Außer militärischen Anlagen können Sie in China alles fotografieren. Wenn Sie jedoch Bilder von Menschen machen wollen, sollten Sie diese zuvor um Erlaubnis bitten. Ich glaube, daß es wohl auch in Ihrem Land niemand gern hat, unverhofft und vielleicht unvorteilhaft fotografiert zu werden.“

Früher durften nur Konkubinen, Unterhaltungsdamen und Dirnen Tanzen lernen. Heute gehört es zur allgemeinen Bildung. Und es gibt keinen Unterschied mehr zwischen der Erziehung eines Jungen und eines Mädchens.

Geschenke öffnen keine Herzen

„Und wie soll ich da gute Bilder mit nach Hause bringen?“
„Möchten Sie fotografiert werden, wie Sie jetzt aussehen?“ fragt der Dolmetscher höflich.
Ein schneller Blick in das spiegelnde Wagenfenster zeigt mir, was er meint. Die Haare kleben an meiner Stirn. Schweiß perlt auf dem Kinn. „Nein“, seufze ich. „Bei vierzig Grad im Schatten sieht niemand gut aus.“
„Sehen Sie. So hat jeder sein Gefühl von Würde.“

Oh, diese Chinesen! Dieser höfliche Appell an die Logik. Die nahezu priesterliche Art zu mahnen, daß man vielleicht unrecht hat oder wenigstens bedenken sollte, daß Arme und Gelbe auch Menschen sind und als solche behandelt werden möchten.
Ich will trotzdem zeigen, daß ich nicht beeindruckt bin, und lege gelassen einen Film in die Kamera. Der Dolmetscher wartet geduldig. Ein paar Kinder schauen neugierig zu.
Um Kinder zu zähmen, haben wir einen kleinen Trick. Das Silberpapier, das die Filme schützt, ist ein unwiderstehlich schillernder Schatz, der die frechsten Gören gefügig macht. Ich reiche es lächelnd dem kleinsten Mädchen. Es schüttelt energisch den Kopf. Vielleicht ist ein Junge weniger zimperlich? Der steckt seine Hände in die Taschen und murmelt ein paar Worte.
„Er dankt Ihnen“, übersetzt der Dolmetscher. „Aber auch er will keine Geschenke.“ – In den Kinderaugen steht kein Haß, keine Angst, nur ein unbeugsamer Stolz.
„Darf ich euch denn wenigstens fotografieren?“
Die Kleinen diskutieren. Es geht heiß her. Zum Schluß bilden sich zwei Gruppen. Fünf sind dagegen und drehen sich einfach um. Vier sind dafür. Sie glätten sorgfältig ihre Kleider und stellen sich in Reih und Glied.

Entmutigt lasse ich die Kamera sinken und falte das Silberpapier zu einem kleinen Dampfer. Das fasziniert alle Kinder. Von Südamerika bis Japan. Auch die kleinen Chinesen schauen aufmerksam zu. Aber keiner streckt die Hand aus. Als ich schon im Auto sitze, lasse ich das Schiffchen fallen. Ein letzter Versuch zur Verbrüderung. Ohne die Aufsicht des Dolmetschers wird die kindliche Neugier vielleicht über den Stolz siegen.

Der Ehemann ist Gast bei seiner Frau

Als ich am nächsten Morgen zum Frühstücksraum gehe, komme ich an einem großen Schaufenster vorbei: „Gefundene Gegenstände.“ Da steht eine halbvolle Whiskyflasche neben einem Tirolerhut. Französische Münzen lehnen gegen einen Würfel. Etwas weiter ein Fingerhut, zwei zum großen Teil ausgedrückte Zahnpastatuben, eine englische Zigarettenspitze – und einsam in einer Ecke der kleine silberne Dampfer. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Jedenfalls hat China die erste Runde gewonnen.

Wie hatten die Herren der europäischen Schwerindustrie in Hongkong gesagt: „Das Auto abzuschließen ist eine Beleidigung. Es wird nie etwas gestohlen. Selbst Türen werden nicht mehr verriegelt. Siebenhundert Millionen Chinesen haben die Ehrlichkeit zum Prüfstein der Menschenwürde gemacht.“

Wenn dem so ist, dann soll man mir gefälligst auch ehrlich die Lage der arbeitenden Frau erklären. – Ich brauche nicht zu drängen. Ich werde bedrängt. Morgens um acht Uhr geht es los, und nie komme ich vor Mitternacht ins Bett. Man schleppt mich in Dörfer, Volkskommunen, Fabriken. Noch nie war eine Reportage so anstrengend. Wenn ich heikle ideologische Fragen anschneide, geht es meist heiß her. Manchmal erhalte ich die Antwort erst am nächsten Morgen. Während der Nacht hat das Komitee getagt, um sie zu formulieren. Mir bleibt nur ein Trost: Als ich Kanton verlasse, ist mein Dolmetscher ebenso am Ende seiner Kräfte wie ich selbst.

In Schanghai geht es weniger hektisch her. Ohne viel Worte zu verlieren, führt man mich auf den höchsten Wolkenkratzer und fragt, was ich sehen will. Am Horizont liegen neue Arbeitersiedlungen wie ein riesiger Zementgürtel um die Stadt. Ich deute auf irgendeine. Man nickt.
„Selbstverständlich, Madame.“

Die Arbeitersiedlung beherbergt sechzigtausend Menschen in zweistöckigen Reihenhäusern. Jede Familie verfügt über zwei Zimmer und einen Waschraum. Auf drei Wohnungen kommt nur eine Küche. Aber dort hat jede Familie ihren eigenen Gasherd, ihr Geschirr und eine Wand, um es aufzuhängen. Solch eine Wohnung kostet drei Prozent des Monatseinkommens. Fast jede Familie hat ein Radio.
„Früher konnte ich hundert Pfund Reis von meinem Monatsgehalt kaufen“, erzählt eine Frau. „Heute sind es fünfhundert. Deshalb habe ich jetzt auch ein Bankkonto.“
„Und was machen Sie mit Ihren Ersparnissen?“ will ich wissen.
„Davon kaufe ich meinem Mann ein Fahrrad und den Kindern Kleider.“
„Verdient Ihr Mann denn nicht soviel wie Sie?“
„O nein. Er ist ungelernter Arbeiter. Ich bin eine Fachkraft und gehöre zur Textilfabrik. Das garantiert mir ein festes Einkommen und natürlich diese Wohnung.“


Solange ihre Kinder klein und hilflos sind, können berufstätige Mütter sie während der Arbeitszeit in geschulte Obhut geben und während der Pause besuchen. Fast alle Fabriken unterhalten Säuglingsheime und Kindergärten

In Kanton und auf dem Lande hatte ich erfahren, daß Mann und Frau bei gleicher Stellung und Arbeitsleistung auch gleiche Löhne beziehen. Was jedoch wirklich revolutionär ist, wurde eben beiläufig im letzten Satz ausgesprochen: Die arbeitende Frau hat Recht auf Unterkunft. Wenn sie in einem Werk beschäftigt ist, das Arbeiterwohnungen zur Verfügung stellt, dann hat sie darauf den gleichen Anspruch wie ihre männlichen Kollegen – für sich und ihre Familie. Der vielleicht weniger begünstigte Ehemann wohnt also mit Kind und Kegel bei seiner Frau.

Anstatt benachteiligt zu sein – wie in vielen anderen Ländern -, hat die Frau in China dem Mann sogar einige Vorteile abgerungen. Wenn zum Beispiel der monatliche Zyklus schmerzhaft verläuft, steckt sie sich einen roten Knopf an die Bluse, damit ihre Kollegen sie während dieser paar Tage nicht überfordern und eventuelle Launen verständnisvoll hinnehmen. Neben verlängertem Urlaub vor und nach der Schwangerschaft ist das jedoch die einzige Konzession an ihre Weiblichkeit, der sich die Chinesin nicht widersetzt.


Ledige Fabrikarbeiterinnen leben in Schlafsälen. Wenn sie verheiratet sind, haben sie das Recht auf eine Wohnung für sich und ihre Familie. Ein Mann kann also mit Kind und Kegel zu seiner Frau ziehen

Mao siegte – weil Frauen es wollten

Außer dem naturbedingten Handikap will sie genau wie ein Mann behandelt werden. Und es ist kein Märchen, wenn immer wieder behauptet wird, daß die chinesische Revolution vor allem deshalb triumphieren konnte, weil sie der Frau ein besseres Los versprach. Jene, die früher wie Sklavinnen verkauft und behandelt wurden, sind heute die tragende Kraft des Regimes. Sie nehmen ihre neuen Rechte und Pflichten so ernst wie Kinder, denen man plötzlich echte Verantwortung überträgt und blindes Vertrauen schenkt.

Überall treffe ich Frauen, denen der Enthusiamus und die Opferbereitschaft förmlich aus den geschlitzten Augen sprühen. Sie scheinen glücklich, einer Europäerin ihre Errungenschaften zeigen zu können: Müllabfuhr, Kanalisation, Kulturzentrum, Theater, Kinderfürsorge, Krankenpflege. Alles, oder fast alles wird von Frauen verwaltet.


Berufstätige Mütter können ihre Kinder tagsüber an Schaltern abgeben. Dort werden ihnen auch andere Sorgen abgenommen wie Wäsche und Reparaturen

Sicherlich ist all das etwas völlig Neues für diese Menschen. Sie sind so stolz darauf, daß es mir schwerfällt, ihre Begeisterung zu dämpfen. Aber ich kann nicht umhin, ihnen zu sagen, daß die gleichen gemeinnützigen Einrichtungen in jeder Gemeinde Europas zu finden sind. Ich gestehe sogar, daß ich enttäuscht bin. In einer den Kommunismus anstrebenden Gesellschaft glaubte ich, revolutionäre Experimente großen Stils erwarten zu können: Heime für die Kinder aller arbeitenden Frauen zum Beispiel.

Der Staat hilft bei der Hausarbeit

Man schaut mich erstaunt an, und ich erkläre, daß ich keinen Unterschied entdecken kann zwischen dem Leben einer europäischen und einer chinesischen Arbeiterin. Die Chinesinnen verdienen ebensoviel wie die Männer – einverstanden -, aber nach der Arbeit müssen auch sie sich noch um die Hausarbeit kümmern.
„Aber nicht mehr allein“, rufen sie. „Der Mann hilft im Haus. Er schämt sich nicht mehr, Geschirr zu spülen und den Boden zu fegen.“
„Das ist bei uns nicht anders.“
„Wir können unser Essen aus der Kantine mitnehmen. Da brauchen wir nicht mehr zu kochen.“
„Auch das ist nicht neu.“

Die Frauen schauen sich fragend an. Sie tuscheln. Und plötzlich scheinen sie gefunden zu haben, was sie mir noch zeigen können. Ein Lächeln huscht wieder über ihre Gesichter.
„Wir haben in jeder Straße ein Büro, das von Frauen verwaltet wird und sich um die Bedürfnisse der Bewohner kümmert. So eine Art ,Dienst am Nächsten`. Der erspart allen viele Arbeitsstunden. Kommen Sie mit.“

Ich finde in der Tat überall solche Zentralen, die einem jeden Gang abnehmen. Hier gibt man Schuhe zum Besohlen ab, Bestellungen für Kleider, Wäsche, Wünsche, und Helferinnen verteilen alles unentgeltlich an die zuständigen Betriebe.
„Habt ihr denn eine zentrale Wäscherei?“ will ich wissen.
„Natürlich“, lautet die stolze Antwort. „Die Maschine haben wir sogar selbst gebaut…“

So sieht sie auch aus: eine riesige, schwerfällig rotierende Holztrommel. Aber sie funktioniert. Und wenn sie mal streikt, dann bringen die einfallsreichen Frauen sie im Nu wieder zur Räson. Sie sind übrigens unentwegt am Basteln. Was da an nützlichen und manchmal auch völlig unsinnigen Verbesserungen erfunden wird, ist unvorstellbar.


Die Chinesinnen sind ununterbrochen am Basteln. Was da jeden Tag „erfunden“ wird, ist unvorstellbar. Diese selbstgebaute Waschmaschine wäscht für alle Familien in einem alten Viertel von Schanghai

In Krankheitsfällen vermittelt das Straßenbüro Hausgehilfen. Wenn die Mutter zur Arbeit geht und keine alte Frau im Haus ist, kümmern sich Helferinnen in modernen Kindergärten um die kleinen Sprößlinge. Selbst wer mit seinem Ehepartner nicht mehr zurecht kommt, kann im Büro um Rat und Beistand bitten.

Theaterspiel ersetzt die Polizei

„Was sind denn eure größten Schwierigkeiten?“ möchte ich wissen.‘
„Wenn zwei Frauen mit schlechtem Charakter dieselbe Küche teilen.“
„Und wer sorgt für Ordnung, wenn es zum offenen Konflikt kommt? Die Polizei?“
Das hätte ich wahrscheinlich nicht fragen dürfen. Die freundlichen Damen erheben sich wie ein Mann: „Im ganzen Stadtteil gibt es keinen einzigen Polizisten.“
Aber irgend jemand muß doch den Respekt vor den Gesetzen garantieren.“
„Wir – und alle gemeinsam. Wir versuchen, die streitenden Parteien zu versöhnen. Wir appellieren an die Vernunft, an unsere revolutionären Ziele. Wenn das nichts nützt, greifen wir zu radikaleren Mitteln.“
„Und welche sind das?“
„Ein kleines Theater, eine Bühne, auf der der ganze Konflikt noch einmal durchgespielt wird. Das ist so komisch. Der ganze Saal lacht – und die Beteiligten zum Schluß meistens auch. Nur in ganz seltenen Fällen hilft auch das nicht. Dann müssen wir eben weiter erklären und überzeugen. Oft dauert es Monate. Aber wir haben Geduld.“

Meine Geduld habe ich schon lange verloren. „Sie können mir doch nicht einreden, daß eine Gemeinschaft ohne Zwang auskommen kann“, rufe ich. „Besonders wenn eine Nation ihre ganze Energie auf die Zukunft konzentriert. Was macht ihr mit den Faulen, mit denen vor allem, die eure Arbeit erschweren oder gar sabotieren. Dafür gibt es doch Strafen.“
Die Antwort ist ebenso unerwartet wie die meisten Erlebnisse auf dieser China-Reise: „Steckt man in Europa die Kranken etwa ins Gefängnis? Oder müssen sie etwa Strafe zahlen?“
Ich schüttele selbstverständlich den Kopf. Und dann erklärt man mir: „Wenn jemand die Ordnung gefährdet, dann ist er körperlich, seelisch oder gesellschaftlich krank. Und wie einen Kranken behandeln wir ihn auch. Wir erklären, überzeugen, belehren, bis er selber versteht, warum er krank ist.“

Oh, diese Erklärungsmanie! Seit ich in China bin, kann ich mich nicht davor retten. Auch ich werde täglich geduldig belehrt. Zum Verzweifeln pedantisch. Jede zweite Chinesin scheint sich zur Missionarin berufen zu fühlen. Demütige Dienerinnen eines neuen Glaubens. Fanatisch bedacht, alles richtig zu machen und eigene Fehler sofort zu erkennen und ohne falsche Scham zu korrigieren.

Die Furcht vor amerikanischen Angriff ist so groß, daß selbst Mädchen täglich Kriegsspiele üben

Im Vorzimmer des Paradieses

Wahrscheinlich ist es in erster Linie den Frauen zu verdanken, daß hier ein totalitäres Regime sich nicht nach stalinistischem Muster zum Polizeistaat entwickelt hat, sondern vielmehr versucht, den Menschen auf die „weiche Art“ durch Beispiele und Belehrung für sich zu gewinnen. Und es scheint gelungen zu sein. Jedenfalls stelle ich fest, daß die Mehrzahl der chinesischen Frauen überzeugt ist, im Vorzimmer des Paradieses zu leben.

Natürlich wäre das Leben der Chinesinnen für eine an Kühlschrank, Fernsehen und Autor gewöhnte Europäerin unerträglich. Aber wir dürfen nicht dem alten Irrtum zum Opfer fallen, das Leben in China an unserem westlichen Lebensstandard zu messen. Wir müssen die Lage mit jenen Verhältnissen vergleichen, die dort noch vor zehn oder zwanzig Jahren herrschten. Nur dann kann man das „paradiesische“ Gefühl der Chinesinnen verstehen.

Es dürfte ungefähr jenem Eindruck entsprechen, den eine deutsche Frau empfindet, wenn sie ihr heutiges Dasein mit der Not von 1946 vergleicht. Und selbst diese Gegenüberstellung gilt nur für die materielle Umgebung des Alltags. Was die moralischen und seelischen Probleme angeht, so hat die Chinesin in den letzten siebzehn Jahren einen Sprung getan, der ungefähr der Spanne zwischen dem Mittelalter und unserer Zeit entspricht.

Ja, mehr noch. Wenn wir uns ausschließlich auf die Mann- Frau-Beziehung beschränken, dann hat die Chinesin sogar ihre westlichen Schwestern überholt. Nicht nur auf dem Gebiet gesetzlich verbriefter Gleichheit, sondern vor allem im ideellen Verhältnis zum Mann. Das Gefälle zwischen den Geschlechtern, das bei uns immer noch die Beziehung zwischen Mann und Frau bestimmt, wird in China systematisch abgebaut und scheint für die Mehrheit bereits völlig verschwunden.

Eine Französin, die ich an der Universität von Peking traf, ist der Meinung, daß eine so radikale Gleichheit der Geschlechter nur in einem totalitären Staat unter offizieller Führung und öffentlichem Druck erreicht werden kann. In der freien Gesellschaft sei das unmöglich. Und zwar aus verständlichen Gründen. Hier nämlich wird es immer Frauen geben, die bewußt und ausschließlich ihre weiblichen Qualitäten in die Waagschale werfen, um ihr Ziel zu erreichen – sei es Geborgenheit, Ruhm, Geld oder beruflichen Erfolg.

Der Kampf der Geschlechter klingt aus

Im System der freien Marktwirtschaft liegen diese Damen natürlich weit vorn, und es gibt kein Mittel, sie im Kampf der Geschlechter zur Solidarität mit ihren Schwestern zu zwingen. Im Konkurrenzkampf um Mann und Arbeit wiegt deshalb eine schön geformte Brust oft schwerer als ein gut geschulter Kopf. Was also bleibt den anderen Frauen übrig, als ihrerseits der „Verräterin“ nachzueifern?

Das scheint der unvermeidliche Preis der Freiheit zu sein. Viele Soziologen sind sogar der Meinung, daß die westliche Frau auf dem Gebiet der Gleichberechtigung wieder auf dem Rückzug sei. Solange ihre sexuellen Trümpfe hochgespielt werden, wird sie immer mehr gezwungen, mit weiblichen und erotischen Ködern nach Anerkennung zu fischen anstatt auf der Achtung ihrer menschlichen Qualitäten zu bestehen.

Die Jugend tanzt nicht nach Jazz-Musik. Sie brüllt auch nicht -Yeah. Mädchen marschieren nach patriotischen Liedern und schreien politische Parolen. Diese Studentin aus Peking protestiert gegen den Vietnam-Krieg.

Das klingt fast wie Blasphemie, wenn es ausgerechnet im Zusammenhang mit den Frauen des kommunistischen Chinas gesagt wird. – Aber wir sind ja nicht ausgezogen, um politische Systeme zu vergleichen, sondern um das Los der Frau zu beschreiben und im Kampf der Geschlechter die Fronten abzustecken. In China zwingt das materielle Los die Frau heute noch zu großen Opfern. Die Front zwischen Mann und Frau scheint jedoch völlig zusammengebrochen zu sein. Sie stehen sich nicht mehr feindlich gegenüber. Sie sind teils gewollt, teils gezwungen gleichwertige Partner im Kampf ums Leben geworden.

Aber zu welchem Preis? So wird man jetzt fragen. Ist dabei nicht alles verlorengegangen, was das Dasein schön und aufregend macht? Die chinesischen Frauen sind doch jetzt anonyme Ameisen in unförmig blauen Kitteln. Die Familie ist zerissen. Sex wird klein geschrieben. Und die Liebe? Was ist von der Liebe übriggeblieben?

Darüber berichten wir im nächsten STERN.

Back To Top