Skip to content
  • Deutsch
  • English
  • Français

Die Hölle der Schwiegertöchter (Indien)

Stern, Heft 41, 10. Oktober 1965

.

Die Hölle der Schwiegertöchter. Indiens Gesetze versprechen den Frauen Gleichberechtigung, aber das Kastensystem zwingt sie, Zärtlichkeit und Mutterliebe zu verstecken. Selbst bei reichen Leuten wird die Braut nach der Hochzeit zum Dienst Mädchen der Schwiegermutter.

Vor dem Brunnen stehen zwei Kinder. Ein Junge und ein Mädchen von vielleicht fünf Jahren. Während das Mädchen sein Kleid bis zu den Achseln hochhält, übergießt der Junge den bloßen Teil des Körpers mit Wasser. Besonders viel gießt er über den Rücken. Und nun kommt er an die Reihe. Die Kleine füllt den Eimer und leert ihn über das Hinterteil des Begleiters.

Dann blicken die beiden sich fragend an. Der Junge schüttelt den Kopf. Ihm scheint es nicht zu genügen. Wiederum wird der Eimer gefüllt, und es geht von vorne los. Zunächst sie. Dann er. Nach der zweiten Waschung hat das Mädchen Bedenken. War es genug? Anscheinend nicht. Die Kleine greift wieder zum Eimer, und diesmal werden die Bäuche mit besonderer Energie übergossen.

Ich weiß nicht, wie lange dieses Spiel gedauert hätte, wenn wir nicht aufgetaucht wären. Aber war es ein Spiel? Nein. Diese Kinder mußten irgendetwas Verbotenes getan oder berührt haben und versuchten nun verzweifelt, sich vom Fluch der Unreinheit zu befreien, bevor sie es wagten, nach Hause zu gehen. Vielleicht hatten sie mit Kindern der „Unberührbaren“ gespielt. Jedenfalls kannten sie den täglich von Mutter und Vater eingepaukten Refrain: „Berühre nichts Unreines!“ Und da die Skala der unberührbaren Dinge und Menschen so unendlich groß ist, daß nur Schriftgelehrte sich zurechtfinden, können sie nie genau wissen, wann sie sündigen. Jetzt zum Beispiel rennen sie davon über Kuhfladen und Kot, der um ihre Waden spritzt. Das ist unsere Schuld. Sie haben Angst. Aber müssen sie sich jetzt wieder waschen?

Neben einer Kuhflade begrüßt uns auch der Bürgermeister. Wir hatten ihn gebeten, die Frauen in seinem Dorf studieren zu dürfen, und nun werden wir feierlich empfangen. Überall Neugierige. Meistens Männer. Die wenigen Frauen hüllen ihre Gesichter in große Schals. Für die Augen lassen sie einen schmalen Schlitz frei, der immer kleiner wird, je näher wir kommen. Als das Loch gerade noch groß genug ist, um ein Auge auf die „komischen Ausländer“ zu werfen, hebt der Bürgermeister anklagend seinen Zeigefinger und erklärt uns: „Daran ist der Islam schuld. Sie wissen sicher, daß Indien einmal von den Mohammedanern überrannt worden ist. Die vergewaltigten alle einigermaßen hübschen Frauen. Was blieb den Indern übrig als ihre Frauen einzusperren? Oder wenigstens zu verschleiern? Und so ist es bei uns geblieben. Die verdammten Mohammedaner haben alles verdorben.“

Es gibt kein Land der Welt, in dem die Gegensätze so groß sind wie in Indien. Die modernen Frauen sprechen unverhüllt und frei mit Männern. Doch die meisten Inderinnen, Hindufrauen ebenso wie Mohammedanerinnen müssen alles verstecken, was einen Mann anziehen könnte.

Der Dorfmund – selbst wenn er aus einem Bürgermeister spricht – wiederholt nur die offiziellen Lügen. Es scheint mir deshalb unnütz, den Bürgermeister daran zu erinnern, daß nicht die Mohammedaner für das Los der indischen Frauen verantwortlich sind. Schon Manu, der legendäre Gesetzgeber des Hinduismus, verurteilte sie zur Unterwürfigkeit. Einer seiner Nachfolger meinte sogar: „Frauen brauchen nicht an den heiligen Ganges zu reisen, um sich zu reinigen. Für sie genügt es, die Füße ihres Mannes zu waschen und dann das Wasser zu trinken.

Der Bürgermeister ist ein praktischer Mann. „Journalisten sind der Bindestrich der Kulturen“, meint er und bittet mich, in der kürzlich zur Mittelschule ausgebauten Volksschule einen Vortrag zu halten.
Da stehe ich also vor 250 Jungen und sechs Mädchen. Die Proportion ist erschütternd. „Gebildete Mädchen finden keinen Mann“, erklärt ein Lehrer. – „Bildung verdirbt die Tugend“, behauptet ein Bauer. Er scheint zu wissen, wovon er spricht. Seine Frau ist zwei Jahre zur Schule gegangen.

Um die Interessen der Dorfjugend kennenzulernen, habe ich mir ausgebeten, daß vor allem Fragen gestellt werden. Sie lassen nicht auf sich warten: Glauben Sie an Gott? – Ist unsere Religion die beste? – Streben Sie nach dem Nirwana? – Glauben Sie an die Wiedergeburt? – Essen Sie Fleisch? – Wie oft beten Sie am Tag?

Ich traue meinen Ohren nicht. Diesen Jungen (kein Mädchen wagte zu fragen) ist lang und breit erklärt worden, daß ich die ganze Welt bereist hätte und viel über die Zivilisation anderer Völker erzählen könnte. Aber sie wissen noch nicht einmal wo Afrika und Amerika liegen. Sie wisse nur, daß sie die beste Religion haben, die perfektesten Menschen sind – und daß man das Fleisch des Tieres, dessen Milch man trinkt nicht essen darf: das Fleisch der Kuh. Sie ist heilig wie die Mutter, weil sie lebenspendende Milch schenkt.

„Sie haben das Echo der elterlichen Erziehung gehört“, erklärt uns später eine Lehrerin. „Außer Geld interessiert nur, was man essen und tun darf, ohne sich zu beschmutzen, und wie oft man betet.“
Die Lehrerin ist erst vor zwei Jahren in dieses Dorf versetzt worden – und sie wurde bereits am zweiten Tag gemieden; denn beim Herannahen eines Mannes verhüllte sie nicht ihr Gesicht. Dieser Bruch der Sitte konnte für die Einheimischen nur eine Erklärung haben: Sie war Mohammedanerin.

Einerseits schiebt man dem Islam die Schuld für die Verhüllung der Frauen in die Schuhe, andererseits schimpft man diese Frau eine Mohammedanerin, weil sie es ablehnt ihr Gesicht zu verstecken.

An Widersprüchen stört sich der Inder niemals. Ja, er lebt förmlich davon. Er predigt Gewaltlosigkeit und läßt todkranke Kühe unter Qualen verrecken, weil er das Leben über alles achtet – aber in diesem gleichen Dorf hatten die Bewohner vor achtzehn Jahren, als Indien geteilt wurde, ein paar Dutzend Mohammedaner ohne Bedenken über die Klinge springen lassen.

In diesem Dorf gab es auch einmal ein Liebespaar. Ein richtiges: Zwei junge Menschen, die sich in der Schule kennengelernt hatten, wollten heiraten. 
Gehorsam, wie sie nun einmal erzogen waren, baten sie die Eltern um Erlaubnis und Segen. Solch eine „Unverfrorenheit“ hat er es seit Menschengedenken noch nicht gegeben: Diese Kinder waren bereits seit einem Jahrzehnt versprochen, an andere natürlich, und jetzt hatten sie die Stirn, eigene Wünsche anzumelden. Geld war sogar schon bezahlt worden, und zwar zu Zeiten, als die Rupie noch etwas wert war. Man war schon versippt, gebunden, verkauft.
Eines Nachts schlichen sie sich davon. Aber „Gottes Strafe“ blieb nicht aus. Sie pochten an die Tür von Verwandten in anderen Dörfern. Man jagte sie davon. Sie suchten Arbeit. Ohne Erfolg. Sie mußten betteln. Keine Rupie. Denn: Erfolgreiches Betteln ist Sache der heiligen Männer.
Das Liebespaar kehrte halbverhungert ins Dorf zurück. Sein Widerstand war gebrochen, und beide wurden schleunigst an jene verheiratet, deren Eltern schon vor vielen Jahren eine Anzahlung hinterlegt hatten.

Der Bürgermeister beendet die Geschichte mit einem unmißverständlichen Reiben von Daumen und Zeigefinger: „Es war gar nicht so einfach, die Schande zu vertuschen. Die Kleine war mittlerweile erwachsen geworden.“
„Seid ihr denn hier so zimperlich mit der Jungfräulichkeit?“
„Das hat nichts damit zu tun. Begreifen Sie denn nicht?“ fragt er erstaunt. „Unterwegs war es passiert. Sie war eine Frau geworden. Der monatliche Beweis. Begreifen Sie?“
„Das passiert doch jedem Mädchen. Bei uns so um die dreizehn.“
„Sicherlich, nur muß man dann schon verheiratet sein. Verstehen Sie jetzt! Sonst bringt es Unglück!“

Schon wieder ein Argument für die Kinderehe. In einem alten indischen Gesetz heißt es: „Ein Vater, der seine Tochter mit sieben Jahren verheiratet, kommt sicherlich in den Himmel. Wer sie erst mit neun fortgibt, wird ein Erzengel. Derjenige aber, der damit bis zur Pubertät seiner Tochter wartet, wird in der Hölle braten.“
„Wir haben die Sache dann doch noch ausgebügelt“, sagt der Bürgermeister, „für tausend Rupien.“

Weil ihre Frauen standesgemäß geschmückt werden müssen und Hochzeiten und somit Unsummen kosten, sind viele Inder auf Lebzeiten verschuldete Opfer des Wuchers


Wie konnte die Familie des zu spät beglückten Bräutigams so viel Geld aufbringen? Sicherlich nicht aus der Genossenschaft, die nur landwirtschaftliche Kredite gewährt. Sie nimmt für indische Verhältnisse unglaublich geringe Zinsen: acht Prozent.
Ich möchte trotzdem wissen, wie armen Bauern die enorme Summen für Hochzeitsfest, Schmuck und gelegentliches „Ausbügeln“ zusammenbekommen. Aus begreiflichen Gründen bleibt der Bürgermeister die Antwort schuldig: Er gehört selbst zu den Geldverleihern der Gegend. Sein Zinssatz – achtzehn Prozent pro Monat.

Der Wucher blüht wie eh und je. Die Bauern sind auf Generationen verschuldet, weil sie den Sitten gemäß heiraten müssen und ihre Frauen standesgemäß mit Schmuck behängen. Lieber lassen Sie ihre Kinder verhungern, als daß sie das Gesicht verlieren.

Bis vor kurzem war der Wucher hauptsächlich das Privileg der Banias, der Kaste der Kauf – und Geschäftsleute. Heute haben die Brahmanen sich sogar ins Geschäft gehängt, obwohl deren höchste Aufgabe eigentlich darin besteht, die heiligen Schriften zu erklären, Gottesdienste abzuhalten, Horoskope zu stellen und zu meditieren.

Mit einem Brahmanen liege ich einige Tage später auf der Terrasse seines Hauses. Eine Ecke davon ist die Küche. Vier magische Zeichnungen laden die Götter ein und jagen die Geister davon. Trotzdem bin ich hier.
Wir sind beide müde. Er hat mühsam zwei Horoskope gestellt, um die einzig und allein Glück spendende Minute eine bevorstehenden Trauung auszurechnen. Ohne Horoskop wird nicht geheiratet.

Ich bin ganz einfach dorfmüde. Auf dem offenen Feuer braut seine Frau eine grünliche Sauce.
„Bangh“, sagt der Herr Brahmane und schlägt sich vor die Stirn, „macht hier oben alles klar.“
Er meint die grüne Sauce: Haschisch, ein starkes Rauschgift, in Milch und Wasser gekocht. Obwohl die Brahmanen Vegetarier sind und keinen Alkohol anrühren, lieben sie dieses Getränk. Er schenkt Ihnen die „perfekte Ruhe“ und bleibt auch erotisch nicht ohne Wirkung. Es geht als heiliges Getränk. Selbst Gott Shiva trinkt es täglich. Warum soll ich also die Einladung ablehnen?
„Trinken Sie nur zwei Gläser“, warnt mein Gastgeber, „sonst stürzen Sie sich auf die erstbeste Frau!“
Ich sehe nur seine, und die gefällt mir überhaupt nicht. – Wir trinken also. Der Brahmane fünf Gläser, ich zwei. Als ich nach einer Stunde immer noch ruhig liegen bleibe, erlaubt er mir ein drittes Glas und serviert sich selbst zwei mehr.

Jetzt bin ich „perfekt ruhig“. Bilder steigen auf. Frauen, Männer. Es sind viele. Ich erkenne vierzehn. In einem Tempel. Im Zentrum steht das phallische Symbol Shivas. Man singt. Man ißt verbotenes Fleisch. Getränke werden gereicht. Und wieder ertönen Gesänge. Jetzt ziehen die Männer sich aus. Auch die Frauen reißen sich ihre Kleider vom Leibe. Die Situation wird eindeutig jugendgefährdet … Stopp, Troeller, nicht weiterträumen, und vor allem nicht weiterschreiben was jetzt passiert!

Aber ist es nur ein Traum? Nein. Es sind Worte, gesprochen von meinem Gastgeber. Er beschreibt mir nur die Riten einer erotischen Sekte, an denen er dreimal im Jahr teilnimmt.
Heimlich in kleinen Tempeln, wird all das getan, was Religion und Sitte verdammen. Männer und Frauen verschiedener Kasten mischen sich. Selbst das Fleisch einer heiligen Kuh wird gegessen. Man kaut es ein wenig und spuckt es dem anderen in den Mund. Es ist eine Orgie des Verbotenen, ein großes Fest der Unreinheit. Brahmanen umarmen Frauen der „Unberührbaren“. Alle Tabus werden gebrochen in einem wollüstigen Taumel der Sünde.

Hier wird im Haschischrausch Ähnliches gesucht wie im europäischen Karneval: eine Entladung der inneren Spannungen durch die radikale Aufhebung des üblichen Zwangs. In Indien geschieht es heimlich, im kleinsten Kreis eingeweihter Sündensucher.

Ich kann immer noch nicht glauben, daß diese wirklich wüsten Bilder nicht aus meinem berauschen Hirn stammen. Sehr laut frage ich deshalb: „Was passiert am nächsten Tag?“
„Was soll schon passieren“, meint der Brahmane gelassen, „wenn niemand davon erfährt“
„Wenn Sie zum Beispiel ihre ,unberührbare’ Partnerin vom Vorabend treffen?“
„Dann meide ich sie wie den Dreck eines Hundes.“

Seit wir herumreisen frage ich mich mindestens zehnmal am Tage, ob ich nicht träume.
Da sitze ich zum Beispiel mit einem jungen Mann in einer kleinen Provinzstadt im Kino. Er gehört zur Kaste der Banias (Kaufleute). Bei jeder Liebesszene zittert er oder stößt kleine Schreie aus. Dabei passiert wirklich nichts, was ein zehnjährigen, geschweige denn einen zwanzigjährigen Jungen aufregen könnte. Wenn die Gesichter von Mann und Frau sich nähern, wechselt die Szene. Münder berühren sich nie. Denn: Speichel ist unrein. Und kein Kinobesucher soll sich ekeln. 

Der Film ist langweilig. Ein junges Paar, zwei moderne Inder, wollen gegen den Willen der Eltern heiraten. Eine melodramatische Geste folgt der anderen. Als die Liebe endlich trotz des elterlichen Widerstandes siegt, bricht mein Nachbar in hysterisches Lachen aus.
Um ihn zu beruhigen führe ich ihn ins nächste Café.
„ Das hätte ich nie in Begleitung meines Vaters sehen dürfen“, sagt er, und seine Hände zittern immer noch. „Erinnern Sie sich, wie der Mann in das Hotelzimmer des Mädchens rennt?“
„Sie war doch nicht nackt.“
„Trotzdem – so was besudelt das Bild meines Vaters.“

Wenn ich nicht schon hunderte ähnlicher Fälle erlebt hätte, würde ich das Verhalten meines jungen Freundes kaum begreifen. Vor mir sitzt das typische Produkt der „Joint Family“, der großen vereinten Familie indischen Stils. Da leben Vater, Mutter und alle Söhne mit ihren Frauen und Kindern unter demselben Dach. Das Geld aller wird vom Vater verwaltet – ebenso Moral, Liebe und Sexualität.
Er verkörpert die höchste Stufe der Vergeistigung. Ihn ahnen zu lassen, daß man an Sex denkt oder gar Filme sieht, in denen die Autorität der Eltern infrage gestellt wird, ist eine Sünde gegen die väterliche Reinheit.
„Ich darf nicht einmal mit meinen Schwägerinnen sprechen“, erklärt mein junger Freund. „Wenn ich aus Zufall mal mit einer allein im Zimmer bin, rennt einer von uns davon.“

Ich weiß: Selbst der Mann darf seiner eigenen Frau in Gegenwart der Eltern kein zärtliches Wort sagen oder ihr zulächeln. Er muß sie verächtlich behandeln und ständig zurechtweisen. Andernfalls könnte der Verdacht auftauchen, daß er das Opfer ihrer allzu weiblichen Qualitäten geworden sei. Vater und Mutter werden vermuten, daß niedere Instinkte ihn an sie binden und nicht nur die Pflicht, Nachkommen zu zeugen und die „Joint Family“ zu erhalten.

Im Kastensystem der Inder wird der Wert des Menschen an „rein“ und „unrein“ gemessen. Um ihr Kind vom Fluch der Unreinheit zu befreien, hält die Mutter es über ein Feuer. Reinheitswahn ersetzt die Kinderpflege. Selbst Zärtlichkeit zum eigenen Kind darf vor den Schwiegereltern nicht gezeigt werden. Die Mutterliebe muß warten, bis keine Zeugen da sind. So will es die Sitte. Sie verlangt auch, daß Mann und Frau ihre Liebe verstecken. Selbst bei reichen Leuten wird die Braut nach prunkvoller Hochzeit zum Dienstmädchen und „Sündenbock“ der Schwiegermutter

Das darf unter keinen Umständen der Fall sein. Deshalb müssen junge Paare so tun, als würden sie selbst in der Nacht niemals Mann und Frau spielen. Im großen Haus der „Joint Family“ ist das nicht einfach. Die Wände sind dünn. Sie ersticken kein Geräusch. Und die ganze Familie liegt auf der Lauer.

Kein Wunder, daß diese Herren alle sexuelle Traumtänzer sind. Kein Wunder auch, daß gerade Inder die größten Verbraucher stimulierender Liebesdrogen sind und daß in diesem Land die Prostitution wie Unkraut blüht.
Unter dem Dach der sittsamen Familie stauen sich Verbot und Heuchelei zur unerträgliche Spannung. Wenn dann einmal heimlich die Schleusen geöffnet werden, bleibt der erwünschte Erfolg meist aus. Übererregt und schuldbewußt, macht der Sünder schlapp und greift zu belebenden Liebespille.

Sobald die Herren von ihren heimlichen Ausflügen nach Hause kommen und sich im Familienbad „entsündigt“ haben, geht der Tanz der Sittsamkeit wieder los. Auf Kosten der Frau natürlich, dieses „unreinen, buhlerischen Wesens“, das ja letztlich für den kleinen Ausflug in die Arme des Teufels verantwortlich ist. Wer sonst erregt verbotene Gelüste?
Wenn die Frau ihrem Mann in Anwesenheit der Schwiegermutter etwas geben will, dann sagt sie nicht etwa: „Hier, Heinrich, ich habe den Hammer gefunden.“ Nein. Sie reicht ihn ehrfurchtsvoll seiner Mutter, damit diese – die über jeden Verdacht sexueller Bindung erhaben ist – ihn ihrem Sohn weitergibt. 

Priesterinnen, die in prunkvolle Prozession Göttern Gaben bringen?
Nein. Arme arbeitende Ameisen. 
Sklaven von Sitte und Sippe. 
Frauen Indiens, die demütig dienend dem Mann und seiner Mutter gehorchen müssen

Indien ist die Hölle der Schwiegertöchter, das heißt aller Frauen. Sie werden täglich gedemütigt, zurechtgestaucht, zu schwerer Arbeit verurteilt. Wenn die Schwiegereltern dabei sind, darf eine Frau ihrem Kind nur die Brust geben. Zärtlichkeiten, Spielen, Verwöhnen sind im größeren Kreis verpönt. Die Mutterliebe muß geduldig warten, bis keine Zeugen da sind. Beherrschung ist das oberste Gebot.

Es gibt ebenso viele Tempel wie Brunnen. Jede Sekte hat den ihren. Und innerhalb ein und derselben Sekte gibt es wiederum verschiedene für jede Kaste. Im Prinzip sollten die Tempel allen zugänglich sein. In der Praxis sind sie zu Clubs geworden für Menschen gleichen Ranges

Um weniger beherrschte Männer nicht in Versuchung zu bringen, ihre Beherrschung zu verlieren, bleibt die Frau nach Möglichkeit zu Hause. Es sei denn, sie geht in einen Tempel, wo sie vor dem Symbol des Gottes Shiva niederkniet, einem Phallus aus Stein, den sie anbetet und mit Öl einreibt. Oh, Wunder Indiens! 

Aber zurück zu meinem jungen Freund. Er ist zwanzig und seit sechs Jahren verlobt. Von seiner Braut kennt er nur den Namen. Eine gute Familie aus New Delhi.
Da ist unziemlich ist, mit Mädchen gleichen Alters zu sprechen oder gar zu flirten, drängt sich die Frage nach seinen sexuellen Problemen auf. Er druckst ein wenig herum, bevor er darauf anspielt, daß es da junge Freunde gibt, die ähnliche Nöte kennen.
„Um unsere Kraft zu erhalten, machen wir Übungen“, fügte er schnell hinzu. „So …“ Er reißt den Mund auf und verschlingt seine Zunge. So wenigstens sieht es aus.
„Sehen Sie, die Manneskraft hat ihren Sitz am Kopf. Jetzt kann sie nicht in den Magen tropfen, wo sich das Tier in uns davon ernährt.“

Ich vergaß zu sagen, daß dieser junge Mann das Abitur hat und keineswegs eine Ausnahme ist. Als er mich seiner Familie vorstellte, sprach keine der anwesenden Frauen mit mir, einem Mann, obwohl sie alle zur Schule gegangen waren und gut Englisch konnten.
Es gab nur ein furchtbares Geschrei um fehlende Bettwäsche. Einer der Söhne war aus dem Krankenhaus entlassen worden, ohne sein Bettzeug mit zurückzubringen.
Ihr müßt eure Bettbezüge mit ins Krankenhaus bringen?“, frage ich meinen Freund.
„Sie glauben doch wohl nicht, daß wir auf Tüchern liegen, die vielleicht vorher von niederen Kasten benutzt worden sind!“ 

Ich erfahre auch, daß die jungen Herren ihre Unterwäsche selber waschen. Eine Mutter darf nur ahnen, daß ihr Sohn so etwas wie eine Unterhose trägt. Diese darf übrigens nur mit der linken Hand ausgezogen werden. Und wie die Unterhose, so die Frau: Alles „Unreine“ darf nur mit der linken Hand berührt werden.

Schon wieder stecken wir im „Unreinen“. Ich suche verzweifelt nach positiven Aspekten des indischen Lebens. Wo sind sie? Mir graut schon vor den offiziellen Protestnoten und den Angriffen gelehrter Indienkenner. Aber was oder wen soll ich loben? Die großen Philosophen? Einverstanden! Die Tempel und die Moscheen? Mit Vergnügen! Die vielen sehr intelligenten Inder, denen wir begegnet sind? Selbstverständlich! Die nach westlichem Vorbild lebenden Reichen der Großstädte? Wenn es sein muß!
Aber was haben diese mit dem Los der indischen Frau zu tun? Nichts! Mit vierhundert Millionen Menschen, die in kleinen Städten und Dörfern leben? Gar nichts!

Dieses Dorf hat sieben Brunnen. Einen für jede Kaste. Aus dem falschen zu schöpfen ist Sünde

Und die modernen Gesetze, die den Frauen Gleichberechtigung versprechen und Wucher, Mitgift, Kinderehe verbieten? Natürlich verdienen sie Lob und Anerkennung. Aber werden sie befolgt? Nein! Die eisernen Gesetze der Kasten und religiöse Vorurteile sind stärker.

Um das Bild nicht völlig unerträglich zu machen, habe ich bereits sorgfältig vermieden, über Armut und Hunger zu schreiben. Nur ein Beispiel: Über die Hälfte aller Inder, die in Bergwerken schuften, sind Frauen. Und ich habe auch Frauen gesehen, die in der Nähe von Dorfbrunnen um Wasser bettelten. Nicht um Geld oder Brot. Um Wasser. Sie durften sich dem Brunnen nicht nähern, um ihn nicht zu „verunreinigen“. Sie warteten geduldig, bis vorbeigehende Frauen höherer Kasten ihnen einige Tropfen Wasser wie Almosen in bettelnde Becher schütteten.

Ich bin völlig unbefangen nach Indien gegangen. Ich habe sogar eine gewisse Schwäche für Völker, die unter der Kolonialherrschaft gelitten haben. Aber hier tragen die Engländer nur wenig Verantwortung. Es ist einzig und allein das jahrtausendealte System der Kasten. Dort nämlich, wo der Wert des Menschen nach „rein“ und „unrein“ gemessen wird, wo Schmutz die Beziehungen zum nächsten regelt, da muß das Leben unerträglich sein.

Man soll mir nicht entgegenhalten, daß dies der unvermeidliche Preis menschlicher Vergeistigung sei. Es läßt mich vollkommen kalt, daß ein paar tausend Herren auf Nägeln schlafen können oder neue Wege zum „Paradies“ entdeckt haben – solange Millionen Menschen aus purer Dummheit buchstäblich verrecken.
Im übrigen kenne ich kein Land in dem nicht geistige oder religiöse, sondern materielle Gesichtspunkte so ausschlaggebend sind wie in Indien.

Elefanten sind prunkvoller geschmückt als Menschen – ausgenommen Maharadschas. All diese Gegensätze beschränken sich aufs Äußerliche. Denn im Grunde sind alle Inder gefangen in einer Tradition, die jeden auf seinen vorgeschriebenen Platz stellt. Die moderne Frau steckt eben so streng im Kerker ihrer Kaste wie die Mohammedanerinnen im Schilderhaus ihrer Scham

Die „Vergeistigung“ ist ein ebenso geschickt benutztes Propagandamärchen wie das Geschrei um die Überbevölkerung. Es gibt in Indien kaum eine Gemeinde, die nicht im Stande wäre, ihre Einwohner mehr als satt zu machen.
Diese Erkenntnis stammt nicht von mir – sie stammt von kompetenten Fachleuten: Indien könnte tatsächlich eine Milliarde Menschen ernähren, wenn ernsthafte Reformen dem Unsinn der Kasten mit all ihren religiösen und rassischen Vorurteilen energisch zu Leibe rücken würden. In Indien lernt man, daß die internationalen Abrüstungskonferenzen am Thema vorbeigehen: Auch Unwissenheit und Rassenhaß haben ihre Hiroschimas.

Statt wirksamen Maßnahmen zu ergreifen, beruhigt man sein Gewissen mit kleinen Experimenten auf dem Gebiet der Geburtenkontrolle: Die Frauen der Maharadschas, die nichts mehr zu tun haben, reisen durchs Land und zeigen an Schaumgummimodellen weiblicher Organe, was die Inderinnen machen müssen, um weniger Kinder in die Welt zu setzen.

„Wir haben schon vierzigtausend Frauen erfolgreich unterrichtet“, sagt uns eine dieser Damen stolz und führt uns das Schaumgummimodell vor. „Unsere fliegenden Einheiten erreichen die kleinsten Dörfer Indiens.“

„Und die Männer lassen sich jetzt sogar ohne Bezahlung sterilisieren“, fügt eine andere triumphierend hinzu. „Sie sind die echten Helden in unserem gigantischen Kampf gegen die Armut unseres Landes.“

Aber die „Helden“ meutern. Eigentümlicherweise werden ihre Frauen auch nach der Operation noch hin und wieder schwanger. Was kann das bedeuten? – Untreue! Nichts anderes. Und wer will sich das schon sagen lassen? Geht es doch wiederum um die Ehre der Herren. Und folglich verlangen sie jetzt, daß nicht mehr die Männer, sondern die Frauen unfruchtbar gemacht werden.

Das Spinnrad war das Symbol des Freiheitskampfes gegen die Engländer. Heute ist es das Sinnbild für die Unterdrückung der indischen Frauen

Ich verstehe nicht, wie die Frauenindiens das aushalten. Früher mußten sie ihren verstorbenen Männern auf den Scheiterhaufen folgen. Selbst wenn sie als Kinder verheiratet, noch jungfräulich waren und das Pech hatten, den ihnen unbekannten Mann zu verlieren, wurden sie in feierliche Prozession in die Flammen geführt.

Aber was soll die indische Frau tun? Hat sie eine Wahl? Sie kann nicht einmal Prostituierte werden. 

Warum das so ist, lesen Sie im nächsten STERN.

Back To Top