Stern, Heft 32, 7. August 1966
Geishas sind beseelte Puppen, aufgemacht und bemalt, um die Märchenatmosphäre eines verlorenen Paradieses zu schaffen. Wer nicht zu den Eingeweihten eines Teehauses gehört, kann ihnen nur auf der Straße begegnen.
Ehefrauen werden abends allein gelassen. Selbst junge Mütter leben auf der Schattenseite des Nachtlebens.
Heute hätte ich in den Boden versinken können. In Kyoto, einer der ältesten und schönsten Städte Japans, war ich in eine Drogerie gegangen. Neben mir standen zwei Frauen. Die eine, im grauen Kimono, war vielleicht vierzig; die andere, europäisch gekleidet nicht mehr als dreißig. Sie wühlten in einer „Happy Box“ herum, einer „Glücksschachtel“, wie man sie hier nennt. Darin befinden sich ein Dutzend Dinge, die zur Erhöhung physischer Freuden dienen sollen.
Wir in Europa lernen, daß man über solch intime, für unsere Begriffe ans Laster grenzenden Dinge nicht spricht. Die Unbefangenheit der beiden Frauen in der Drogerie hingegen entsprach der japanischen Auffassung, daß die Steigerung gewisser Genüsse keineswegs in den schlüpfrigen Bereich des Lasters gehört, sondern als ein normaler Drang des Menschen nach Perfektion betrachtet werden sollte. Er will doch auch auf anderen Gebieten immer mehr entdecken und alles wissen – schneller fahren zum Beispiel und höher fliegen. Warum nicht auf dem Gebiet der Sinne?
Es ist übrigens nicht verwunderlich, daß in diesem Lande gerade Frauen die ausgefallensten erotischen Requisiten kaufen. Einerseits sind sie fast immer allein, andererseits versuchen sie, den Mann auf jede nur mögliche Art ans Haus zu fesseln. Und das ist gar nicht einfach. In Japan gilt es als ein überliefertes Recht des Mannes, seine sexuellen Vergnügen dort zu suchen, wo es ihm Spaß macht. Damit verletzt er weder die Gefühle seiner Frau noch den ehelichen Vertrag. Die Pflicht zur Treue betrifft nur sie. Ein nächtlicher Bummel durch eine japanische Stadt zeigt, was das bedeutet: überall Männer. Millionen. Ganze Viertel, die nur dem Vergnügen dienen, wo eine Bar sich an die andere reibt. Kilometerweit nur Lichter, Leuchter, Lampions. Das poetischste, heiterste Nachtleben, das ich je gesehen habe; auch das intensivste pro Quadratkilometer und pro Einwohner. Dagegen sind Pigalle, Soho oder die Reeperbahn vulgäre Wartesäle sexueller Langeweile.
Obwohl es eine Welt der Männer ist, spielen Frauen darin die Hauptrolle. Aber nur solche, deren Beruf es ist, das Dasein des Mannes zu verschönen. Sie gehören zu jenem Gebiet des japanischen Lebens, das man als „Welt der Blumen und Weiden“ bezeichnet. Alles ist vergänglich – lehrt der Buddhismus -, nur flüchtige Illusion. Und innerhalb dieser zerfallenden Gegenständlichkeit gibt es den besonders unbeständigen Winkel der Gefühle und Sinne, die noch schneller verwelken als Blumen und deshalb melancholisch stimmen wie die Weiden. Zu diesem Winkel gehört das Nachtleben.
Die Hunderttausende, die die Nächte verschönen, sind keine „leichten Mädchen“. In den Bars und den Teehäusern sucht der Japaner nicht nach einer flüchtigen Begegnung. Er verlangt Geselligkeit, ein zweites Zuhause in gewohnter Umgebung und nach Möglichkeit ein oder zwei feste Freundinnen.
Endspurt der Liebe
Um die Familie kümmert er sich nur am Wochenende. Kein Wunder, daß viele verheiratete Frauen in Japan einsamer sind als irgendwo sonst auf der Welt. Sie sitzen auf der Schattenseite des Nachtlebens. Aber nicht für immer. Wenn eine Frau älter wird und keine Kinder mehr haben will, wenn sie sich den Vierzigern nähert, darf sie die meisten Tabus über Bord werfen – selbst das der Treue. Früher galt diese Regel vor allem für das einfache Volk. Reife Frauen holten eifrig nach, was sie während zwanzig Jahren Ehe versäumt hatten.
Heute hat sich auch die gute Gesellschaft mit Leib und Seele in diesen Endspurt der Liebe geworfen. Damen sammeln Liebhaber wie Philatelisten Briefmarken – möglichst aus allen Ländern. Und mancher abgebrannte Ausländer fristet in Japan sein Leben wie bei uns die Schoßhunde: umgeben von Luxus, Leckerbissen und der zudringlichen Zärtlichkeit alternder Frauen.
Je älter man wird, um so aufregender wird das Leben. Aufgestaute Bedürfnisse treiben alternde Frauen in leidenschaftliche Verstrickungen. Junge Männer reißen sich um diese großzügigen Lehrmeisterinnen der Liebe. Dazu muß gesagt werden, daß Asiaten äußerlich weniger schnell altern als Europäer. Ihre Bindegewebe sind stärker, Falten und verwelkte Haut mithin seltener. Eine Fünfzigjährige kann aussehen wie dreißig, vorausgesetzt, sie hatte in der Jugend genügend Geld, um regelmäßig zu essen.
Das gleiche gilt für Männer. Aber bei ihnen ist die äußere Erscheinung nicht so wichtig. In der „Welt der Blumen und Weiden“ ist für einen Mann das Ansehen, gesellschaftliche Stellung verführerischer als physische Verlockung. Und es wird voll ausgekostet. Zum Ehrgeiz eines alternden Japaners gehört es auch heute noch, eine oder mehrere Geishas zu unterhalten.
Das bringt uns zum „Teehaus“. Gewöhnlich müssen Ausländer sich mit jenen Lokalen begnügen, die – speziell für sie eingerichtet und mit englischsprechenden Geishas besetzt – an der Route des nächtlichen Touristenbusses liegen.
In Kyoto hatte ich das Glück, ein echtes Teehaus besuchen zu dürfen. Dort traf ich einen alten Freund wieder, mit dem ich vor vielen Jahren einmal in Madrid im Gefängnis gesessen hatte. Seine Mutter war Spanierin, sein Vater Japaner. Gemeinsames Leid scheint zu verpflichten. Jedenfalls erfüllte er bereitwillig meine Bitte und nahm mich in sein Stammteehaus mit.
„Ich stelle jedoch zwei Bedingungen“, meinte er. „Erstens: Du darfst keinem der Mädchen den Hof machen. Zweitens: Du mußt ebensoviel trinken wie alle anwesenden Männer.“
Ich hätte sogar versprochen, zwei Stunden lang auf dem Kopf zu stehen oder die Füße aller Geishas zu küssen. Mir ging es darum, ins Heiligtum des japanischen Nachtlebens einzudringen.
Wir stellen also unsere Schuhe vor die Tür und treten auf Socken ein. Zwei Mädchen empfangen uns. Tiefe Verbeugung. Im Nu steckt mein Freund Hito in einem Kimono. Dann werde ich erstaunt betrachtet.
„Siehst du“, stöhnt er, „die Schwierigkeiten gehen schon los. Hier hat natürlich jeder seinen eigenen Kimono. Unbekannte werden überhaupt nicht reingelassen. Und ausgerechnet ich muß eine ausländische Langnase mitbringen. Das wird ein Höllenabend.“
Gänsehaut vor schwarzen Zähnen
Er gibt ein paar Anweisungen, und wenige Minuten später stecke auch ich in einem sehr eleganten Kimono.
„Du siehst aus wie ein schlecht geratener Ringkämpfer“, meint er.
„Sind das echte Geishas?“ frage ich und deute auf die beiden Mädchen, die immer noch an mir herumzupfen. Offenbar ist mein Brustkorb zu stark, um dem Kimono zu erlauben, mit der nötigen Eleganz zu Boden zu fallen.
„Natürlich nicht“, ruft er verzweifelt. „Das sind Lehrlinge. Schau dir doch die Schleifen auf ihrem Rücken an. Du glaubst doch nicht, daß eine echte Geisha dich anzieht du Idiot.“
Wir sprechen Spanisch, eine Sprache, in der Schimpfworte leicht auf die Zunge kommen. Ich lasse ein paar über mich ergehen, bevor wir uns im Schneidersitz vor einem Zwergtisch niederlassen.
„Nun sauf“, sagt Hito. „So schnell du kannst. Sonst kommt es zu den schlimmsten Mißverständnissen.“
Noch nie hat man mir so schnell eingegossen. Eine Geisha – diesmal eine richtige – sitzt mir gegenüber und füllt den kleinen Porzellanbecher mit Sake (Reiswein). So ein Gefäß faßt nur einen Schluck. Aber sobald ich es vom Mund absetze, ist es schon wieder voll, und ein unwiderstehliches Lächeln zwingt mich, abermals zu trinken.
Zunächst hatte dieses Lächeln mir eine Gänsehaut über den Rücken gejagt. Hinter den roten Lippen stehen schwarze Zähne. Jawohl, schwarz lackierte kleine Zinnen halten Wacht vor einer unaufhaltsam plappernden Zunge. Ich verstehe natürlich kein Wort. Aber dieses Rot und dieses Schwarz drehten mir zunächst den Magen um.
Männer wiehern vor Vergnügen
Jetzt finde ich es plötzlich faszinierend. Schwarze Zähne und roter Mund bewegen sich in weißem Wachs. Damit ist das ganze Gesicht überzogen. Keine Falten, keine Grübchen. Nur eine undurchdringliche Maske, in der Lippen, Zunge und Zähne mit den dunklen Augen verbunden scheinen wie der Mund einer Marionette mit der Hand ihres Herrn. Und über all dem sitzt eine Perücke. Oder sind es die eigenen Haare? Ich kann es nicht sagen. Jedenfalls sehe ich nur ein schwarzgelocktes, kunstvoll geflochtenes Etwas aus glänzendem Lack, das diese Wachsmaske umrankt.
Der Körper steckt in einem weiten Kimono. Beine, Busen oder Hüften kann man nur ahnen. Das ist keine Frau mehr. Vor mir sitzt eine Puppe im wahrsten Sinne des Wortes, ein künstliches Wesen, das gelernt hat, sich graziös zu bewegen und lebhaft zu schwatzen – ja, sogar intelligent zu reden, wie Hito erklärt. Jedes Wort, das aus diesem schwarz-weiß-rot garnierten Abgrund sprudelt, ist raffinierteste Anspielung, feinste Nuance, gekonnte Konversation.
Am Nebentisch scheint so etwas Wunder zu wirken. Vier Herren in eleganten Kimonos krümmen sich vor Lachen. Desgleichen einen Tisch weiter: Sieben völlig betrunkene Männer wiehern vor Vergnügen, während ebenso viele Geishas eifrig schwatzen und Sake servieren. Jetzt zieht eine ihren Begleiter in die Mitte des Raumes. Sie singt. Beide tanzen.
„Baseball“, erklärt Hito. Das ist der Name des Tanzes. Die Körper berühren sich nie. Die Geisha wirft einen imaginären Ball. Ihr Partner schlägt ihn mit einem ebenso unsichtbaren Schläger zurück. Dann gehen sie aneinander vorbei und lachen wir Kinder. Und wieder wird der Ball geworfen, während das Mädchen mir hoher Stimme singt.
Am Nebentisch trommelt man auf Streichholzschachteln herum. Plötzlich verschwinden sie. Dann sind sie wieder da. Der Hokuspokus scheint ein Gesellschaftsspiel zu sein. Und wenn ich die scherzhaft bösen Gesichter der Männer richtig deute, verlieren sie immer.
Einer wirft die Schachtel weg und fordert seine Partnerin heraus, „Stein, Schere und Papier“ zu spielen. – „Eins, zwei, drei…“ Er streckt seine Hand aus: Papier. Sie zeigt nur zwei Finger: Schere. Gewonnen. Jetzt zählt sie, und die Hände springen vor wie gereizte Schlangen. Wieder gewinnt das Mädchen. Auch die anderen Paare spielen.
Um perfekte Ehefrauen zu werden, lernen auch heute noch viele Mädchen die Kunst, mit Blumen ihre Gefühle kundzutun
In einer Ecke des Nebenraumes zupft eine alte Frau auf einer Art Gitarre herum. Es klingt entsetzlich. Wenigstens für meine Ohren. Ohne Sake kämen mir die Tränen. Neben ihr steht eine Geisha und singt.
„Trink“, schimpft Hito. „Du störst durch deine Neugier. Hier will jeder allein sein. Schau deine Geisha an. Sonst niemanden.“
Ich trinke gehorsam. Reis treibt. Reiswein noch mehr. Ich muß unbedingt hinaus. Hito deutet den Weg. Eine angehende Geisha wartet hinter einer Schiebetür und führt mich vor eine große blau-weiße Vase. Ich warte. Sie rührt sich nicht vom Fleck. Ich mache eine Verbeugung. Sie antwortet mit einem Knicks. Ich deute zur Tür. Sie zeigt auf die Vase. Ich versuche es mit einem Knicks. Jetzt macht sie eine Verbeugung. Immer einen Meter von mir entfernt. Verzweifelt, aber stolzen Schrittes gehe ich unverrichteterdinge zu Hito zurück.
Mich zwickt der Teufel
„Da ist ein Mädchen. Was soll ich tun?“
„Da ist kein Mädchen“, sagt er bestimmt.
„Ich schwör´s dir. Sie läßt mich nicht allein.“
„Carajo“, flucht er. „Dieses Mädchen ist nicht da. Verstehst du? Du siehst sie nicht, und sie sieht dich nicht. Oder schämst du dich vielleicht vor einer schönen Dekoration?“
„Diese lebt, hat zwei Augen und ist dazu noch weiblichen Geschlechts.“
„Du gehst jetzt sofort wieder hin und tust, was du zu tun hast, sonst bringe ich dich nach Hause.“
„Warum so weit, Hito? Kann ich nicht einfach auf die Straße gehen? Da hab´ ich eine dunkle Ecke gesehen, die genau…“
„Du bist verrückt.“
„Wie du denkst.“
Ich stürze einen großen Schluck Reiswein hinunter und mache mich gehorsam wieder auf den Weg. Hinter der Tür steht immer noch das Mädchen. Sie macht wieder eine tiefe Verbeugung und deutet auf die Vase. Ich verbeuge mich ebenfalls und gehe entschlossen auf das blau-weiße Ungetüm zu. Mit dem Rücken zu besagter Dame. Als ich an nichts denke, steht sie plötzlich vor mir und reicht mir ein weiches Papiertuch. Durch die Tür quillt schallendes Gelächter. Die Herren amüsieren sich, während ich hier am Spieß der Scham schmore.
„Mach alles ganz natürlich“, hatte Hito mir eingebleut. Aber was bedeutet in Japan „natürlich“? Ich sollte das Mädchen vielleicht als einen Roboter betrachten. So was gibt es ja heute auch in unseren Badezimmern. Elektrische Zahnbürsten zum Beispiel. Aber dann zwickt mich der westliche Teufel. Oder ist es der Reiswein?
Wenn ein Japaner untreu ist, verletzt er weder die Gefühle seiner Frau noch den ehelichen Vertrag. Kein Wunder, daß in Tokio ganze Stadtviertel nur dem Vergnügen der Männer dienen
Unterricht im Küssen
Wie dem auch sei. Als ich stolz und aufrecht die Tür erreiche und das Mädchen sich zum Abschied verbeugt, nehme ich die Wachsmaske zwischen beide Hände. Die Augen blicken entsetzt. Aber bevor der Mund schreien kann, habe ich ihn versiegelt. Ja, plötzlich weiß ich sogar ganz genau, was in mir vorgeht. Ich habe die Nase voll, von Hito zurechtgestaucht zu werden, als sei ich der letzte Steinzeitmensch. Ich muß ganz einfach die Regeln brechen und eine Geisha küssen – oder wenigstens eine angehende Geisha, auch wenn es zum Skandal kommen sollte.
Das mag schockieren klingen. Ich plädiere für mildernde Umstände: der Reiswein, die unverschämt fröhlichen Herren nebenan und der Titel dieser Reportage (Die Frauen dieser Welt).
Das Mädchen schaut mich verwundert an. Langsam weicht die Angst einem scheuen Lächeln. Und dann, als ich stolzen Schrittes davongehen will, hält sie mich fest. Langsam, wie in einem Breitwandfilm der „Neuen Welle“, nähert sich mir ein Kalkgesicht. Ich sehe nur einen Mund, dann die Nase. Nach einer Ewigkeit zwei geschlitzte Augen, die sich schließen. Und jetzt übt sie. Anders kann ich es nicht nennen. Es ist eindeutig das erste Mal. Wahrscheinlich hatte sie so etwas in amerikanischen Filmen gesehen und will es jetzt mal wissen. Eine bessere Gelegenheit wird sie kaum finden. Das traditionelle Japan küßt nicht. Und ich bin wahrscheinlich der erste Ausländer, der diesem Mädchen über den Weg läuft.
Es gibt nichts Wißbegierigeres als Japaner. In Europa wird immer behauptet, sie könnten nur imitieren: Kameras, Auto, Radios usw.
Das ist pure Verleumdung. Was die Japaner tun, das tun sie mit tausendmal mehr Fleiß, Können, Erfindungsgeist und Willen zur Perfektion als wir.
Mein Geisha-Beispiel ist vielleicht nicht das beste, um diese Qualität der Japaner zu illustrieren. Es hat jedoch den Vorteil, selbst erlebt worden zu sein. Schon beim dritten Versuch kommt meine Aspirantin der Vollkommenheit recht nahe. Ihre unbefangene, fast pedantische Gelehrigkeit stört mich zunächst ein wenig. Beim fünften Versuch zittern mir die Beine. Wenn ich doch nur diese Sprache könnte! Ich reiße mich los und torkle zu Hito.
„Siehst du“, meint er, „Dekoration braucht man nicht anzusehen, und sie sind stumm wie Stein.“
Wenn der wüßte! Er würde mich zurück ins spanische Gefängnis wünschen oder vor Zorn in seinen japanischen Boden stampfen.
Mittlerweile ist das Teehaus zum wilden Kindergarten geworden – oder vielmehr zur Puppenstube für Erwachsene. Die Haltung hat sich gelockert, wenn das überhaupt noch möglich war. Man liegt mehr als man sitzt. Ein Herr kriecht sogar auf allen vieren durch den Raum. Ein anderer zieht sich verträumt die Socken aus und begießt sie mit Reiswein. Mein Freund Hito singt ein Marschlied der spanischen Anarchisten.
Die Geishas bewegen sich immer noch wie beseelte Puppen. Das Wachs auf ihren Gesichtern ist weiß und faltenlos wie zu Beginn des Abends. Nur auf den braun bemalten Nacken perlen einige Tropfen Schweiß. Der Reiswein fließt, und ich stimme in Hitos Gesang ein.
„Jetzt gefällst du mir“, lallt er. „Du bist besoffen und sitzt nicht mehr zu Gericht.“
„Soll ich dir ein Geheimnis verraten?“ flüstere ich. „In Europa besäuft man sich auch.“
Puppenstube für reife Männer
Die Entrüstung, daß ich ein japanisches Teehaus mit einem europäischen Saufgelage zu vergleichen wage, macht ihn fast nüchtern.
„Ihr seid dann vulgär wie im Bordell“, sagt er. „Und sogar im Beisein eurer eigenen Frauen. Ihr betatscht euch und leckt euch ab. Sobald die Hemmungen weggespült sind, torkelt der Sex blindlings durch die Gegend. Pfui Teufel! Wenn du hier eine einzige obszöne Geste bemerkst, zahle ich dir tausend Dollar. Das hier ist ein anständiges Haus. Aber das wirst du nie begreifen.“
O doch. Mir ist bereits klargeworden, daß diese Herren mit ihren Puppen spielen wie mancher Erwachsene bei uns mit der elektrischen Eisenbahn seiner Kinder. Hier sucht man weder Sex noch Flirt oder sonstige Bestätigung, sondern nur Entspannung.
Die komplizierte Etikette des japanischen Alltags ist so streng, daß jede Sekunde äußerste Selbstbeherrschung notwendig macht. Unter solch auftreibendem Druck würde jeder zweite Europäer wahrscheinlich in wenigen Monaten im Irrenhaus landen. Wenn dann am Abend auch noch der Kampf um Sex und Frau durchgestanden werden müßte, würden sicherlich auch die Japaner ihr Gleichgewicht verlieren. Deshalb gehen sie ins Teehaus oder in die Stammbar ihren Milieus. Dort finden sie endlich Zuflucht vor dem erbarmungslosen Druck ihrer Umwelt. Jetzt darf gelacht werden, gealbert, gelallt, gespielt. Drei Stunden Ferien für überanstrengte Nerven.
Lokale mit erotischem Tingeltangel gibt es erst seit Ende des Krieges. Einst für Amerikaner geschaffen, sind die heute auch für moderne Japaner attraktiv
Die Geishas sind Kindermädchen, Krankenschwestern und Spielzeug zugleich; erzogen die Herren aus dem stählernen Korsett der Konventionen zu befreien; aufgemacht und bemalt, um die Märchenatmosphäre eines verlorenen Kinderparadieses zu schaffen. Hier wird spielerisch eine Psychotherapie betrieben, die verbrauchte und gehetzte Männer wahrscheinlich besser restauriert als ärztliche Behandlung. Welcher Spezialist könnte sich so intensiv um seine Patienten kümmern und stundenlang die blödsinnigsten Kinderspiele mitmachen wie eine Geisha?
Die meisten japanischen Männer ziehen jedoch die Gesellschaft von Geishas und Barmädchen vor, die auf traditionelle Art unterhalten und bedienen.
Das japanische Teehaus ist der unerotischste Nachtklub, den ich je besucht habe. Kein Wunder, daß die Männer zum Schluß nicht mit den Geishas heimlich in verborgenen Zimmern verschwinden, sondern behutsam von ihren Partnerinnen zum Auto geleitet werden, wo man sich mit tiefen Verbeugungen gute Nacht wünscht und Pläne für den nächsten Abend schmiedet.
Als auch wir feierlich Abschied nehmen, wundere ich mich, daß Hito nicht bezahlt. Er unterschreibt nicht einmal eine Rechnung. Man ist unter Freunden und hat volles Vertrauen. Er wird diese Rechnung übrigens nie zu Gesicht bekommen. Am Ende des Monats werden sie bei der Buchhaltung seiner Firma präsentiert und anstandslos beglichen. Nicht etwa, weil Hito ein hohes Tier ist. Auch kleine Angestellte können in ihren Stammlokalen auf Kosten ihrer Firma feiern und trinken. Weit über die Hälfte des japanischen Nachtlebens wird auf diesem Umweg von der Industrie finanziert. Und diese abendlichen Ausgaben bedürfen keiner geschäftlichen Rechtfertigung. Im Gegenteil. Die Millionen Yen, die täglich aus den Kassen der großen Konzerne und kleinen Betriebe in Teehäuser und Bars fließen, gelten als gut angelegte Sozialausgaben. Sie steigern die Moral der Belegschaft, ihre Treue, ihren Arbeitseifer und bauen Nervenzusammenbrüche und anderen Gebrechen vor.
Auch der gesellschaftliche Ehrgeiz kommt auf seine Kosten. Wer sich ohne zu zahlen amüsieren darf, gehört endgültig zur großen Familie einer Firma. Man beginnt seine Karriere als kleiner Mann in einer drittklassigen Bar, wo die Frauen zwar weniger elegant und vollkommen sind, sich aber im Prinzip kaum anders benehmen als Geishas, und beendet seine Laufbahn als der ständige Gast eines echten Teehauses.
„Und wie werdet ihr mit euren sexuellen Problemen fertig?“ frage ich Hito, während sein Chauffeur uns vorsichtig durch die engen Gassen des Geisha-Viertel fährt.
Die Jugend ist anders
„Ich besuche zwei Teehäuser“, erklärte er. „In jedem habe ich eine feste Geliebt. Eine habe ich selbst zur Geisha ausbilden lassen. Ein Mädchen vom Lande. Drei Jahre Schule und alles Drum und Dran. Dafür ist sie mir dankbar. Die andere ist mindestens vierzig. Ihre Mutter war schon eine berühmte Geisha. Das sind die besten. Es dauert Jahre, um ihre Gunst zu erringen, und Millionen Yen, um sie zu erhalten. Geishas sind schwerer zu erobern als die sogenannten anständigen Mädchen. Später werden sie zu einer Art zweiter Frau. Und wenn du alles wissen willst: Bis heute ist es keinem Europäer gelungen, eine Geisha zu erobern – eine echte, versteht sich.“
Diese Worte klingen noch in meinen Ohren, während ich mir in einem Hotel die Schuhe ausziehe. Mit dem großen Zeh kommt auch ein Zettel zum Vorschein. Ich entfalte ihn. In der linken Ecke steht fein gezeichnet eine Vase, die mir bekannt vorkommt. Daneben eine Telefonnummer. Und rechts zwei Münder, die sich fast berühren. Über dem ersten Mund steht eine große Nase. Das muß ich sein. Über dem anderen nur ein winziges Fragezeichen und unter dem Ganzen eine Symphonie von Blumen.
Heute abend bin ich betrunken genug, um mir einzubilden, allen Regeln japanischer Teehäuser zum Trotz eine angehende Geisha betört zu haben. Ich jubiliere, ich tanze, ich stolpere und lande neben dem Telefon. Vier Zahlen sind schnell gewählt. Als Hito abhebt, gröle ich unser anarchistisches Marschlied. Er singt bis zu Ende mit. Dann fragt er etwas besorgt: „Bist du verrückt geworden?“
„Vollkommen!“
„Warum heute mehr als sonst?“
„Weil ich den Beweis habe, daß eure Geschichten über die unnahbaren Geishas nicht stimmen.“
„Du spinnst.“
„Kannst du schweigen?“
„Wie ein Buddha.“
Jetzt erzähle ich ihm, was mir heute abend passiert ist.
„Carajo“, flucht er. Aber dann scheint der Reiswein aus unserer Leitung zu verschwinden. Mit ernster Stimme fährt er fort: „Die Jugend ist heute anders. Die will alles versuchen und glaubt an nichts mehr. Doch – an amerikanische Filmstars, sozialistische Ideen und französische Liebe. Vergiß das nicht!“
„Darauf kannst du Gift nehmen.“
„Und laß mich jetzt schlafen. Über die Jugend schreibst du besser im nächsten Heft. Buenas noches. Gute Nacht.“
Im nächsten stern
Die Rasse der Sonne