Stern, Heft 47, 22. November 1964
In Kuba hat die Revolution das Los der Frauen radikal geändert. Die alten Tabus sind gefallen. Jetzt herrschen: Gewehr, Popo und Optimismus
Bin ich ein Heiliger? Wenn ich ein hübsches Mädchen sehe, wandern meine Blicke von oben nach unten und verweilen immer dort ein wenig länger, wo die Formen am schönsten sind: im Gesicht, auf dem Busen, an den Beinen. In Kuba stürzen sie direkt auf den Hintern. Ich habe andere Männer beobachtet. Nein. Ich bin nicht der einzige – vielleicht sogar der diskreteste. Alle, die hier ankommen, sind schon am Flugplatz fasziniert von den kubanischen Popos. Die Röcke sind speziell dafür geschneidert.
Da hat sich auch mit Fidel Castro nichts geändert. Die Kubanerin scheint nach wie vor überzeugt zu sein, daß männliches Interesse nur hier beginnen kann.
Es gibt zwar heute weniger Röcke. Die Mädchen tragen Uniformen. Aber ihre erste Sorge ist es, die Hosen auf engstes Maß zu schneidern. Die kubanische Milizianerin versteckt den Busen – sie trägt Gewehr und Popo.
In Kuba fehlt es sonst an allem. Aber selbst die Lebensmittelknappheit ist der Lage nicht Herr geworden. Sobald ein Pfund verloren ist, wird die Hose gestrafft. Bei uns zieht man in Krisenzeiten den Gürtel enger, hier ist es die Hose. Die Kubanerinnen sind dünner geworden – und schöner.
Die Mulattin, die vor mir im gekonnten Rollgang ihre rote Jerseyhose kunstvoll schaukelt, scheint nicht Nahrungsmangel zu leiden.
„Mit dir möchte ich sein wie die Füße des Gekreuzigten“, ruft ein Soldat, und was folgt, ist leider zu unanständig für deutsche Ohren. Für Kubaner ist jedoch das „Piropo“ – selbst wenn es obszön klingt – nur eine Huldigung und keine gemeine Anbiederung.
„Nur einmal am Reißverschluß spielen…“ meint ein Mann mit verträumten Augen.
Pfiffe hallen aus den Häusern, Autos fahren langsamer.
Nur kubanische Schneider können Röcke machen, die allen Rundungen folgen, ohne beim ersten Schritt zu platzen
„He, bleibt nicht stehen“, schreit ein Fahrer. „Wir kommen nie wieder weg.“ Damit meint er nicht die magnetische Kraft der Mulattin. Er denkt an den Asphalt, der an den Reifen klebt wie Kaugummi. In Kuba fehlt es an Teer, um die Straßen zu erneuern. Die Oberfläche schmilzt in der Sonne, und Fahren ist zur Rutschpartie geworden
„Wenn wir schon steckenbleiben, dann wenigstens vor einem schönen Schauspiel.“
„Hast du denn keins zu Hause?“
Alle lachen. Es wird immer mehr gepfiffen. Aus den Autos hängen jetzt Hände mit Münzen, die auf das Blech der Türen trommeln. Sofort gibt es Rhythmus. Takt. Zwei Neger* singen. Die Mulattin lächelt und rollt stolz weiter.
„Jesus Maria“, wimmert ein vierzehnjähriger Junge neben mir, „wo hat die das gelernt.“
Ein älterer Herr mit Stock und Hut kommt uns entgegen. Er schaut, bleibt stehen, dreht sich um und folgt uns. Sein Stock berührt nicht mehr den Boden. Er wird wie ein Zepter geschwungen.
Ich komme mir vor wie in einer Prozession und blicke zur „Oxford“ hinüber, dem amerikanischen Beobachtungsschiff, das wenige Kilometer vor der Küste auf und ab kreuzt. Drei geheimnisvolle Türme strecken ihre Rohre wie Fühler gegen Havanna aus. Wenn die Amerikaner diese Szene festhalten, werden sie das Märchen von der gebrochenen Moral der Kubaner kaum noch glauben können.
In diese hochpolitischen Gedanken vertieft, komme ich vor dem Ethnologischen Institut an. Ich bin mit einer Ethnologin verabredet, die wir einmal in Mexiko kennengelernt haben, wohin sie vor dem früheren Diktator Batista ins Exil gegangen war.
Sie hält einen Fächer aus weißer Spitze. Ihr Haar ist grau geworden. Ihre Augen haben die unglaubliche Wärme behalten, die uns früher schon faszinierte.
„Hat die kubanische Revolution die Rolle der Frau geändert?“ frage ich.
„Wir Frauen haben die Revolution gemacht.“ Sie sagt es mit so viel Nachdruck, daß sie selbst lächeln muß. „Wir haben viel dazu beigetragen. Seit 1923 kämpften wir. Immer für die Freiheit der Frauen und aller Unterdrückten. Es ist ein harter Kampf gewesen. Das ‚weibliche Mittelalter‘ ist vorüber. Ja, es hat sich viel geändert.“
Calixta gehörte zu einer der reichen aufgeklärten Familien Kubas. Sie ist auch heute keine Kommunistin.
„Als ich im Gefängnis war – Sie wissen es vielleicht -, wurde ich einmal von Batista auf die Insel der Fichten deportiert. Oft besuchten amerikanische Touristen unser Lager. Da ich Englisch spreche, wurde ich als Fremdenführer abkommandiert. Und jedesmal sagten die Amerikanerinnen vorwurfsvoll: ‚Wir kegeln und gehören einem kulturellen Klub an. Warum müßt ihr lateinamerikanischen Frauen immer Politik machen? Könnt ihr nicht einfach Frauen sein? Sie sind doch reich. Es ist eine Schande, daß jemand wie Sie im Gefängnis sitzt.‘ “
Calixta läßt ihren Fächer auf die Knie fallen. Sie sieht mutlos aus, müde.
„Die Schande, das war Kuba, damals. Es gab zwei Gruppen vom Mädchen: die weißen, die zur Schule gingen – und die schwarzen, die nicht zur Schule gingen. ‚Diese Leute sind dumm und faul‘, sagte meine Mutter mir, als ich sie fragte, warum die Tochter unseres Gärtners nicht lesen und schreiben lerne. Es ist immer das gleiche Lied: Man verurteilt Menschen zur Armut und Unwissenheit und wirft ihnen dann vor, arm und unwissend zu sein. Wie mit den Schwarzen, so war es auch mit den Frauen.“
„Würden Sie sagen, daß die Frauen in Kuba heute glücklicher sind?“
„Sie kommen aus einem kapitalistischen Land“, meinte sie. „Dort bedeutet Glück vor allem materielle Sicherheit und Wohlstand. So weit sind wir natürlich noch nicht. Ich habe auch eine andere Auffassung vom Glück. Ich zum Beispiel kann nicht glücklich sein, solange mein Reichtum auf dem Unglück anderer beruht, oder ein Negerkind* nicht lernen darf, weil es schwarz ist. Unsere Frauen sind heute, glaube ich, zufriedener und ausgefüllter. Sie wissen, daß die Revolution ihre Befreiung bedeutet. Aber fragen Sie sie selbst…“
In Kuba fehlt alles – außer Lebensfreude
Auf der Straße ruft eine Milizianerin mir zu: He, Compañero, una foto.“
Die massive Negerin* stellt sich in Pose. Maschinenpistole im Anschlag. Popo schön im Profil. Ich drück ab.
„Bist du glücklich?“ frage ich. Sie hat mich „Compañero“ genannt und ich muß sie also duzen.
„Hört, der redet wie ein Priester“, ruft sie zwei weißen Frauen zu, die mit Einkaufstaschen neben ihr stehen. „Wir haben Temperament Compañero. Das Gefühl überlassen wir den Männern.“
„Hast du einen Mann?“
„Meinst du, mich will keiner?“
„Bist du verheiratet?“
„Natürlich!“ – Sie blickt mich argwöhnisch an. „He, du suchst wohl Anschluß?“
Ich frage mich, wo. Ich reiche ihr kaum bis zur Brust.
„Die Zeiten sind vorbei“, meint sie wegwerfend. „Und eine gute Technik ist das auch nicht.“
„Ich mache eine Reportage über die Frauen.“
„Schon wieder so ein Gescheiter. Was willst du wissen Compañero?“
„Wer bei dir zu Hause kommandiert.“
„Das ist eine interessante Frage“, meint sie nachdenklich. „Mein Mann. Nein. Warte mal. Der fragt jetzt gar nicht mehr: Wo gehst du hin? Was machst du? Warum ist der Kaffee nicht fertig? Wo bleibt der Rum?“ Sie bohrt verträumt im Ohr. „Jetzt, wo du mich fragst, fällt es mir auf, Compañero. Natürlich. Ich bin gar nicht mehr so nervös wie früher.“
Den beiden anderen Frauen juckt förmlich die Zunge.
„Die Männer“, sagt die kleinere mit leiser Stimme, „die kamen früher betrunken nach Hause, und wir kriegten Prügel. War es nicht so Carmina? Und jetzt? Der Rum ist zu teuer. Bier gibt es auch nicht alle Tage. Jetzt kommen sie früher nach Hause. Wer will schon in Kneipen sitzen, wenn es nichts zu trinken gibt. Und wir sagen: Heute abend muß ich Wache halten. Oder: Ich gehe zur Schule, da gibt es einen Film über Biologie. Und die Männer sagen: gut. Die schlechten gehen schlafen. Die guten kümmern sich um die Kinder oder kommen mit zur Schule. Meiner bereitet gerade die sechste Klasse vor. Gestern hat er die Fläche des Quadrates ausgerechnet,“
Ich gebe zu bedenken, daß nur der Mangel an Rum die Männer zur Vernunft gebracht hat. Und natürlich die Angst. Wer wagt schon zu protestieren, wenn seine Frau für die Miliz Wache halten will?
„Das stimmt nicht für alle“, meint sie. „In meinem Haus gehen jetzt alle Männer zur Schule. Sie haben sich an die neue Situation gewöhnt und viele finden sie besser.“
Die andere Frau hat ihre Einkaufstasche zu Boden gestellt. Sie ist hochschwanger und sieht schwach aus.
„Das wird das letzte sein“, sagt sie und streichelt ihren Bauch. „Wir haben schon zwei.“
„Seit wann gibt es Lateinamerikaner aus dem Volk, die sich Gedanken über die Anzahl ihrer Kinder machen? Hier scheint wirklich eine Revolution im Gange zu sein.“
„Jawohl, Compañero“, sagt die Negerin*. „Wir passen auf. Mein Mann auch. Junge, hat sich die Welt geändert. Man muß nur mal darüber nachdenken.“ Das scheint sie nur mit einem Finger im Ohr tun zu können.
„Schon nach dem ersten Kind darf man sich jetzt kostenlos vom Arzt Mittel zur Empfängnisverhütung geben lassen“, erläutert die Schwangere. „Und so hat man weniger Kinder und mehr Zeit zum Lernen.“
„Gehen Sie auch zur Schule?“
„Gestern habe ich die Hypotenuse eines Dreiecks ausgerechnet.“
Eine Männerstimme grölt meinen Namen direkt in mein Ohr.
„Vivaldo!“
„Gordian, erinnerst du dich? Rom? Vor – wart mal – vor zehn Jahren. Mensch, wir werden alt. Was machst du?“
„Reportagen – wie immer.“
„Zufall, ich auch. Alles Mist hier, was? Der Bart hält noch ein paar Wochen und dann: peng – aus Florida.“
„Die Frauen scheinen wie ein Mann hinter Fidel zu stehen.“
„Stimmt. Die Weiber sind verrückt nach dem Kerl.“
„Scheint mehr zu sein, Vivaldo. Freiheit. Erziehung der Männer zu Pantoffelhelden. Schulen. Kindergärten für alle. Geburtenkontrolle.“
Die Revolution gab den Frauen das Recht auf Arbeit. Heute verdienen sie in gleicher Stellung ebensoviel wie die Männer.
„Haha – kennst du die Geschichte vom ‚Diaphragma‘? So nennt man hier das, was die Frauen von den Ärzten erhalten, um die Empfängnis zu verhüten. Du wirst dich biegen: Kuba hat ein paar Hunderttausend davon in der Tschechei bestellt. ‚Diaphragma‘, sagten sich die ernsten Tschechen und blickten ins Wörterbuch. ‚Aha, Membrane, Dichtung. Ohne Angabe von Marke und Größe? Das sieht den Kubanern ähnlich. Die werden nie echte Kommunisten. Was für Autos fahren denn da? Aha: Chrysler, Dodge, Chevrolet. Kapitalistischer Dreck. Ja, das können wir besorgen.‘ Und die kubanischen Ärzte machten große Augen, als ihnen – zur Empfängnisverhütung – rauhe Mengen von Autodichtungen zugestellt wurden. Na, wie findest du das?“
„Verrückt.“
„Hier ist alles so. Weißt du, warum die Invasion in der Schweinebucht schiefging? Nur wegen der Krebse. Ja. Als die Castro-Gegner ans Ufer wateten, fraßen die Krebse ihnen die Zehen ab. Niemand konnte mehr laufen, und Fidel nahm sie alle gefangen. Haha – weißt du, wie man die Huren hier nennt? Verzeihung, die rehabilitierten Huren? Hijas de Fidel – Töchter Fidels. Hier sind alle verrückt…“
Ich finde es gar nicht so komisch, als ich die erste treffe.
Wir fahren im Autobus über den Malecon. Eine bildschöne Mulattin steigt ein, Sie findet Platz neben einem Weißen, der früher gewiß mal ein Herr war. Jetzt ist sein Kragen ein wenig ausgefranst. Der Hut dürfte auch schon seine zehn Jahre gedient haben.
Er wischt sich den Schweiß von der Stirn. Als die Hand wieder herunterfällt, landet sie wie durch Zufall auf dem Schenkel der Mulattin. Sie sagt kein Wort. Jetzt fängt die Hand an zu wandern. Die Finger schleichen langsam höher. Ohne mit der Wimper zu zucken, greift die Frau zu und hält sie hoch.
„Wem gehört diese Hand?“ fragt sie lächelnd.
Alle schmunzeln.
„Aber erlauben Sie“, ruft der Mann. „Sie wollen mich nur provozieren.“
„Ja“, seufzt der Fahrer, „in diesen Zeiten.“
„Man wird doch wohl noch ein wenig grabbeln dürfen“, meint ein anderer.
„Aber nicht bei mir“, sagt die Mulattin, und ihre Stimme zittert vor Erregung. „Ich bin eine ‚Hija de Fidel‘.“
Es ist still geworden. Nur die Reifen kreischen auf dem weichen Asphalt. Hängende Auspuffrohre klappern. Auf allen Seiten wird gehupt. Frauen schreien aus den Fenstern und Kinder spielen mit Konservendosen Fußball. Kubaner lieben den Krach. Er scheint ihr Lebertran zu sein, mit dem sie täglich neue Kräfte sammeln. In unserem Bus jedoch herrscht Totenstille.
„Entschuldigen Sie bitte“, sagt der Herr plötzlich. „Ich konnte es nicht wissen. Pardon. Sie sind so schön.“
„Verzeihen Sie mir“, sagt sie mit leiser Stimme. „Wie sollten Sie auch wissen. Es ist so lange her.“
Der Bus wackelt weiter, und jeder blickt ernst auf die Mulattin, als sei die Vergangenheit aufgetaucht. Ja, es scheint lange her zu sein, und doch sind erst sechs Jahre vergangen. Da gab es in Havanna allein fünfzigtausend Prostituierte Frauen ohne bürgerliche Arbeit. „Gefallene“ Mädchen aus der Provinz. Sie standen in doppelten Reihen auf dem Prado und riefen die Touristen aus dem Norden an.
„He, Johnny – hast du nicht zwei Dollar zuviel?“
„Sag Darling – mein Kind schreit vor Hunger.“
„Mister, ich brauche Geld für die Madonna.“
Ja, das gab es: Santa Barbara, die Schutzheilige der Straßenmädchen, mußte regelmäßig bezahlt werden. Die Höhe des Bußgeldes wurde, je nach dem Ausmaß der Sünde, im Beichtstuhl festgelegt. Es gab eine Art Tarif. Der Durchschnitt betrug zehn Cents pro Tag (vierzig Pfennig). Das macht bei fünfzigtausend Frauen rund fünftausend Dollar, die täglich in die Kasse der Kirche in Kuba flossen.
Castro hat die Frauen von der Straße genommen und die Häuser geschlossen. Alle konnten kostenlos einen Beruf erlernen. Sie haben sich selbst „Hijas de Fidel“ genannt, weil er ihnen die Möglichkeit gegeben hat, ein neues Leben zu beginnen. Das klingt rührselig. Aber es ist nun einmal so. Die Prostitution, die Pest der armen Länder, ist der „ehrlichen“ Arbeit zum Opfer gefallen.
Aber Frauen haben heute das gleiche Recht auf Arbeit wie die Männer. Und sie haben sich durchgesetzt. Frauen stehen am Schraubstock und hinter der Drehbank. Sie haben mit viel Ehrgeiz beweisen wollen, daß sie ebenbürtige Arbeitskräfte sein können. Ein militanter weiblicher Syndikalismus hat die Männer gezwungen, sie als vollwertige Kollegen anzuerkennen. Es gibt heute keinen Streit mehr, wenn eine Frau ebensoviel verdient wie ein Mann – oder mehr.
„Und die Sitten haben sich geändert. Compañero. Finger weg, heißt es jetzt. Die Männer behalten ihre Hände bei der Arbeit, statt sie unter unsere Röcke zu schieben.“
So spricht die Verantwortliche einer Frauengewerkschaft in der Stahlindustrie. Ihr Busen breitet sich aus wie ein wogendes Kornfeld. Ich kann mir vorstellen, daß sie auch ohne gewerkschaftliche Rückendeckung imstande ist, sich gegen die Männer zu wehren. Sie ist gar nicht meiner Meinung.
„Du kannst nicht wissen, wie es früher war, Compañero. Da konnten die Vorgesetzten mit uns machen, was sie wollten. Wer sich nicht in ihr Bett legte, lag am nächsten Tag auf der Straße. Mit fünf Gören zu Hause – was sollte eine Frau da tun? Und es gab viele Vorgesetzte. Wenn heute so ein Vorarbeiter frech wird, fliegt er.“
Es ging nicht ohne Kampf. Die Gleichstellung der Frau paßt gar nicht zu dem Bild, das der lateinamerikanische Mann von der Rolle der Frau hat. In den Städten scheint es zu klappen. Wir haben viele Männer getroffen, die heute zufrieden sind, weil ihre Frauen lernen und arbeiten und ebenbürtige Partner geworden sind.
Ganz anders sieht es auf dem Land aus. Hier hat die Revolution zwar durch Landreform viele Anhänger gefunden; sobald sie jedoch an den eingewurzelten Sitten rütteln will, gibt es Schwierigkeiten. Man hat deshalb damit begonnen, ihnen zunächst Lesen und Schreiben beizubringen – Alphabetisieren nennt man das hier. Dazu hat Castro Tausende von jungen Leuten in die Dörfer geschickt. Mädchen von vierzehn Jahren melden sich freiwillig, sobald sie die Schule absolviert haben. Kleine Gruppen von ihnen richten sich in verlassenen Gegenden ein. Dort entdecken sie ein Leben, wie sie es nie für möglich gehalten haben. Jede schickt regelmäßig kleine Berichte ans Ethnologische Institut nach Havanna. Wir haben diese Berichte einsehen dürfen. Hunderttausende füllen ganze Räume. Wir haben auf gut Glück herausgezogen:
„In meinem Dorf gibt es viele Frauen, die mehrere Männer haben“, schreibt Triny (14). „Sie sind natürlich nicht richtig verheiratet. Nachts darf immer nur ein Mann bei der Frau sein. Es gibt keinen Streit. Die Frauen arbeiten auch im Feld. Ich wohne bei einer Frau, die drei Männer hat. Alle sind sehr am Lernen interessiert. Es gibt hier nur Weiße.“
„Hier muß ein Mann seine Braut entführen“, notiert Andrea (15). „Die Eltern des Mädchens sind nie einverstanden, daß es heiratet. Das ist hier so Sitte. Die Entführung spielt sich immer nachts ab. Wenn die Eltern aufwachen, laufen sie dem Paar nach, um die beiden zu töten. Meistens aber geht alles gut. Das Paar versteckt sich einige Tage im Wald und baut sich dann im Dorf eine Hütte. Dann gelten die beiden als verheiratet. Die Entführung ist eine Art Ritus der Eheschließung.“
Rita (13) schreibt: „Mich erstaunt, daß der Mann, bei dem ich wohne, fünf Frauen hat. Eine davon ist seine Tochter. Mit mir ist er immer sehr korrekt. Alle lernen lesen und schreiben.“
Schülerinnen kämpfen gegen das Analphabetentum. Zur Ausbildung leben sie wie Soldaten und dann, im Innern des Landes, unter den primitivsten Verhältnissen
„Hier taufen die Leute sich selbst“, schreibt Blanca (16). „Sie ziehen sich aus und hängen sieben verschiedene Blätterarten um sich. Dann nehmen sie das Blut eines Hahnes und trinken es auf das Wohl der Heiligen. Geheiratet wird nur durch Entführung. Wenn wir ihnen sagen, daß sie sich richtig trauen lassen müßten, lachen sie nur und sagen: ‚Und Fidel, warum heiratet der seine Celia nicht?‘ Wir wissen dann nie, was wir antworten sollen. Sie mögen Fidel aber gern.“
Maria (15) berichtet: „Ich lebe in einem Haus von vier Brüdern. Einer davon hat fünf Frauen, die alle miteinander verwandt sind. Er hat ebenso viele Kinder wie Frauen. Die Frauen sind sehr zufrieden. Hier liebt man sich schon mit dreizehn Jahren. Das fängt mit Steinwürfen an. Wenn ein Junge einem Mädchen zeigen will, daß er es mag, bewirft er es mit Steinen. Später schreiben sie sich Liebesbriefe, was komisch ist, denn sie können gar nicht schreiben. Zum Schluß wird das Mädchen entführt. Eine andere Form der Ehe kennt man hier nicht.“
Wenn diese Kinder-Lehrer aus dem Innern zurückkommen, ist es nicht verwunderlich, daß sie an die Revolution glauben. Sie haben mit eigenen Augen gesehen, wie sehr die Bauern vorher vernachlässigt worden sind.
„In meinem Haus haben die Leute nur einen Topf. Daraus essen sie – aber auch die Schweine – und selbst die Kinder machen hinein, wenn sie krank sind und nicht aufstehen können. Ist das nicht furchtbar?“ So schreibt Angel (15). Sie fügt hinzu, daß sie Sozialhelferin werden will, sobald ihre Zeit als freiwillige Lehrerin abgelaufen ist. „All diese Menschen sind lernbegierig“, beendet sie ihren Bericht. „Selbst die alten Leute. Aber wenn sie auch schreiben und lesen können, es wird lange dauern, bis sie anders denken und leben können.“
Der Anfang ist gemacht. In Kuba gibt es keine Analphabeten mehr. Die Bauern verdanken es fast ausschließlich jungen Mädchen. Diese Kinder waren auf ihrem Gebiet erfolgreicher als Parteifunktionäre und Priester, die ihrerseits für zivile und kirchliche Trauung Kampagne machen. Ja, das sozialistische Kuba drängt zur Eheschließung.
Um die Städte herum haben Massenhochzeiten die Lage der meisten in wilder Ehe lebenden Paare legalisiert. Auf dem Lande konnte der Widerstand bis heute nicht gebrochen werden.
Karneval wird nicht nur einmal im Jahr gefeiert. Jeder Vorwand zu glanzvollen Feiern ist willkommen: ein Sieg im Zuckerkrieg oder eine Niederlage im Raketenspiel
„Wenn Fidel seine Celia nicht ehelicht, dann brauchen wir unsere Frauen auch nicht zu heiraten“, meinen die Bauern. Und wenn man behutsam von Geburtenkontrolle spricht, lachen sie noch mehr: „Warum hat denn Raúl Castros Frau alle fünf Wochen ein Baby oder eine Fehlgeburt?“ fragen sie. „Den Brüdern Castro glauben wir gern, wenn sie von Revolution sprechen und von Gerechtigkeit. Die bereichern sich nicht persönlich, wie es früher üblich war, wenn man die Macht hatte. Aber wenn sie vom Heiraten reden oder gar vom Aufpassen bei der Liebe, dann sollen sie uns erst mal zeigen, daß sie selbst daran glauben – und wie man das macht.“
Der Mangel an Vorbildern scheint ebenfalls die moralische Neuorientierung der Jugend zu erschweren. Die jungen Mädchen hängen buchstäblich in der Luft. Einerseits wollen sie „modern“ denken und revolutionär handeln. Alles, was Marx und Engels über die Frau geschrieben haben, wird gierig gelesen. Andererseits träumen sie in „bürgerlichen“ Begriffen von Verlobung und Ehe, von kirchlicher Trauung in weißem Schleier und von goldenen Ringen und roten Rosen.
Wir haben mehrere Tage mit Studentinnen verbracht, die auf Staatskosten studieren. Viele von ihnen sind in Kuba geblieben, obwohl ihre Eltern in die Vereinigten Staaten auswanderten. Man sollte annehmen, daß wenigstens diese Mädchen, die ihrer Ideale wegen mit der Familie brachen, genau wüßten, was sie wollen. Das ist sicherlich der Fall auf politischem und sozialem Gebiet. Auch haben sie genaue Vorstellungen über die Rolle der Frau in der Gesellschaft: Recht auf Arbeit, volle Gleichberechtigung, staatliche Kinderfürsorge, Geburtenkontrolle. Hierüber diskutieren sie kaum noch. Es sind die selbstverständlichen Ziele ihrer Revolution. Sie sind ebenfalls überzeugt, daß nur Beruf und materielle Unabhängigkeit sie vor der Bevormundung durch die Männer schützen können.
Sobald es sich jedoch um die persönliche Beziehung zum anderen Geschlecht handelt, um Liebe, Sexualität, Ehe und Gefühl, dann benehmen sie sich kaum anders als die Mädchen des lateinamerikanischen Festlandes. Sie träumen vom Märchenprinzen, der sie wachküßt und sie ein ganzes Leben lang vor der Umwelt beschützt.
Viele haben diesen Widerspruch zwischen ihrem politischen Denken und einer im Herkömmlichen verankerten Gefühlswelt teuer bezahlen müssen. Sobald ihre Eltern das Land verlassen hatten, suchte sie die fehlende Wärme und Häuslichkeit bei einem Mann. Sie heirateten Hals über Kopf, um nicht allein zu sein, und wir haben nur wenige getroffen, deren Ehe länger als ein Jahr gut ging.
In einem anderen lateinamerikanischen Land hätten sie gewiß nicht an Scheidung gedacht. Viele hätten sich sogar glücklich genannt. Ist doch die Ehe die einzige Lebensaufgabe, auf die sie dort vorbereitet werden. Es gibt keine Wahl.
In Kuba jedoch wissen diese Mädchen, daß sie heute mehr vom Leben erwarten dürfen. Ebensoviel wie die Männer. Sie brauchen nicht dafür zu kämpfen – gegen bürgerlichen Druck oder kirchliches Verbot. Die Revolution hat ihnen dieses Recht geschenkt. Sie fordern es auch lauthals und lassen sich deshalb scheiden, sobald die Ehe diese Rechte beschränkt. Aber sie wissen nicht, wie sie ihre Forderungen in Einklang bringen sollen mit der heimlichen Sehnsucht nach Geborgenheit ohne Verantwortung und nach weiblicher Entsagung, die man ihnen im Kindesalter auf die Seele gebunden hat.
Wenn die Psychologen recht haben, daß die ersten Jahre des Lebens für die seelische Entwicklung eines Menschen entscheidend sind, dann muß das Bild der devoten und resignierenden Mütter tiefere Spuren hinterlassen haben, als nach der Revolte der letzten sechs Jahre erkennbar ist. Alle diktierten Träume der Kindheit sind ebensoviele Webfehler im neuen Weltbild.
Trotzdem haben wir in Kuba nur wenige Mädchen und junge Frauen getroffen, die es vorziehen würden, nach den alten Normen zu leben. Die große Mehrheit schwelgt im Bewußtsein eines neuen weiblichen Schicksals.
*Anmerkung: Der Begriff Neger/Negerin wird aus dem Originaltext beibehalten. Diese Bezeichnung war damals ohne Abwertung als Fremd- und Selbstzuschreibung geläufig.
Im nächsten stern
USA: Unglücklich durch falsche Kurven