Skip to content
  • Deutsch
  • English
  • Français

Hauptsache die Kurven stimmen (USA)

Stern, Heft 48, 29. November 1964


Die Durchschnittsamerikanerin  bricht in ihrem Leben dreimal die Ehe. Sie hat 2.04 Kinder und heiratet mit neunzehn Jahren. Mehr als ein Viertel läßt sich scheiden, davon 70 Prozent wegen mangelnder sexueller Harmonie. Sechsundzwanzig Prozent der amerikanischen Frauen gelten als frigide.  Vierzig Prozent gehen mehr oder weniger unberührt in die Ehe oder heiraten den Mann, mit dem sie ihr erstes sexuelles Erlebnis gehabt haben. Der Rest hat 3.4 voreheliche Erfahrungen zu verzeichnen. All das ist statistisch erfaßt.

Die Amerikaner lieben es, sich in Zahlen zu spiegeln. Es dient wissenschaftlichen Aufgaben, psychologischer Forschung, Marktstudien, politischer Strategie und vielen anderen mehr oder weniger selbstlosen Zwecken. Nicht zuletzt erlaubt es jedem einzelnen, in den Normen des errechneten Durchschnitts ein Vorbild zu sehen und ihm nachzueifern.
So weiß man auch, daß die Mittelwerte der wichtigsten weiblichen Rundungen folgende sind: Busen: 87 cm, Taille: 63 cm Hüfte: 91 cm.

Die Verkaufschancen eines Artikels hängen weitgehend von der Verpackung ab. Die amerikanische Frau beugt sich willig diesem Marktgesetz. Kurven sind erotische Versprechen. Echte oder falsche. Aber irgendwann schlägt für jede Frau die Stunde der Wahrheit. Dann hängen häufig die Lügen im Kleiderschrank und mit ihnen die Liebe. Der Mann ist enttäuscht, die Frau wird kalt. Dies ist einer der Widersprüche, die Amerikas Frauen unglücklich machen


Solch eine Frau sitzt mir gegenüber. In den USA beginnt die Beschreibung einer Frau gewöhnlich mit ihren Maßen – und nicht selten erschöpft sie sich damit.
Jane ist dazu noch blond, was ihr bei siebzig von hundert Männern eindeutig schneller zur Ehe verhilft als ihren dunkelhaarigen Konkurrentinnen.
Dieses Blond verdankt sie ihrem Friseur. Sie entschied sich dafür, nachdem sie wochenlang dreimal täglich von einer strahlenden Blondine im Fernsehen gewarnt worden war, ihre Chance nicht zu verpassen: – Männer ziehen blond vor – Ich fand den Mann meines Lebens, nachdem ich das Goldblond der Firma X entdeckte . . . 
Jane ist siebenundzwanzig Jahre alt. Da es seit Dr. Kinseys Untersuchungen über das Geschlechtsleben der Amerikaner zur nationalen Mode geworden ist, Liebeserfahrung in nüchternem Zahlen auszudrücken, gibt sie mir bereitwillig Auskunft.
Ja, sie hatte schon einige Erfahrungen vor ihrer Ehe gesammelt. Sieben, um genau zu sein. Bei dem Mann, den sie schließlich heiratete, hatte sich jedoch bis zur Ehe gewartet.
Warum? – Diese Frage stößt zunächst auf Widerstand. Zahlen sind unverfänglich. Beweggründe scheinen selbst im analysefreudigen Amerika lieber verschwiegen zu werden.
„Nun gut“, meint sie schließlich. „Wenn du mir noch einen Whisky gibst, kann ich vielleicht auch darauf antworten.“
In Dallas ist es mit dem Whisky gar nicht so einfach. Texas ist ein „halbtrockener“ Staat. In öffentlichen Lokalen darf nur Bier und Wein ausgeschenkt werden. Härtere Getränke muß der Kunde selber mitbringen. Ich ziehe eine kleine Flasche aus der Tasche und gieße ein.
„Ich muß trinken“, gesteht Jane. „Sonst kann ich nicht einschlafen. Die Angst muß weg. Dieser verdammte Knebel in der Gurgel.“
„Angst wovor?“ frage ich.
„Nicht auf der Höhe zu sein.“
„Unsinn. So wie du aussiehst.“
„Das ist es ja gerade gerade – ich sehe nur so aus.“ Sie tippt sich auf die Brust. „Hier ist nichts, oder so viel wie nichts. Ja, ich weiß, daß ich ungefähr so aussehe, wie eine Frau sein muß, um Erfolg zu haben. Aber was gehört mir davon? – Die Beine, Gott sei Dank, die kann man schwerlich verstecken. Die Nase, der Hals und die Hände. Alles andere ist falsch. Nein. Auch die Taille ist echt.“
„Du vergißt die Augen.“
„Nur die Farbe ist echt. Der Blick ist durch Tropfen wärmer gemacht, die Form durch Schatten und Striche korrigiert. Und das Wichtigste an mir ist aus Schaumgummi: Busen und Hüften.“
Wenn ich ihren Blick richtig deute, haßt sie sich jetzt. Sie muß sicher an die gleichen Sätze denken, die ich in allen Zeitungen gelesen habe: „Vergiß nicht, was der Männer Blick fängt – Erhöhe deinen Busen und damit dein Prestige – Zeig was du hast, selbst wenn du es nicht hast.“
„So wie ich aussehe“, fährt Jane fort, „komme ich von keiner Party zurück, ohne ein halbes Dutzend Verabredungen zu haben. Aber stell dir vor, ich nehme an. Wir küssen uns, und was dann? Sobald seine Hand den Hals verläßt, erstarre ich vor Angst.“

Für den Erfolg ist die Frisur ebenso wichtig wie die richtige Figur. Man geht ungeniert mit Lockenwicklern auf die Straße – und natürlich ins Bett. Es kommt nur darauf an, im rechten Augenblick richtig auszusehen. Deshalb geraten die meisten Ehemänner mit Plastikröllchen in Konflikt, wenn sie abends einmal zärtlich werden wollen 

Prügel in der Hochzeitsnacht

„Auch, wenn ihr euch liebt?“
„Gerade dann. Mein Mann hat mich in der Hochzeitsnacht geschlagen. Ja. Schau nicht so entsetzt. Er hat mich regelrecht verprügelt und dann zum Whisky gegriffen anstatt nach mir. Wir liebten uns. Ich war überzeugt, daß wir uns liebten. Deshalb verweigerte ich ihm, was er wollte. Ich hatte Angst, meine Fehler würden ihn abschrecken. Natürlich hatte ich ein schlechtes Gewissen. Ich sagte ihm auch: ,Du weißt, darling, daß Frauen gewisse Tricks benutzen, um besser auszusehen‘, und deutete halbwegs an, daß ich von meinem Busen sprach. ,Du kannst mich nie enttäuschen‘, antwortete er. ,Wir lieben uns, und nur darauf kommt es an.‘ Es hat sechs Monate gedauert. Dann lief er davon. Und wir ließen uns scheiden.“
Jane schielt zu meiner Flasche hin. Ich brauche auch einen Schluck. Denn ich fühle mich nicht mehr als Reporter, sondern als seelischer Ascheimer. Jane ist keine Ausnahme. Seit Tagen spiele ich Beichtvater. Frauen, die großartig aussehen und sogar glücklich scheinen, ja solche, bei denen man sich heimlich sagt: „Gott haben diese Amerikaner Glück!“, entpuppen sich als gehetzte, unsichere Wesen. Nach wenigen Fragen schon öffnen sie ihre Herzen. Oft zu weit. Endlich ist da jemand, der geduldig zuhört und sich wirklich zu interessieren scheint, ein Fremder, der dann für immer verschwindet.
„Sieben Fehler hatte ich“, sagt Jane und starrt in ihr Glas. „Jetzt sind es acht. Der letzte ist der schlimmste.“

Gut verpackt, ist halb getraut

Ich wage schon nicht mehr zu fragen. Nach einem tiefen Schluck kommt die Erklärung mit einem traurigen Lächeln: „Ich bin eiskalt geworden – wenn du weißt, was ich meine. Wie soll man in dieser Hölle noch richtig lieben können?“ Sie legt ihre Hand auf meinen Arm, und ich weiß nicht, ob es die Schönheitstropfen sind oder Rührung, die ihre Augen jetzt feucht machen.
„Zärtlichkeit“, sagt sie langsam, als buchstabiere sie das Wort, „ich glaube, es fehlt einfach an Zärtlichkeit. Stimmt es, daß die europäischen Männer noch zärtlich sind? So richtig? Und hinter dem Busen auch noch einen Menschen suchen? Sag, stimmt das?“ – Der Druck ihrer Hand wird stärker.
„Ich weiß gar nicht, was du willst“, sage ich, um mich aus der Klemme zu ziehen. „Eure Männer sind doch so höflich.“
„Verflucht höflich sogar“, ruft sie, und es klingt wie eine Anklage. „Ich hasse dieses eingefrorene Grinsen. Es gilt nicht dir. Nach vorgeschriebenem Ritual zeigt man die Zähne. Schau doch in die Augen und du siehst nur die Hälfte – und nicht den kleinen Schimmer von Zärtlichkeit.

Das ist der zehnte Hilfeschrei in drei Tagen. Zunächst hielten wir diese Frauen für ein wenig hysterisch oder für krankhaft selbstbezogen. Wir hatten geglaubt, daß die Bedeutung von Schönheit, Kleidung und Mode von diesen Frauen überbewertet wurde. Zwar hätte das Straßenbild uns anders belehren müssen. Schon früh am Morgen sehen die meisten Frauen aus, als gingen sie zu einer Cocktailparty: geschminkt, mit Pelz und Schmuck und Hut. Und später entdeckten wir, wie entscheidend die Äußerlichkeiten das Leben der amerikanischen Frau bestimmen.

Sie haben gelernt, daß die Verkaufschancen eines Artikels weitgehend von seiner Verpackung abhängen. Und sie beugen sich diesem Gesetz des Marktes. Aber zu welchem Preis? Wenn sie endlich einen Abnehmer gefunden haben, kommt die Stunde der Wahrheit. Die auf dem Kleiderbügel abgelegten und dem Badezimmer abgewaschenen Lügen werden zu ebenso vielen Hemmungen für sie – und zu Enttäuschungen für den Mann. – Das erfährt man nicht auf der Straße. Bei den Eheberatern stehen diese Probleme regelrecht Schlange.

Selbst im Beruf ist die Verpackung wichtig. In Dallas, in Chicago, in Philadelphia und New York erzählten uns berufstätige Frauen, daß Garderobe und Aussehen ebenso wichtig sind wie berufliches Können. Keine würde es wagen, zwei Tage hintereinander mit dem gleichen Kleid im Büro zu erscheinen oder sogar die Frisur zu vernachlässigen. In den Beschwerdekästen der Restaurants beklagt sich die Kundschaft weniger über Essen, Bedienung oder Getränke, sie verlangt viel mehr hübschere, strahlender und mit mehr Sex geladene Frauen als Personal.
Wir haben alle Frauen gefragt, ob sie mit Lockenwicklern ins Bett gehen. Die wenigen, die mit „nein“ antworteten, binden sich Toilettenpapier um den Kopf, um morgens gut auszusehen und schnell fertig zu sein. Trotzdem rechnen sie, daß sie zwei Stunden brauchen, um sich vor der Arbeit herauszuputzen.
Und die Männer haben uns ihr Leid geklagt. „Glauben Sie, es sei besonders anregend, wenn meine Frau mich abends mit farbigen Plastikröllchen im Haar erwartet?“ meinte ein Bankangestellter in Chicago. – „Ich habe ein französisches Doppelbett gekauft“, erklärte ein Polizist in New York. „Das soll über Ehekrisen hinweghelfen. Und was passiert? Ich stoße mich wund an Haarklammern und Stahlrollen.“

Sie schnarchen sich schön

Andere haben ihre Frauen in separate Schlafzimmer expediert. Sie schnarchen zu laut. Auch das hat mit der Schönheit zu tun. Wer auf der Seite schläft, so heißt es, zerquetscht sein Gesicht und vertieft die Falten. Also alle auf den Rücken. Spezielle Kissen sorgen dafür, daß die Nase immer schön oben bleibt und der Speck der Wangen nach den Ohren rutscht. Aber wer auf dem Rücken schläft, der schnarcht.
In Chicago erzählte uns ein Mann, daß er das Große Los gezogen habe. Das sieht so aus: Abends wartet seine Frau mit schönem offenem Haar auf ihn. Sie geht auch so ins Bett, und erst wenn er eingeschlafen ist, schleicht sie sich leise ins Badezimmer, um sich Lockenwickler einzulegen. Morgens steht sie dann eine Stunde vor ihm auf und richtet sich genauso her, wie sie am Abend ausgesehen hat. Erst dann weckt die ihn.
Der Mann schätzt sich glücklich. Wir haben auch seine Frau gefragt. „Ich bin nur noch ein Nervenbündel“, sagt sie. „Milton haßt es, wenn ich nicht gepflegt aussehe. Ich schlafe nur noch fünf Stunden. Was soll ich nur machen? Ich kann doch unsere Ehe nicht kaputtmachen. Noch weniger seine Karriere. Ich muß gut aussehen.“
Sie muß es in der Tat. Ihr Mann gehört zu den Managern einer Firma, die in vielen internationalen Ferienparadiesen große Hotels besitzt. Bevor er zu seiner heutigen Stellung aufrückte, wurde auch seine Frau von den Chefs „getestet“. Sie mußte eine Cocktail-Party geben, zu der die Vorgesetzten ihres Mannes kamen.

Frauen sind wichtige Trümpfe im Berufskampf des Mannes. Wenn er befördert werden will, muß auch sie zum Job passen. Sie muß so sein, wie der Chef es will: repräsentativ, gesellig, charmant und moralisch


Sie  wußte, daß jede ihrer Bewegungen beobachtet würde, jede Unterhaltung mitgehört. Welche Leckerbissen sie anbot und wie sie jeden Gast seinem Rang entsprechend behandelte war für die Beförderung ihres Mannes kaum weniger wichtig als seine beruflichen Fähigkeiten.
Wochenlang vorher hatte sie die Geschichte der Länder auswendig gelernt, in denen die Chefs ihres Mannes Hotels besitzen. Sie hatte dreimal den Friseur gewechselt und war noch schnell in eine „Charme-Schule“ gegangen, um richtig sitzen, stehen und gehen zu lernen.
Nach dem Test war sie zusammengebrochen, und sie mußte ebenso lange im Bett liegen, wie die Vorbereitung zur Cocktail-Party gedauert hatte.
In den dreißiger Jahren erschien in den Vereinigten Staaten ein Buch mit dem Titel: „How to make friends and influence people“ (Wie man Freunde gewinnt und Menschen beeinflußt). Es wurde in Rekordzeit zum Bestseller und ist heute noch das sicherste Geschäft des glücklichen Verlegers. Der Verfasser hieß Dale Carnegie, und bald gab es in allen Staaten Amerikas Schulen, die seine Methoden lehrten.
Auch die Charme-Schulen gibt es in allen Städten. Die Frauen, die wir dort trafen, teilten sich in zwei Gruppen: die Ledigen, die ihren zukünftigen Bewerbern von vornherein klarmachen wollen, daß sie gut vorbereitete Partner zum beruflichen Erfolg sind. Und die verheirateten Frauen, die plötzlich noch etwas Schliff brauchen, um der Karriere ihres Mannes nicht im Wege zu stehen.
So wird die Frau zu einem wichtigen, ja sogar oft entscheidenden Trumpf im Berufskampf. In östlichen Zivilisationen leiht ein Mann seine Frau manchmal an Vorgesetzte aus, um seine Chancen zu erhöhen. Er sucht sie auch schon entsprechend aus: Sie müssen schön und gescheit genug sein, um im rechten Augenblick die richtigen Worte finden zu können. In Persien zum Beispiel kenne ich ein paar Herren, die so bei Hofe schnell Karriere gemacht haben. Daß jedoch selbst Amerikaner mit ihren Frauen nach Erfolg angeln müssen – wenn auch auf andere Art –, hat mich verblüfft. Denn das Prinzip ist das gleiche: Man paßt seine Frau den Forderungen des Geldgebers an – hier dem Herren – dort der Sache. Sie muß harmonieren wie der richtige Schlips zum grauen Anzug. Ihr Nützlichkeitswert beschränkt sich nicht mehr auf Kind und Haus.
Diese Entwicklung ist nicht auf Industrie und Wirtschaft beschränkt. Ein befreundeter Hauptmann der amerikanischen Luftwaffe erzählte mir, daß er zu seinem Vorgesetzten gerufen wurde: „Was zum Teufel ist mit Ihrer Frau los?“ lautete die strenge Frage.
Unser Freund sagte, es gehe ihr gut und er habe keine Sorgen.
„Die sollten Sie sich wohl doch machen“, hieß es. „Wie kann die Frau eines Offiziers mit kurzen Handschuhen zu einer Party kommen. Weiß sie denn nicht, was sich gehört?“
Sie war überdurchschnittlich schön. Sie war auch intelligent, und ich bin überzeugt, daß dieser Zwischenfall keine ernsten Folgen gehabt hat. – Was aber machen von der Natur benachteiligte Frauen? Wie muß eine Ehe aussehen, wenn die Frau von Natur aus nicht solche körperlichen Vorzüge hat, daß sie den Erfolg ihres Mannes fördern kann – oder ihm sogar im Weg steht? Auf diese Fragen antworten die Psychiater mit beklemmenden Zahlen. Unglückliche Ehen, Scheidungen und seelisch geschädigte Kinder sind in vielen Fällen die Folge. Das persönliche Glück wird auf dem Altar des Erfolges geopfert.

Frauen, die der Karriere ihres Mannes nicht schaden wollen, suchen in Charme-Schulen den letzten Schliff


Erfolg ist Pflicht

Erfolg ist in den USA ein Begriff von magische Gewalt. Ein Gott, der verurteilt oder in den Himmel hebt, der entscheidet, ob man sein Leben verpfuscht hat oder nicht. Und nur die „richtige“  Erscheinung hilft zum Erfolg, das vorgeschriebene Benehmen, die passende Frau, das gelernte Lächeln.
Dieses Bild scheint wenig zu der gängigen Vorstellung von Amerika zu passen. Die Vereinigten Staaten sind, wie man weiß, die fanatischsten Verfechter der politischen und persönlichen Freiheit. Jeder darf seine Persönlichkeit so entwickeln, wie es ihm Spaß macht. Der ästhetischen Phantasie sind offiziell keine Grenzen gesetzt, und jeder Alleingang ist gestattet, solange es dem Nächsten kein Schaden zufügt. Diese und viele andere demokratische Begriffe sind gesetzlich verbrieft. 
Niemand wage es jedoch, aus der Reihe zu tanzen! Zwar wird man nicht vom Gesetz verfolgt. Doch viel stärkere Kräfte bringen einen wieder in die Reihe. Die Gesellschaft sorgt dafür – die Nachbarn, Vorgesetzten und Konkurrenten –, daß man sich schnell anpaßt und so wie alle denkt, fühlt und handelt.
Dieser Widerspruch zwischen der offiziell verherrlichten Freiheitsliebe und dem drückenden Zwang der Umwelt füllt die Kassen von Tausenden von Psychiatern. Er macht die Menschen krank. Ebenso der krasse Zwiespalt zwischen idealisiertem Streben und materialistischer Lebensform. Auch er verfolgt die amerikanische Frau von der Kindheit bis zum Grab.
So lernt sie zum Beispiel als Kind, daß der Mensch mehr ist als seine mehr oder weniger perfekte Hülle. Man hämmert ihr ein, daß Herzensbildung, Großmut, Liebe, Gottesfurcht und Aufrichtigkeit die entscheidenden Maßstäbe ihrer Persönlichkeit sind und letztlich ihr Schicksal bestimmen. Sie erfährt jedoch ebenfalls, daß diese Eigenschaften auf dem Heiratsmarkt nur als Beigabe gefragt sind. Mit einem schönen Busen und dem richtigen Hintern kommt sie meistens schneller vor den Altar als mit einem guten Herzen. Was eine Frau sexuell zu versprechen scheint, ist oft wichtiger als das, was sie menschlich halten kann.
Nun wird ihr aber von Jugend an beigebracht, daß Sex auch Sünde sei. Jedenfalls passe begehrliche Körperlichkeit nicht zu den menschlichen Merkmalen, die wir zur Schau stellen sollten. Es wird ihr vielmehr eingeprägt, diesen Teil ihrer Person so lange schlafen zu lassen, bis sie den richtigen Mann gefunden hat.
Sobald sie jedoch ins Alter des „dating“ kommt, was in den USA mit zehn Jahren anfangen kann und spätestens mit zwölf geschieht, wird die Mutter zur Komplizin gerade dieses verbotenen Sex. Stöckelschuhe werden angezogen, um den Beinen bessere Proportionen zu geben und den Popo ein wenig höher zu schieben. Pulloverfüllende Büstenhalter werden umgeschnallt, die Nägel lackiert, Augen und Mund bemalt.

Fahrplan vom Nacken zum Nabel

Spezialgeschäfte für Teenager stellen die nötigen Sexsymbole zur Verfügung. „Join the man-trap gang“ – Schließ dich den Männerfängern an – mit solchen oder weniger deutlichen aber ebenso verständlichen Slogans bieten sie alles an, was einem Mädchen noch fehlt, um eine Frau zu sein: Brüste, Hüften, Spezialgürtel für die Taille und dergleichen mehr. Im Hintergrund schimmert natürlich schon, was der erfolgreichen Männerjägerin als Trophäe winkt: Kristall, Gold, Seide und Pelze.
Wie soll die Mutter widerstehen? Und das Mädchen? – Mit der gängigen Sexbemalung wird sie also auf dem Kriegspfad der Erotik geschickt. Aber nicht ohne mahnende Worte. Wenn nämlich die Mutter kunstvoll alles hervorgehoben hat, was der Männer Blicke anzieht, verabschiedet sie ihre Tochter so: „Und nun sei schön brav, Darling.“
Was soll das Mädchen sich mehr zu Herzen nehmen? Das kostspielige Herausputzen zum Sexköder – oder diese hastig und fast verschämt geflüsterte Mahnung? Die Kluft zwischen den sexuellen Wünschen, die ein junges Mädchen erwecken soll, und der sexuellen Betätigung, die im Flirt erlaubt ist, kann nur zu Mißverständnissen zwischen den Geschlechtern führen, zu Unsicherheit, Selbsthaß und Schuldgefühl. Das wenigstens ist die Meinung vieler amerikanischer Psychologen.
„Wie kann ich einen gut aussehenden Jungen dazu bringen, seine Hände bei sich zu behalten?“ Schreibt ein junges Mädchen an eine Chicagoer Zeitung. „Ich mag ihn sehr und will ihn nicht verlieren, aber ich kann ihn nicht mehr unter Kontrolle halten. Bitte, antworten Sie sofort. Spätestens Samstagabend muß ich es wissen. Bitte, es brennt.“
Hilfeschreie dieser Art findet man täglich in allen Beratungsspalten der großen Presse. – „Ich weiß, man soll den ,ganzen‘ Weg nicht gehen. Aber ich hätte Harry sonst verloren. Nun erwarte ich ein Kind. Soll ich es Mutti sagen? Was soll ich nur tun? M. L., 15 Jahre.
Wenn der Lebensstil nicht mehr mit den ethischen Grundsätzen übereinstimmt, versucht jede Gesellschaft, sich aus der Affäre zu ziehen, indem sie neue Spielregeln aufstellt. Anstatt nach den tieferen Ursachen zu suchen und die Widersprüche aufzuheben, „ordnet“ sie einfach die Oberfläche. Manieren ersetzen Moral, und Schliff gilt als Wertmesser.
So gibt es denn auch viele Bücher und Zeitschriften, die genaue Regeln aufstellen, nach denen der Teenager seine Beziehung zum anderen Geschlecht ausrichten soll. Darin ist nicht die Rede von Liebe, Gefühl oder Reife. Es wird vielmehr den jungen Mädchen genau erklärt, wie sie ihr sexuelles Kapital am vorteilhaftesten gegen Erfolg einhandeln können.
„Wenn er schon am ersten Abend einen Kuß verlangt – Achtung! Sei vorsichtig. Halte dich zurück. Sonst mag er glauben, daß andere ebenso leicht belohnt werden. Das kann ihn abschrecken. Und vielleicht ist gerade er einer der populärsten Jungen, auf den du lange gewartet hast . . .“
Dies ist eine Warnung vor der männlichen Eitelkeit – es ist aber auch, und vor allem, eine Gebrauchsanweisung zur richtigen Benutzung der weiblichen Reize im Hinblick auf das eigentliche Ziel: Popularität. 
„Am nächsten Wochenende kannst du ihm dann einen Kuß erlauben. Aber warte noch mit dem, necking‘. Gibt nur schrittweise, was du hast. Es ist nicht viel. Bald schon stehst du vor der ,letzten Grenze‘.
„Necking“ sind Zärtlichkeiten bis zur Gürtellinie. „Fortschrittliche“ Gebrauchsanweisungen meinen, man könne sie bereits am zweiten Abend erlauben. Der nächste Schritt nennt sich „petting“. Dabei wird der Gürtel abgeschnallt. Und schon steht das Mädchen vor der ,letzten Grenze‘. Jetzt muß sie verzweifelt um ihre Ehre kämpfen. Aber wie soll sie populäre Boys an sich ketten, wenn andere Mädchen bereit sind, dafür ebensoviel zu geben wie sie selbst – oder mehr. Muß sie nicht auch die letzte Festung eines Tages aufgeben, wenn sie im Rennen bleiben will? „Nein“, sagt die Regel, „denk an die Ehe. Du mußt noch etwas zu geben haben.“
Oft wird auch tapfer gekämpft. Aber mittlerweile sind die Mädchen zu perfekten Technikerinnen geworden. Die kleinen Damen sprechen heute unter sich von „petting gratification“ („petting– Freuden“) – wie ihre Grossmütter vom Kuchenbacken.
Der Sex wird zum Maßstab ihres Erfolges. Sie erringen ihn am Wochenende auf den Sitzen des väterlichen Autos.
Wenn man heute ein vierzehnjähriges Mädchen an einem Samstagabend fragt: „Wie kommt es, daß du zu Hause bist?“, wird sie vor Scham in den Boden versinken, denn sie hört: „Dich will wohl keiner? Bist du denn nicht normal?“
Die Ergebnisse sind auch dementsprechend: Vierzig Prozent aller unehelichen Kinder werden von Teenagern geboren – und viele von ihnen abgetrieben. In den USA heiratet man heute jünger als in irgendeinem anderen Industriestaat – fast so jung wie in Indien.
Es ist zweifellos eine der höchsten Aufgaben der Erziehung, jungen Menschen jene Fähigkeiten zu vermitteln, die es ihnen erlauben, die Folgen ihrer Handlung zu erkennen. Aber wie sollen sie dazu fähig sein, wenn die Maßstäbe unentwegt verwirrt werden. Ganz Amerika schwört zum Beispiel auf die „große Liebe“. Eine Ehe, so heißt es, kann nur dann erfolgreich sein, wenn man sich wirklich und aufrichtig liebt.
Gleichzeitig wird dem jungen Mädchen jedoch zu Hause eingeschärft: Heirate reich – Liebe verfliegt! Geld und Liebe haben angeblich nichts miteinander zu tun. Trotzdem gibt es wohl kaum ein anderes Land auf der Welt, wo gesellschaftliche und wirtschaftliche Überlegungen das Liebesleben so entscheidend beeinflussen wie in den Vereinigten Staaten. Vom ersten harmlosen Rendezvous bis zur Ehe und zur Scheidung.
Viele Amerikanerinnen studieren. Wenn es jedoch einen Beruf gibt, um den sie sich Sorgen machen, dann ist es der Beruf des zukünftigen Mannes. Und man kann sicher sein, daß sie ihn nach der Hochzeit überzeugen werden, eine dicke Lebensversicherung abzuschließen oder eine dicke Summe springen zu lassen, falls es zur Scheidung kommt.

In den Universitäten ist Zwangslosigkeit oberstes Gesetz. Und schon wird auch sie zu zwingenden Snobismus. Jetzt müssen Kurven verschwinden, und Haare dürfen nicht mehr gut sitzen. Jede Situation hat ihre Konvention, der sich selbst junge Mädchen beugen. Auch die Frühehe gehört dazu. Und zwischen den Vorlesungen hütet man seine Kinder 


Hauptsache, die Kohlen stimmen

Lebend oder tot, ein Mann ist für die Amerikanerinnen vor allem der ideale „provider“, wie man hier treffend sagt: der Versorger. Von der romantischen Liebe bleibt wenig übrig. Sie ist, wie vieles andere, dem gesellschaftlichen Ehrgeiz geopfert worden.
Selbst der Beruf ist heute verpönt. „Carreer girl“ ist mittlerweile fast ein Schimpfwort geworden. Jedenfalls bedauert man diese armen Geschöpfe, die es nicht verstanden haben, durch Ehe, Witwenschaft oder ein paar Scheidungen die nötige Sicherheit gefunden zu haben.
Auch dieser Widerspruch macht der amerikanischen Frau zu schaffen. Einerseits fordert sie Gleichberechtigung im beruflichen Wettstreit mit dem Mann. Andererseits setzt sie auf ihn, um Erfolg und Geld zu sichern. Mehr noch: Als „schwaches Geschlecht“ verlangt sie besondere Aufmerksamkeit von seiten des Mannes und, was noch wichtiger ist, einen speziellen rechtlichen Schutz gegen ihn.
Es gibt in der Tat keine andere Frau der Welt, die gesetzlich so große Sicherheit hat wie die Amerikanerin. Ein ganzes Arsenal von Gesetzen garantiert echte weibliche Vorrechte. Nur in Amerika wird Vergewaltigung mit dem Tode bestraft. Und wenn eine Frau vor den Scheidungsrichter tritt, kann sie sicher sein, als Siegerin davonzuschreiten.
Nicht aus Zufall liegt weit über die Hälfte des amerikanischen Vermögens in weiblichen Händen. Es ist auch nicht verwunderlich, daß immer wieder angenommen wird, die Amerikanerin beherrsche ihr Land und sei die freieste Frau der Welt. – Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Darüber berichten wir im nächsten STERN.

Back To Top