Stern, Heft 43, 25. Oktober 1964
Jahrtausendelang war die Frau versklavt. Heute rebelliert sie gegen die Vorherrschaft des Mannes. Wie dieser weltweite Kampf der Geschlechter geführt wird, schildert dieser Bericht.
Eine Reportage von Gordian Troeller und Claude Deffarge.
(Titel Foto: Peter H. Schub)
Anmerkung: Diese Reportagen Serie beginnt mit zwei Doppelseiten voll großformatiger Fotos.
Diese Bilder verweisen auf die Rolle von Frauen in unterschiedlichen Kulturen und
auf verschiedene Aspekte von Weiblichkeit je nach Lebensalter und gesellschaftlicher Stellung.
„Ich bin fünfundvierzig Bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr war ich Herrn Müllers Tochter. Dann wurde ich Herrn Lehmanns Frau und im Laufe der Zeit immer mehr die Mutter von Karl, Walter und Ursula. Ich bin nie ich selbst gewesen. Vielleicht kurz zwischen achtzehn und zwanzig, als ich arbeitete. Aber das waren nur Ferien. Ein kleiner gestohlene Aufschub. Und jetzt? Die Kinder sind aus dem Haus. Mein Mann geht in seiner Arbeit auf. Und ich? Wer bin ich? Was kann ich noch erwarten? Nichts! Ich bin noch Hausmädchen, Käuferin und Organisatorin einer sterilen Gemütlichkeit, einer gesellschaftlichen Fassade. Mit Schönheitspflege verschaffe ich mir die Illusion, noch jemand zu sein. Dabei opfere ich den letzten Respekt vor mir selbst auf dem Altar des einzigen Gottes, der heute noch herrscht: der Jugend.
Das ist die bittere Bilanz einer Frau mit einer „glücklichen“ Familie. Sie ist kein Einzelfall, sondern eher typisch für die Situation der Frauen in aller Welt. Aus diesem Unbehagen sucht die Frau einen Ausweg.
„Gelobt sei Gott, der Herr aller Welten, daß er mich nicht zur Frau gemacht hat“, beteten die Juden schon vor fünftausend Jahren. In allen großen Religionen stoßen die Männer ähnliche Seufzer der Dankbarkeit aus. Und doch träumt dieses Mädchen schon jetzt davon, eine Frau zu sein. Eine Frau, das ist die Gefährten eines Mannes, die Mutter seiner Kinder. Ehe und Mutterschaft sind ihr Los.
„Eine Revolution, die Stellung und Lebensbedingungen der Frau ändert, ist die größte Revolution, die ein Land erleben kann.“ Dieser Satz stammt von einer indischen Frauenführerin. Er gilt nicht nur für Asien. Überall auf der Welt werden heute Stimmen laut, die dem Erwachen der Frau größere Bedeutung für die Zukunft der Menschheit beimessen, als ein ideologischen oder sozialen Auseinandersetzungen.
In Frankreich spricht man vom „Ende des Mittelalters“, in dem die Frauen bisher noch gelebt haben. Engländer feiern den Sieg einer „neuen Moral“. Die Amerikaner nennen diesen Umsturz die „sexuelle Revolution“, weil er auf diesem Gebiet besonders deutlich wird.
Alle Revolution haben dieselben Ursachen: Unterdrückung, Ungleichheit und Erniedrigung. Das sind auch die Gründe der Revolte des Weibes. Je nach Land und Kultur sind sie unterschiedlich wirksam. Sie bestimmen jedoch überall das Leben der Frau.
Dagegen lehnt die Frau sich heute auf. Wie für die Völker Afrikas und Asiens, so scheint auch für das weibliche Geschlecht die Zeit der Entkolonisierung angebrochen zu sein. Das Ende der männlichen Vorherrschaft ist in Sicht.
Noch vor wenigen Jahrzehnten war hat die Macht des Mannes unantastbar. Religion und Recht standen auf seiner Seite. Er war der Chef der Familie, das Ebenbild Gottes, der Herr der Schöpfung. Die Frau galt als eine überzählige Rippe. „Das Weib ist Weib, weil ihm gewisse Qualitäten fehlen“, meinte Aristoteles.„Sie ist nur ein zufälliges Wesen“, schrieb der heilige Thomas von Aquilino. Auch Juden, Araber und Buddhisten hatten ähnliche Sätze geprägt, von denen sie die Vormachtstellung des Mannes ableiteten.
Überall auf der Welt steckten die Männer die Grenzen ab, in denen die Frau nach menschlicher Entfaltung streben durfte. Was außerhalb lag, galt als Verbrechen und Sünde.
Arabische und afrikanische Gruppen griffen sogar zu Messer – und tun es zum Teil heute noch –, um die Frau an ihren Kerker zu ketten. Sie glauben, daß von allen Kräften, die nach Freiheit verlangen, die Sexualität die gefährlichste sei. Und sie beschneiden ihre Frauen. Bevor ein Mädchen mannbar wird, verstümmelt man es so, dass es kaum in Versuchung kommen kann, in der späteren Erfüllung der ehelichen Pflichten mehr zu suchen als lustlose Unterwerfung. Sie wird zum Objekt. Und um ganz sicher zu gehen, verweigert man ihr sogar das Recht auf eine Seele.
Diesseits des Mittelmeeres haben die Männer nicht so Messer gegriffen. Sie haben der Frau auch ihre Seele gelassen. Sie haben sie sogar regelrecht gemästet. Die weibliche Seele wurde so groß, so schön, so empfänglich und weich, daß man sich spielend modellieren konnte und mit Suggestion und Zwang durch Versprechen und Drohung ähnliches erreichte, wie der Araber mit seinem Messer.
Man stempelte sie zum gefühlsbetonten Wesen und sagte, die Natur habe sie so geschaffen. Ihre angeborenen Eigenschaften seien Sensibilität, intuitives Verstehen, Opferbereitschaft und Entsagung, hieß (und heißt) es. Denken und Handeln, Erfinden und Herrschen seien die ausschließlichen Qualitäten des Mannes.
Auch die Sexualität wurde getrennt in männlichen Drang und weibliche Hingabe. Für ihn war sie Zeugung und Vergnügen. Für die schuldbeladene Empfängnis. War sie doch schuldig für die Vertreibung aus dem Paradies. Folglich mußten ihre Sinne gezügelt werden. Sittsame Frauen durften nur lustlos empfangen und mussten treu sein. Männer beanspruchten polygame Veranlagung für sich und genießen ihr freien Lauf.
Heute wackelt die Welt der Männer. Die strengen Tabus sind im Zerfall. Die bürgerliche Moral ist mehr denn je Fassade. Liebe und Sexualität gelten auch für die Frau nicht mehr überall als eine unteilbare, von Mutterschaft überschattete Einheit. Und Empfängnis kann leicht verhütet werden.
Dieses moralische Tauwetter war eine Folge der industriellen Revolution, die Frauen in den Fabriken brauchte und ihnen mit der materiellen Unabhängigkeit einen Vorgeschmack auf die Freiheit gab. Später folgte die rechtliche Gleichstellung. In vielen Ländern ist die Frau heute offiziell gleichberechtigt. Sie darf wählen und gewählt werden. Sie hat Recht auf Arbeit und Zugang zu fast allen Berufen.
In der Bundesrepublik sind über ein Drittel der Arbeitskräfte Frauen: 7,9 Millionen von 22,6 Millionen. In den übrigen Industrieländern ist das Verhältnis ähnlich. Aber nirgends gibt es auch nur einen annähernd entsprechenden Anteil von Frauen in leitenden Stellungen. Nur drei Prozent beträgt er in der Bundesrepublik. Das große Heer der berufstätigen Frauen hat kaum eine bessere Stellung als die Masse der Farbigen in Amerika oder die Algerier in Frankreich. Sie werden nicht als ebenbürtigen Partner behandelt. Sie sind nützliche Hilfskräfte und werden ausgebeutet. Auf gleiche Posten verdienen sie in der Regel weniger als Männer.
Frauen mögen objektiv noch so tüchtig sein – subjektiv bleiben sie mit dem Vorbehalt behaftet, „eine Frau zu sein“. Es ist wie mit den Schwarzen. Jeder findet es normal, daß ein Weißer eine Gruppe farbiger Arbeiter überwacht. Wenn jedoch ein Neger weiße Menschen kommandiert, haben die meisten unwillkürlich den Eindruck, daß da etwas nicht stimmt. Ihre Welt steht kopf.
Die Gleichberechtigung ist zwar gesetzlich verbrieft – ebenso wie die Gleichheit der Neger –, in der Praxis ist sie jedoch immer noch eine Ausnahme. Auf allen Gebieten. Die echte Befreiung der Frau hat kaum begonnen. Jahrtausendealte Vorurteile bestehen nach wie vor die selbstherrliche Haltung des Mannes verlängern die Versklavung der Frau. Sicherlich gibt es Männer, die Einkaufsnetze tragen, Kinder wickeln und getrennte Bankkonten gutheißen. Aber darauf kommt es nicht an ausschlaggebend ist einzig und allein die Beziehung zwischen den Geschlechtern, das heißt: die innerliche Einstellung des Mannes zur Frau und die Rolle, die diese sich in dieser Beziehung zuschreibt.
Dabei kommt es weniger auf die rechtliche Gleichstellung an oder auf die Frage, wer das Geschirr gespült; wesentlich ist vielmehr die Auslegung der Begriffe Liebe, Ehe, Sexualität und Mutterschaft. Die Leitbilder sind entscheidend, die von Überlieferung und Erziehung geformten Vorstellungen von „Mann“ und „Frau“.
Es ist in der Tat seit langem erwiesen, daß die so genannten „männlichen“ und „weiblichen“ Eigenschaften und Schicksale nicht angeboren sind, sondern ausschließlich Erzeugnisse der jeweiligen Kulturen. Für eine Frau von Samos haben Liebe, Sex, Ehe und Mutterschaft eine vollkommen andere Bedeutung als für eine Chinesin oder eine Deutsche, obwohl alle drei biologisch gleich sind. Die Männer Japans behandeln ihre Frauen anders als die Schweden und Spanien, obwohl auch sie von Natur aus nicht verschieden sind.
Wenn einem Jungen nicht bei jeder starken Gefühlsregung vorwurfsvoll gesagt würde: Sei kein Mädchen“, dann käme er später kaum auf die Idee, die Frau als ein gefühlsbetontes, mithin labiles und nicht ebenbürtiges Wesen zu betrachten. Das gleiche gilt für Mädchen. Sie werden regelrecht dressiert, „weiblich“ zu sein: kokett, zerbrechlich, unreif, anschmiegsam, mütterlich – und heute auch sexy. Da ihre Bestimmung die Männerjagd ist, werden jene Eigenschaften gezüchtet, die auf dem Heiratsmarkt die größten Chancen haben.
Selbstverständlich ist die Mutterschaft der mächtigste Einwand gegen eine größere Freiheit der Frau. In der biologischen Funktion des Gebärens wird auch heute noch die Bestimmung des weiblichen Geschlechtes gesehen. Und damit werden alle Beschränkungen der Frau gerechtfertigt.
Die Möglichkeit der Mutterschaft beschränkt unter anderem die sexuelle Freiheit der Frau und natürlich auch ihre beruflichen Chancen. Nur wenige Frauen können, wie der Mann, wirklich Karriere machen. Sobald das erste Kind da ist, geben die meisten den Beruf auf. Sie fangen eventuell wieder an zu arbeiten, wenn die erwachsenen Kinder das Haus verlassen haben.
Zu einer Zeit, in der die Familie fest zusammenhielt und als organische Einheit gegen die Umwelt stand, hat in der Mutterschaft sicher ein Sinn gelegen, der auch zu menschlicher Reife führte. Aber was ist in unserer modernen Gesellschaft davon übrig geblieben? Die Eltern wohnen hier, der Sohn dort, die Tochter woanders. Jeder verfolgt seine persönlichen Interessen. Sobald sie es wirtschaftlich können, machen die Kinder sich unabhängig. Echte Familien im alten Stil gibt es nur noch vereinzelt auf dem Lande.
In den Städten ist Mutterschaft normalerweise nur viel Hausarbeit und wenig Erziehung. Die weibliche Psyche reagiert darauf mit einer Vielfalt nervlicher und seelische Störung. „Es ist sicher wundervoll, eine Mutter zu sein“, sagt ein Psychologe, „aber wie immer wundervoll, eine Mutter zu haben. Die meisten gestörten Kinder wären gesund, wenn sie keine Mütter hätten. Sie spiegeln nur die inneren Konflikte ihre Mütter wider und zahlen teuer für eine überlebte Konzeption der Mutterschaft.“
Auch ein anderes Vorurteil ist der Einsicht zum Opfer gefallen: Kinder, die oft allein sind, weil ihre Mütter arbeiten, erleiden keinen Schaden. Im Gegenteil sie sind ausgeglichener als solche, die in mütterlicher Obhut verwöhnt werden. Diese Erkenntnis wurde auf dem letzten internationalen Kongreß für soziale Psychiatrie erhärtet. Untersuchungen in Frankreich, England und Dänemark haben ergeben, daß Kinder, die wenig von ihren Eltern betreut werden, reifer und intelligenter sind als andere. Sie haben größeres Verantwortungsgefühl, mehr Initiative und lernen schneller. Und es sieht ganz so aus, als ob sie ihre Mütter auch mehr lieben.
Wie sollte es auch anders sein? Schließlich bedeutet, daß man ein Kind gebären kann, noch lange nicht, dass man es auch recht zu erziehen weiß. Besonders in unserer komplizierten Gesellschaft ist es mit Mutterliebe allein nicht mehr getan. Frauen, die von ihrer Ehe enttäuscht sind, flüchten sich in übertriebene Bemutterung und wissen gar nicht, was sie damit anrichten können. Ebensooft sollen Kinder dem Leben einen Sinn geben, den man woanders nicht gefunden hat, oder eine Ehe kitten, die keine mehr ist.
Angesichts dieses Dilemmas erheben sich selbst in der katholischen Kirche warnende Stimmen. Es kann nicht Aufgabe des Menschen sein, so lautet diese Warnung, viele Menschen in die Welt zu setzen, sondern eher, bessere Menschen zu bilden. Die herkömmliche Auffassung der Mutterschafts scheint dieser Aufgabe nicht mehr gewachsen zu sein. Trotzdem wagen es nur wenige, die überlieferten Formen von Familie und Ehe in Frage zustellen. Sie gelten als die Fundamente unserer christlichen Kultur und sind deshalb stärkere Tabus als die Sexualität.
In Paris und New York haben Psychologen und Soziologen uns die Ergebnisse von Untersuchungen gezeigt, die so revolutionär sind, daß sie wohl erst in zehn oder zwanzig Jahren veröffentlicht werden können. Sie weisen auf die tödliche Gefahr hin, in der unsere Gesellschaft schwebt, falls die Vorstellungen von der Rolle der Frau nicht radikal geändert werden.
Aber auch ohne so weit zu gehen, unterstreichen die meisten Beobachtungen, daß es immer weniger Frauen gibt, die gute Mutter sein können. Ursache dieser Entwicklung scheint der Zwiespalt zwischen rechtlicher Gleichstellung und seelischer Versklavung zu sein. Ebenso wie die Spannung zwischen den theoretischen Entfaltungsmöglichkeiten und der praktischen weiblichen Beschränkung Ursache des weltweiten Unbehagens ist, das heute die meisten Frauen befallen hat.
Putzen und Bügeln, Brote schmieren und Windeln waschen, Kaufen und Klimmzüge an der sozialen Leiter machen, das füllt eine Frau nicht aus. – Ist das alles? Bin ich nur das Tröpfchen Öl, das die Maschine schmiert, oder ein belebtes Stück Möbel? Das sind die unausgesprochenen Fragen, die viele Frauen zur Tablettensucht führen oder in die Arme eines Liebhabers.
Psychiater berichten, daß viele Frauen zu ihnen kommen und Hilfe suchen, ohne genau zu wissen, warum. Sie klagen über eine unerklärliche Angst, die sie plötzlich an der Gurgel faßt. Sie sprechen von einer kaum erträglichen Leere, vor der sie fliehen möchten, ohne sagen zu können wohin. Viele sitzen oft stundenlang auf ihrem Bett und weinen ohne jeden ersichtlichen Grund.
Meistens haben diese Frauen alles, was nach gängiger Ansicht glücklich machen sollte: ein schönes Heim, einen aufmerksamen Mann, gesellschaftlichen Erfolg, gesunde Kinder und Sicherheit für den Lebensabend. Es ist also keine Existenzangst, die an den Nerven rüttelt. „Sie fühlen“, sagten uns Psychologen, „daß es außerhalb ihrer geborgenen Existenz ein reiches Leben gibt, auf das sie ein Recht haben, und fürchten, ein ganzes Leben lang an diesem Leben vorbeizugehen.“
Warum? Weil sie lügen müssen, um das scheinbare Glück nicht zu zerstören. Wenn eine Frau in einem Tagebuch ihre intimsten Gedanken und Wünsche aufzeichnen würde, könnte sie nur in den seltensten Fällen ihrem Mann diese Seiten zeigen, ohne die Ehe zu gefährden oder die Gemeinsamkeit zu Hölle zu machen.
Sie darf den nächsten Menschen nie enthüllen, wie sie wirklich ist. Sie muss versuchen, jener Vorstellung zu entsprechen, die er sich von ihr macht: dem Bild der Frau, wie Tradition, Moral, Religion, männliche Eitelkeit und Mode es geformt haben. Sie muss lügen, um geliebt zu werden, und sich selbst betrügen, um leben zu können. Sie muss vorgeben, geistige und moralische Werte zu verehren, die sie in der Praxis täglich verrät.
Und so erreicht sie ein Alter, in dem die Hoffnung auf ein reicheres Leben endgültig zusammenbricht. Zwischen 40 und 50 bleibt kaum eine Frau von dieser Psychose verschont.
Wenn in den letzten zehn Jahren die Zahl der arbeitenden Ehefrauen steil angestiegen ist, so darf das zum Teil dieser Psychose zu geschrieben werden. Die Kinder sind aus dem Haus. Die bange Frage stellt sich: Wer bin ich? Und in der Arbeit wird fieberhaft im letzten Augenblick nach jener Bereicherung gesucht, die die Ehe versprach, aber nicht gab.
In England arbeiten heute eine Million verheiratete Frauen mehr als vor zehn Jahren. In der Bundesrepublik beträgt ihr Anteil an den weiblichen Arbeitskräften heute 34 Prozent im Gegensatz zu nur 25 Prozent im Jahre 1950. In den Vereinigten Staaten arbeiten 9,3 Millionen Ehefrauen: 73 Prozent mehr als 1953.
Dieser plötzliche Hunger nach Aktivität und außerhäuslicher Beschäftigung kann jedoch nur ein Ersatz sein. Unvorbereitet, wie sie nun einmal ist, muß die Frau sich mit untergeordneten Stellungen abfinden, in denen sie zwar die Zeit totschlägt und vielleicht die Angst betäubt, die sie jedoch kaum ausfüllen können. Selbst wenn sie als junges Mädchen einen Beruf erlernt hat, machen Ehe und Mutterschaft es in den meisten Fällen unmöglich, eine echte Karriere zu verfolgen.
So stößt sich die weibliche Revolution überall an den Schranken, die von den Männern errichtet wurden, um die Frau zu beherrschen; sie bleibt die Gefangene des alten Leitbildes.
Nur in der Sexualität nicht. Da die Stellung der Frau hauptsächlich durch ihr Geschlecht bedingt wird, machen die Wandlungen auf diesem Gebiet die weibliche Revolte am deutlichsten spürbar. Die Tabus sind schon verschwunden. Ein Mädchen braucht nicht mehr Jungfrau zu sein, um einen Mann zu finden. Vierzehnjährige wissen mehr über Empfängnisverhütung als ihre Großmutter. Selbst der Ehebruch der Frau ist nicht mehr unbedingt ein Grund zur Scheidung.
Mit der Freudschen Psychoanalyse verbreitet sich die Überzeugung, daß verdrängte Sexualität ein größeres Übel sein kann, als sexuelle Freiheit. Sexualität hört auf, ein moralisches Problem zu sein. Sie wird zu einer Frage der seelischen Gesundheit.
Biologen entdeckten, dass die Entwicklung allen Lebens zu höheren Wesen erst beginnt, wenn zwei Wesen gleicher Art, aber verschiedenen Geschlechtes sich paaren müssen, um sich zu vermehren. In den Anfängen des Lebens geschah das durch Selbstbefruchtung.
Philosophen leiteten daraus ab, daß es die höchste Aufgabe der Sexualität ist, der geistigen und menschlichen Entfaltung zu dienen – und nicht, wie immer behauptet wurde, der Vermehrung. Sie meinen, dass Sex nichts mit Moral zu tun hat. Er ist vielmehr eine Form der Sprache, ein Dialog, dessen Wert ausschließlich davon abhängt, ob die Beteiligten etwas zu sagen haben, das wert ist, gesagt zu werden.
Bis vor wenigen Jahren war diese Form des Ausdrucks ein Vorrecht des Mannes: ein Monolog, bei dem er sich an seiner eigenen Stimme berauschte.
Heute will die Frau mitreden. Sie fühlt, daß von allen Erfahrungen des gewöhnlichen Lebens die Sexualität sie jenen Erlebnissen am nächsten bringt, die wir mystisch nennen. Nichts führt sie so unmittelbar an die Grenze menschlicher Möglichkeiten und zur Entdeckung ihrer selbst.
Und darum handelt es sich: Die Frau sucht sich selbst. Sie sucht sich außerhalb und oberhalb der Grenzen, in die der Mann sie seit Jahrtausenden gezwängt hat. Sie will sich nicht mehr sagen lassen, was sie sein soll. Sie will endlich wissen, wer sie ist.
Die Revolte der Frau ist selbstverständlich kein mit Fahnen und Fäusten geführter Krieg. Sie ist vielmehr ein Kampf, der sich im Innern der einzelne Frau abspielt. Die stärksten Ketten sind in ihrem Geist, in ihrer Seele. Sie sind geschmiedet aus falschen Vorstellungen und gefälschten Tatsachen, was halben Wahrheiten und aufgezwungenen Entscheidungen.
Revolutionen sind schmerzhaft, besonders wenn sie ein ganzes Weltbild ins Wanken bringen. Es ist oft unerträglich, zu einem neuen Bewusstsein zu erwachen. Deshalb die Spannungen und die Angst. Viele fürchten die Verantwortung der Freiheit. Sie flüchten zurück in verantwortungslose Geborgenheit. Es ist bequemer, „Weibchen“ zu spielen, selbst wenn es auf „modern“ geschieht, als frei zu sein.
Eins jedoch ist und übersehbar: das große Unbehagen, das die weibliche Welt befallen hat. Es drückt sich aus in Beruhigungspillen, Neurosen, Schlaftabletten, Alkohol und sexueller Unruhe. Es zeigt sich bei den Mädchen, die mit sechzehn Mütter werden, und den Frauen, die sich im Hausputz betäuben. Es sickert durch im Beichtstuhl, auf der Couch der Psychiater und nicht selten in den Armen der Männer. Er schlägt sich nieder in der Verwirrung unserer Kinder.
Wie sie leben, wie sie lieben und wie sie leiden, die Frauen dieser Welt, das schildern diese Berichte.
BRASILIEN
Der Wecker wurde ihr zum Verhängnis. Corina hatte ihn mit in die Ehe gebracht, zusammen mit ein paar Löffeln, einigen Tellern, drei Bettüchern, etwas Küchengerät und fünf Handtüchern. Er stand auf der Fensterbank und klingelte jeden Morgen genau um sechs Uhr. Dank des Weckers war Alfonso noch nie zu spät zur Arbeit gekommen. Corina war stolz darauf. Hatte ihr Mann es nicht ihr zu verdanken, daß er ein guter und angesehener Arbeiter geworden war?
Eines Tages feierten sie. Am ersten Jahrestag ihrer Hochzeit. Corina hatte – auf ihre Weise ebenso pünktlich wie der Wecker – im neunten Monat ihrer Ehe einen Sohn geboren und war schon wieder schwanger.
Als die Freunde gegangen waren, bat Alfonso seine Frau, sich zu ihm zu setzten und ein wenig Schnaps zu trinken. Das hatte er noch nie getan. Auch war er noch nie so zärtlich gewesen.
In Brasilien bleibt der man nur so lange erwirbt bescheiden im Hintergrund. Sobald er eine Frau hat, fordert er völlige Unterwerfung
„Er benahm sich wie in den ersten Tagen unserer Verlobung“, erzählte Corina, der die Tränen in den Augen standen, „immer wieder sprach er von seinem Junggesellenleben und von seinen Liebschaften. Ich hatte ihn nie danach gefragt. Ich weiß, daß Männer in gewisse Häuser gehen müssen, und ich wollte auch nichts wissen. Aber er bestand darauf und sagte: ‚Wenn man verheiratet ist, muß man sich genau kennen. Erzähl mir von dir.‘
Ich hatte nichts zu erzählen. Daß ich unberührt zu ihm kam, wußte er. Sonst hätte er mich ja nicht geheiratet. Nun wollte er mehr wissen. Er war so nett. Ich fühlte mich ein wenig betrunken. Und so erzählte ich ihm von Enrique, der mich geküßt hatte, und von meinem Vetter Joao, der einmal versucht hatte, mich zu vergewaltigen.
Alfonso lächelte nur, und wir tranken weiter. Als wir jedoch schlafen gingen, verwandelte er sich plötzlich in ein richtiges Tier. Er behandelte mich nicht mehr wie eine anständige Frau – wie mit einem Mädchen aus jenen Häusern ging er mit mir um.
Und dann stellte er den Wecker. Nicht auf sechs Uhr. Nein. Auf zwei Uhr. Und als es läutete, ging es wieder los. Und abermals stellte er den Wecker. Auf fünf Uhr.
So geht das jetzt schon seit zehn Monaten. Wir sprechen kaum noch miteinander. Aber alle drei Stunden reißt der Wecker mich aus dem Schlaf in die Hölle.“
Corina hat zehn Pfund abgenommen. Sie hat keine Kinder mehr bekommen, aber zwei Fehlgeburten gehabt.
Sie ging zum Richter. „In Brasilien gibt es keine Scheidung“, sagte er. „Du mußt deinem Mann gehorchen.“
„Und er kann mit mir machen was er will?“
„Ja – und so oft er will. Dagegen gibt es kein Gesetz.“
Sie ging zum Priester. Der sagte: „Du kannst deinen Mann nicht verlassen. Die Ehe ist heilig. Sie ist unlösbar.“ Und er tröstete sie mit einem Spruch, der ungefähr so klang: „Je mehr du leidest, um so näher kommst du unserem lieben Gott.“
Sie ging zu ihrem Vater, der mittlerweile einen kleinen Laden aufgemacht hatte, und dem es gut ging. Sie bat ihn, sie wieder aufzunehmen. Er jagte sie davon. „Was? Mit Enrique hast du’s gehabt, mit Joao. Verworfenes Ding.“
„Aber nur geküßt, Vater. Die haben mich nur geküßt. Wir waren Kinder.“
Sie rannte nach Hause und zerbrach den Wecker. Alfonso schlug sie zu Boden. Am gleichen Tag kaufte er einen neuen, größeren, lauteren Wecker, und heute noch klingelt das Ding alle drei Stunden zum Sturm auf die Würde seiner Frau.
Wir trafen Corina im Hause einer Ärztin und erfuhren, daß es viele ähnliche Fälle gibt: Männer, die ihre Frauen brutal behandeln, weil sie irgendwann einmal von einer anderen männlichen Hand berührt worden sind.
Es handelt sich nie um Ehebruch. Kleine, oft lächerliche Zärtlichkeiten aus vorehelichen Zeiten werden ein ganzes Leben lang „gerächt“. „Ich behandle dich, wie du es verdienst“, sagen die Männer. „Du verdienst keine Achtung, du hast dich selbst besudelt.“
Besudeln nennen sie jede menschliche Regung, die nicht ihnen gilt, oder ihren Kindern. Alles was außerhalb liegt, ist Sünde und muß bestraft werden: hier, jetzt, in diesem Leben, weil man sonst kein echter Mann ist und keine Ehe hat. Der Wecker wird zum Gewissen.
Vergeben und Vergessen würde Entmännlichung bedeuten, und Verachtung durch die anderen. Deshalb auch jagen Väter ihre Töchter aus dem Haus, wenn sie „gesündigt“ haben. Weil sie sich Männer der Ehe nennen, verurteilen sie ihre Kinder zur Prostitution. Es gibt in der Tat kaum eine andere Endstation für diese Mädchen. So rekrutiert die brasilianische Prostitution ihren Nachwuchs aus den sogenannten ehrbaren Häusern.
Welch simple Lösung: Man legt seine Ehre in die Hände seiner Frau und Töchter und fordert vom „schwachen Geschlecht“, stark zu sein und den Ruf der ganzen Familie zu tragen. Wenn die Frauen dieser Aufgabe nicht gewachsen sind, rettet der Mann sein Gesicht, indem er sie ins Verderben jagt oder zu Tode quält.
Dieses sind nicht die Bräuche von Analphabeten und Armen. Die große Masse der mittellosen Brasilianer kennt diese Sorgen nicht. Hier geht die Jungfräulichkeit sang- und klanglos unter. Wenn ein Dutzend Menschen in einem Raum leben müssen, weiß man nie genau, wer es gewesen ist. Der Bruder, der Vetter oder sogar der Vater hat eines Nachts unter dem Einfluß des Alkohols oder aus purer Verzweiflung nach der nächstliegenden Frau gegriffen.