Zwischen Kennedy und Castro
Stern, Heft 22, 28. Mai 1961
Carlos hatte zwei Beine, zwei Arme, eine Nase, zwei Augen. Er hatte richtige Ohren und fünf Finger an jeder Hand. Auch seine Kleidung war wie die der anderen. Ein verschwitztes Hemd, zerfranste Hosen, ein Strohhut für sechzig Pfennig und zwei spitze Schuhe ohne Schnürsenkel. Und doch hatte er irgend etwas, das ihn auffallen ließ. Er sprach sicherer, er lachte lauter, saß bequemer. – Er hatte Geld.
„Vierundzwanzig Dollar und dreißig Cent“, sagt er und schielt zu den Frauen hinüber, die gelangweilt aus den Fenstern des fahrenden Zuges schauen. „Damit kann ich sie mir alle kaufen. Wieviel sind es?“ Er zählt langsam. „Sieben in diesem Wagen. Wenn du das mit drei multiplizierst – denn in den übrigen Wagen sind sicher ebenso viele – dann macht das einundzwanzig. Stimmt’s? Wieviel Geld bleibt mir also übrig?“
„Kenn‘ ich euer Leben?“
„Du willst es doch kennenlernen. Also: wenn ich großzügig bin, bleiben mir drei Dollar und dreißig Cent. Wenn ich handle oder bis Montag warte, wenn die andern alles versoffen haben, kostet mich der Spaß höchstens zehn Dollar fünfzig Cent.“
„Erzähle mir lieber, wie du das Geld beim Hahnenkampf gewonnen hast“, sage ich, um ihn vom Thema abzubringen.
„Jetzt kommt der feine Herr wieder raus. Du bist hier nicht in Europa oder in einem Luxushotel. Du bist hier mit einem Bananenschlepper im Zug der Bananenfirma in Gesellschaft von billigen Bananenmädchen.“
„Das ist zu viel für einen Gringo (Amerikaner)“, sagt eine junge Frau, die hinter uns sitzt. „Gringos brauchen parfümierte Röcke.“
„Er ist kein Gringo. Er ist mein Freund!“ sagt Carlos und erklärt umständlich, wie wir uns vor drei Tagen in Golfito getroffen haben.
Golfito ist ein kleiner Hafen im Süden von Costa Rica. Er gehört der „United Fruit Company“, genau wie der Zug, in dem wir sitzen.
Diese amerikanische Gesellschaft, einer der mächtigsten Konzerne der Welt, beschäftigt sich hauptsächlich mit Bananenanbau und -handel. In allen Ländern Mittelamerikas besitzt sie Städte, Häfen, Eisenbahnen und riesige Bananenplantagen mit Dörfern und Arbeitslagern. Überall hier ist sie ein Staat im Staate. Ihre Macht ist so groß, daß sie in den meisten Ländern die Politik bestimmt. Wenn die Menschen in Mittelamerika von „amerikanischem Imperialismus“ sprechen, dann denken sie zunächst an die „United Fruit“.
Beamtenhäuser der United Fruit Company. Siedlung in der amerikanischen Bananengesellschaft schieben sich bis in den Urwald vor
Carlos kann sie auch nicht leiden, obwohl er für sie arbeitet – oder gerade deshalb. Jedenfalls schreit er am Schluß seiner Erklärungen: „Glaubt ihr denn, ich könnte mit einem Gringo saufen? Würdest du, Carmen, mit einem Gringo gehen?“
„Du arbeitest ja auch für die Amerikaner“, sagt die Frau.
Carlos bleibt einen Moment sprachlos. „Du hast recht“, meint er dann, „wenn’s ums Fressen geht, können wir nicht wählerisch sein. – Das erinnert mich an Liz, die kleine Mulattin aus Panama. Ein Amerikaner war verrückt nach ihr. Verstehst du, er mußte sie einfach haben. Und wenn ein Gringo was will, dann kriegt er’s. Mit dem Geld. Für fünf Dollar am Tag wollte er sie ausschließlich für sich. Fünf Dollar ist viel Geld. Viel mehr als ein Mann verdient. Und das für eine Frau. Du siehst die Situation?“
„Ich kenne die Geschichte“, sagt Carmen gelangweilt. ,,Ein Neger* verliebt sich in Liz und sie sich in ihn. Vier Monate lang sparen sie die fünf Dollar des Gringos, um auszuwandern und zu heiraten. Als er es entdeckt, läßt er den Neger* von den Plantagen jagen. Liz schlägt er so lange, bis sie ein Auge verliert und ihm sagt, wo das Geld versteckt ist. Dann nimmt er seine Dollar und läßt Liz nach Panama abschieben. Schluß der Geschichte.“
„Nein”, ereifert sich Carlos, „du hast meinem Freund nicht gesagt, daß Liz nie das verweigerte, wofür der Gringo bezahlte. Das ist das Wichtigste. Er hatte kein Recht, das Geld zu nehmen und sie zum Krüppel zu schlagen.“
„Warum machst du es nicht wie Liz und der Neger*?“ frage ich Carlos. „Warum sparst du nicht das Geld, das du gewonnen hast? Soviel verdienst du nicht in einer Woche.“
„Denk doch einen Moment nach, dann merkst du, wie sinnlos deine Frage ist. Liz und der Neger* hatten ein festes Einkommen. Sie konnten Pläne schmieden, weil sie wußten: Jeden Tag gibt es fünf Dollar mehr. Das macht im Monat hundertfünfzig, im Jahr fast zweitausend. Damit kann man sein Leben ändern. Man hat eine Zukunft. Verstehst du?“ Er schreit es fast heraus: „Weil ich keine Zukunft habe, kann ich nicht sparen! Soll ich meine vierundzwanzig Dollar und dreißig Cent einbuddeln? Es kommt doch nie etwas dazu. Und wenn, dann nur aus Zufall. Nicht, weil ich es einrichten kann. – Sparst du Carmen?“
„Wovon? Von den paar Dollar, die ihr mir gebt, muß ich meinen drei Kindern zu essen geben. Die älteste ist jetzt groß genug, um mir bei der Arbeit zu helfen. Sie ist nicht hübsch. Aber Gott sei Dank macht das hier nichts aus.“
Nichts in der Stimme der Frau verrät Erregung oder Gram, sie klingt auch nicht vulgär oder zynisch. Carmen spricht schlicht von ihrem Leben, wie ein Schreiner oder Schuster es tun könnte.
Der prüde Leser wird sich fragen, warum ich ihn gerade unter Prostituierte und Arbeiter führe, um ihm Mittelamerika zu zeigen. Die Antwort ist einfach: Weil d a s Mittelamerika ist. Die erdrückende Mehrheit lebt so, sei es auf Bananenfeldern, auf dem Lande oder in den Vororten der Städte. Man könnte sie natürlich einfach statistisch erfassen und sagen, es gibt soundso viel Millionen elende, betrunkene, erbärmliche Menschen.
Aber wie sehen sie aus? Wir wissen ja gar nicht, welche erschreckend fremde Welt die Armut ist. Aber wir werden uns mit ihr bekannt machen müssen, denn aus drei Erdteilen wird sie immer lauter an unsere Türen klopfen. Ihre Sprache ist nicht die unsere. Ihre Begriffe sind nicht vergleichbar. Wie sagte einer: „Die Moral ist der Luxus der Reichen.“ Hier fühlt man es bei jeder Begegnung. Diese Frauen zum Beispiel sind keine Prostituierten. Bei uns wären sie es natürlich, denn solch ein Mädchen könnte Sekretärin werden, aufwaschen oder in einer Fabrik arbeiten. Bei uns gibt es immer einen Platz, wenn man zwei Hände hat und gesund ist. Aber hier haben sie keine Wahl, und das ist das Entscheidende in der Bewertung. Sie können nichts anderes sein. Sie sind Menschen, die nicht sterben wollen. Sonst nichts. Und all unsere Worte haben hier keinen Sinn mehr. Sie sind Schablonen, die nicht mehr passen.
Jedes Mal, wenn wir im Zentrum von Panama-City auch nur hundert Meter von der Hauptstraße abkamen, liefen Männer hinter uns her und warnten: „Hier dürfen Sie nicht weitergehen, das Elend ist groß, und die Messer sitzen locker.“ In diesen Vierteln wohnen fast ausschließlich Neger*
Millionen Frauen aus dem Volk sind nicht verheiratet, trotz Missionaren und Kirche. Der Hunger ist stärker. Sie leben mit einem Mann und haben Kinder von ihm, bis er sie nicht mehr ernähren kann. Dann gehen sie zu einem andern und haben Kinder mit dem. Und so geht es weiter. Sollen diese Menschen ein Familiengefühl kennen wie wir? Außer einem Anzug, ein paar Töpfen, drei Messern und einem Bett wissen sie auch nicht, was Besitz ist. Sollen sie da unser Prinzip des Eigentums verteidigen? Und wenn sie Arbeit finden, rentiert es sich nicht. Es genügt kaum zum Sattwerden. Sollen sie da zu unserem Ethos der Arbeit stehen?
Was Carlos auch tut, ob er vier Stunden mehr arbeitet oder drei Stunden weniger, sein Leben kann sich nicht ändern. Er wird nie das Existenzminimum erreichen und jenes Gefühl der Sicherheit, ohne das es keine Freude an der Arbeit und kein Sparen gibt.
„Weißt du, was der Neger* tat, als er Liz kennenlernte?“ fragte er mich.
„Er rührte keinen Schnaps mehr an. Gerade er, der jeden Sonnabend besoffen in den Feldern lag. Stell dir vor.“
„Du solltest auch nicht mehr trinken“, meint Carmen. „Du nimmst dann immer den Mund zu voll. Eines Tages hat er ein Messer im Bauch. Und zu mir gewandt … „Das geht hier schnell, Carlos ist ein Mordskerl.“
„Hab’ ich eine Liz und fünf Dollar am Tag, he?“
„Nein.“
„Siehst du, da kann ich doch nur Scheiße schreien. Oder nicht? – Hombre, jede Woche einmal auf die Pauke hauen – damit bläst man das Licht aus. Das Leben verschwindet für zwanzig Stunden. Manchmal sackt man schon eher weg. Aber so lange es dauert, kotzt man auf alles. Auf die ‚United Fruit’. Auf die Regierung, die sich die Taschen vollsteckt. Auf den Gott, der das mit ansieht. – Trinken, spielen, lieben, und wieder trinken – das ist abschalten. Entsetzlich ist es, wenn man keinen Pfennig hat und nüchtern bleibt, während andere sich besaufen. Das kommt zu oft vor. Es ist zum Verrücktwerden. Ich bin schon mal mit dem Kopf gegen die Wand gerannt, hier.“ Er zeigt mir eine große Narbe auf der Stirn.
„Nüchtern.“
„Denk an mich, bevor du zu betrunken bist.“
„Está bien, Carmen. Nimm dies als Anzahlung.“ Sie steckt den Dollar in die Handtasche und schaut aus dem Fenster.
Schon seit einer Stunde fahren wir durch die Plantagen der „United Fruit“ Bananenstauden sind häßlich. Sie sehen aus wie riesiger zerrupfter Kohl. Jede trägt nur eine Bananentraube, dann wird sie gefällt, und ihre Ableger werden neu gepflanzt. Es scheint grotesk, daß diese großen Pflanzen, die vier bis fünf Meter erreichen, nur einmal Frucht tragen und dann sterben
Hin und wieder hält der Zug in einem Arbeitslager. Vierzig bis fünfzig Baracken und ein großer Laden.
Bei 40° im Schatten sind Häuser zu heiß. Man schläft in Hängematten, durch die der Wind weht
„Der gehört auch der ‚United Fruit’“, erklärt Carlos jedesmal, als sei es eine fixe Idee. „Die Gringos verstehen was von Organisation. Sie lassen uns arbeiten und zahlen gerade genug, daß wir essen können. Dann verkaufen sie uns das Essen – und verdienen daran. Sagt mir, ist das gerecht? Glaubst Du, einer von uns dürfte hier einen Laden aufmachen? Nur außerhalb der Plantage. In Villa Neily zum Beispiel. Deshalb gehen wir auch immer dorthin, wenn wir uns amüsieren wollen.“
Als wir in Villa Neily ankommen, ist es dunkel. In keinem Cowboy Film habe ich einen Ort gesehen, der so den Vorstellungen entspricht, die wir uns vom Wilden Westen der Goldsucher machen: drei Straßen, fünfzig Häuser, davon zwanzig Geschäfte und zehn „Saloons“. Alles aus Holz hingestellt, als sei es nur ein Jahrmarkt, der morgen wieder abgerissen werden soll. Dahinter eine hohe Wand: der Urwald. In den Gossen liegen Männer und schlafen ihren Rausch aus. Vor den Saloons warten Frauen. In den Geschäften stehen Neger*, Weiße, Indianer, Mulatten. Jeder hat einen Hut, wenige tragen Schuhe. Reiter halten vor den Bars und lassen sich servieren, ohne abzusteigen. Ein Esel beschnuppert seinen trunkenen Herren, der nicht mehr aufstehen kann. Vor kleinen Buden wird gespielt, geflucht, gestritten. Und über all dem mischen sich die Melodien der Juke-Box aus den 10 Saloons zu einem höllischen Lärm, der auch ohne Rum die Besinnung raubt.
Am Wochenende wird getrunken, bis man vom Pferd fällt. Es gibt nur diesen Weg, dem Elend zu entfliehen
Carlos führt mich von einer Bar in die andere. Überall trifft er Bekannte. Solange sie nicht betrunken sind, zeigen sie ihm einen gewissen Respekt.
„Warum?“ will ich wissen.
„Weil ich viel lese. Früher wollte ich mal Lehrer werden. Weißt du, warum das nicht geklappt hat?“
„Ich weiß. Die alte Leier. Geld. Aber reden wir doch bitte nicht mehr davon.“
„Falsch, Amigo. Ich habe mal einen Arbeiter verteidigt, dem Unrecht geschehen war. Daraufhin nannte man mich Kommunist und beng! – keine Tür blieb offen. Das war auf der anderen Seite. In Panama. ‚United Fruit’ kann überall machen, was sie will.“
Bis jetzt haben wir in den Bars nur gestanden. In der nächsten, die kleiner ist und eleganter aussieht – wenn man dieses Wort überhaupt gebrauchen darf -, nehmen wir an einem Tisch Platz, an dem schon vier Männer sitzen.
Als der kleine Chinese, der hier Ober spielt, einen Rum vor mich hinstellt, zieht einer der Männer seinen Schuh aus und trommelt damit wütend auf dem Tisch herum. Zwei unserer Tischnachbarn folgen. Dann geht es auch auf anderen Tischen los, selbst an der Bar, und in wenigen Sekunden ist die Musik übertönt.
Carlos ist bleich geworden. Er steht auf und schreit: „No es un gringo, es mi amigo – er ist keine Gringo, er ist mein Freund.“
Das Trommeln klingt ab. Mein Gegenüber beugt sich vor: „Pardon, Señor, ich konnte es nicht wissen“
„Du hättest ja fragen können“, schreit Carlos ihn an.
„Darf ich jetzt fragen, warum Sie das getan haben?“ sage ich.
Bevor der Mann antworten kann, ergreift sein Nachbar das Wort. Der einzige am Tisch, der nicht getrommelt hat.
„Der liest keine Bücher – der schreibt welche“, flüstert Carlos schnell.
„Wir haben das von Chruschtschow gelernt“, sagt der Mann. „Als der in der UNO seinen Schuh auszog, habt ihr die Nase gerümpft, denn ein solches Benehmen gehört nicht in dem Herrenclub der Diplomaten. Aber wir haben gejubelt. Plötzlich hatten wir Sympathien für den dicken Russen. Der ist ein geschickter Kerl. Er weiß, wir möchten alle schon lange mit beiden Schuhen auf den Tisch schlagen und brüllen.
Und wenn Fidel Castro mitten in New York den Amerikanern seinen Haß ins Gesichts schleudert, dann regen eure Zeitungen sich nur darüber auf, daß die Rede zu lang war und der Ton unmöglich. Worüber sie sich Gedanken machen sollten, ist, was wir darüber denken. Wir, die 170 Millionen Besitzlosen Lateinamerikas. Die Amerikaner nennen uns abschätzig ‚the latins’ – die Lateiner – . Das kommt gleich nach dem Neger*. Nun steht so ein kleiner Lateiner auf und sagt mutig, was wir alle denken. Mehr noch: Er schmeißt die ‚United Fruit’ raus und wagt es, mit seinen paar Millionen Kubanern der stärksten Macht der Welt zu trotzen. Was das in Lateinamerika auslösen wird, kann kein Außenstehender sich vorstellen.
Carlos trinkt. Er hört zu und trinkt. Zwei Frauen setzen sich an unseren Tisch „Seid ihr schon wieder bei der Politik“, sagt eine. „Dann müssen wir wohl den Mund halten.“
„Bitte“, sagt Carlos, „sprich weiter.“
Der Mann fährt fort: „Sie glauben jetzt sicher, ich sei Kommunist. Keinesfalls. Dafür bin ich aber auch kein Anhänger des kapitalistischen Systems. Ich brauche mir nur anzusehen, was der Kapitalismus aus unseren Ländern gemacht hat. Seit Jahrhunderten ist er hier unumschränkt Herrscher. Er hat also alle Chancen gehabt. Das müssen Sie zugeben. Das Ergebnis ist katastrophal. Warum? Sein einziges Ziel war Bereicherung, ohne Rücksicht auf unsere Länder und Menschen.“
„Bei uns hat er Wunder gewirkt.“
„In hochentwickelten Ländern mag der Kapitalismus die bestmögliche Gesellschaftsform sein. Überall dort, wo die demokratischen Sicherheiten fehlen, wo er das Gesetz bestimmt und die Macht zum Werkzeug der Bereicherung wird, führt der Kapitalismus zum Ruin.“
„Wir haben auch viele Generationen gebraucht, um beim Rechtsstaat anzukommen“, unterbreche ich.
„Ihr hattet auch Zeit. Ihr saßt nicht, wie wir, zwischen zwei feindlichen Weltblöcken, von denen jeder entscheiden will, wie wir leben sollen. Heute braucht ihr weder Kommunisten zu werden, noch neue soziale Strukturen zu erfinden. Wir aber haben keine andere Wahl.“
„Halt. – Diese Notwendigkeit sehe ich nicht ein.“
„Unser Weg wird ausschließlich durch die Haltung des Westens bestimmt. Wenn er die unvermeidlichen, oft notwendigerweise antikapitalistischen Lösungen unserer Probleme ablehnt und bekämpft, zwingt der uns ins kommunistische Lager. Kuba ist hierfür ein Schulbeispiel. Aber es braucht nicht so zu zukommen. Wir wollen ja nicht die Feinde des Westens werden. Wir möchten nur, daß er uns begreift. Mangelnde Phantasie ist der Grund für das Unverständnis der hungrigen Nationen. Es wird nur schwarz-weiß gemalt.“
In diesem Saloon, der wie das Bühnenbild zu einer mittelamerikanischen Dreigroschenoper aussieht, klingen seine Worte wie Schüsse. Dann gehen die Männer. Carlos will sie zur Tür bringen, aber er kann nicht mehr aufstehen. Die Frauen werden zärtlich. Ein Mann bittet mich um ein Glas. Er stürzte den Rum hinunter und küßt mir zum Dank die Hände. Es riecht nach Marihuana. Carlos spricht vor sich hin:
„Was machen? Die Kerle an der Macht haben die Seelen umgebracht. Korruption ist das einzige Vorbild. Nur die bleiben übrig, die stehlen, betrügen, morden. Aufgepaßt, ihr Bauern, Neger*, Hunde und Huren. Im Gleichschritt, marsch. Solange ihr uns wortlos folgt, dürft ihr weiterleben.“ Er schließt die Augen pfeift die Marseillaise.
Junge Banden machen Panama-City unsicher. Arbeitslosigkeit ohne Unterstützung
treibt die Menschen zum Verbrechen und zur politischen Agitation
„Komm, Amigo, tanz mit mir.“ Eine der beiden Frauen, sie heißt Maria, zieht mich vor die Juke-Box. „Willst du mit mir gehen?“
„Nein.“
„Gibst du mir trotzdem was?“
„Ja.“
Sie küßt mein Ohr und flüstert: „Eres un buen amigo – du bist ein guter Freund.“
Ich schäme mich, daß es schon wieder des Geldes bedurfte, um Sympathie zu gewinnen. Es scheint kein Entrinnen zu geben. Der Wert eines Mannes, einer Frau, der Wert einer Idee, eines Gefühls, einer Freundschaft, einer Liebe – jeder Wert wird in Dollar gemessen. Es ist der einzige Maßstab, den man diesen Menschen gelassen hat.
Wer ein Gangster werden will, übt sich bei Zeiten.
In dieser Welt muss man hart sein, um zu überleben
Als der Morgen graut, versuche ich Carlos auf die Beine zu bringen. Er klappt zusammen. Marie faßt mit an. Sie kennt den Weg. Wir schleppten ihn aus der Tür um die nächste Ecke, bis zum Baseballfeld, das wie ein Schlachtfeld aussieht nach dem Kampf. Wir legen Carlos auf die Erde. Was soll ich jetzt tun? Mich betrinken, wie diese Männer? Ich lege mich ins Gras und schließe die Augen.
Maria kniet neben mir. Sie gibt mir einen Kuß. „Es war ein schöner Tag“, sagt sie.
Als ihre Schritte verklungen sind, höre ich nur noch das Stöhnen der betrunkenen Männer.
Auf der anderen Seite der Grenze, in Panama, erstreckt sich das grüne Reich der „United Fruit“ ebenfalls von der pazifischen bis zur atlantischen Küste. Sie beschäftigt dort rund 12.000 Arbeiter, die in den Häfen wohnen oder in den Arbeitslagern der Plantagen leben. Jedes Lager hat einen Chef, den Capataz, der die Arbeiter verteilt und für Ordnung sorgt. Einmal im Jahr verleiht die Gesellschaft dem besten Capataz eine hohe Geldprämie.
Ein guter Capataz ist man, wenn die Männer, die einem unterstehen, für wenig Geld viel Arbeit leisten. Wie das möglich ist, ergibt sich aus dem System: Der einfache Arbeiter wird für mehrere Monate verpflichtet. In einer Stube, in der schon viele andere schlafen, gibt man ihm ein Bett. Wenn er eine Frau hat, bekommt er ein ganzes Zimmer. Der garantierte Stundenlohn beträgt 25 Cent (eine Mark). Mehr verspricht man ihm nicht. Die Zeit, die er pro Tag oder Woche arbeiten darf, steht nicht fest. Wieviel Geld er am Ende des Monats nach Hause bringt, hängt also von den Umständen ab, vom Wetter oder von der Laune des Capataz.
Wer leben will ist Kommunist
Ein Chef, der diese Situation geschickt ausnutzt, hat Aussichten, die heiß umstrittene Prämie zu verdienen. Es genügt zum Beispiel, einem Mann mehrere Tage keine Arbeit zu geben, um ihn gefügig zu machen, unter dem garantierte Stundenlohn zu arbeiten, oder man ruft seine Leute zusammen und sagt: „Dieses Stück Wald muß gerodet werden. Wieviel wollt ihr dafür?“ Die Männer nennen ihre Preise. Wer am wenigsten verlangt, darf arbeiten. – So kann ein Capataz sparen und für wenig Geld viel leisten.
Daß solche Methoden der „United Fruit“ keine Sympathien einbringen und zu Streiks führen müssen, ist nicht verwunderlich. Und doch wird jeder, der menschlichere Arbeitsbedingungen oder etwas mehr Lohn fordert, automatisch zum Kommunisten gestempelt und als solcher verfolgt. Neuerdings nennt man die Unzufriedenen auch „Fidelisten“.
Wenn man die „United Fruit“ und alle kleinen und großen Kapitalisten Mittelamerikas hört, möchte man glauben, der Kommunismus oder Fidel Castro hätten den Schrei des Hungers erfunden oder den Wunsch nach Gerechtigkeit gepachtet.
Ich weiß, die automatische Etikettierung ist nur ein cleverer Propagandatrick. Man stempelt die Unzufriedenheit zum ideologischen Bekenntnis, den Drang nach sozialer Besserung zur politischen Abhängigkeit und erwirbt sich hiermit das Recht, seine ganz persönlichen Interessen brutal zu verteidigen. Die öffentliche Meinung des Westens ist beruhigt: Man schlägt ja nur auf Kommunisten und kämpft damit für die gute Sache. – Wie gefährlich dieses Spiel ist, das skrupellose Geschäftemacher zu beglaubigten Vertretern der freien Welt macht, haben wir in Panama erlebt.
In dem Bananenplantagen der „United Fruit“ wird gestreikt.
„Durch Zufall“, sagt uns ein Arbeiter in Puerto Armuelles, dem kleinen Hafen an der pazifischen Küste, „wir wußten gar nicht, daß wir streiken konnten. Mit was denn? Wir hatten keine Gewerkschaft, kein Geld – und jeder war froh, daß er überhaupt was zu essen hatte. Dann begann ein Streik an der atlantischen Küste. Unsere Kameraden von drüben baten uns um Unterstützung. Wir gingen also von Tür zu Tür, wir kratzten die letzten Pfennige zusammen, damit sie durchhalten konnten. Um die Hilfe zu organisieren, mußten wir kleine Komitees bilden. Wir entdeckten plötzlich, daß alle mitmachten. So viele halfen, daß selbst die Schwächsten ihrerAngst vergaßen. Es hatte ja schon so lange gedauert. Seit 15 Jahren stand der Mindestlohn pro Stunde auf 25 Cents (einer Mark). Wir merkten plötzlich: wir können selber streiken. 5000 Arbeiter strömten zusammen und wählten ihre Vertreter. Das hat es hier noch nie gegeben. Wir legten die Arbeit nieder und verlangten höhere Löhne – 40 Cents statt 25 pro Stunde – und bessere Arbeitsbedingungen.“
„Das klingt so romantisch“, unterbreche ich ihn. „In Panama-City hat man mir gesagt, kubanische Agenten und Kommunisten hätten euren Streik angezettelt und finanziert.“
Im Raum wird es still. Die fünf Männer schauen mich an, als hätte ich sie geohrfeigt. Sie bilden den Vorstand der neuen Gewerkschaft und sind hergekommen, um die „ausländischen Journalisten“ zu treffen.
Der Sekretär ergreift das Wort: „Es nützt ja nichts, wenn ich schwöre. Sie werden mir doch nicht glauben, daß wir alles allein gemacht haben. Aber wissen Sie, wohin eure Lügen uns führen: in die Arme des Kommunismus.“
Ich erkläre ihm, daß ich ihm glaube. Vorher hatten wir Recherchen angestellt und herausgefunden, daß es sich wirklich um eine ganz spontane Erhebung der Arbeiter gehandelt hat. Das Unvorbereitete und die Naivität der Streikenden waren besonders dadurch zum Ausdruck gekommen, daß sie einen Rechtsanwalt gesucht hatten, um ihre Interessen zu vertreten: Er mußte ihnen auch erklären, wie man eine Gewerkschaft bildet, was bei echten Kommunisten wohl kaum nötig gewesen wäre.
„Wir wissen nicht, was Kommunismus ist“, sagte Sekretär jetzt. „Aber jedes Mal, wenn einer von uns nach mehr Brot verlangt, hat man ihn einen Kommunisten genannt. Zunächst fanden wir das furchtbar, denn die Priester und Zeitungen haben uns gesagt: ‚Ein Kommunist ist der Teufel, er ist gegen Gott und will nur Böses’. Wir aber wollen nichts Schlechtes – wir wollen essen. Wenn man uns deshalb Kommunisten nennt, dann müssen wir annehmen, daß der Kommunismus etwas Gutes ist. Wenigstens für uns.“
„Man hat sogar auf uns geschossen“, sagt ein Neger*. „Auch diesmal hieß das Alibi: Kommunist. Das war so: Der Justizminister kam hierher und sagte: ‚Ihr habt recht. Ich will für euch verhandeln.’ Dann schloß er sich mit den Herren der ‚United Fruit’ ein. Als er wieder rauskam, sagte er: ‚Der Streik ist illegal: Ihr seid Kommunisten. Geht wieder an die Arbeit.’ Wir hatten schon nichts mehr zu essen und lebten ausschließlich von den Fischen, die wir selbst fingen. Viele bettelten in den Städten, um durchzuhalten. Wir wollten schon aufgeben. Aber der Justizminister hatte es zu eilig. Er setzte zwei Kompanien Nationalgardisten gegen uns ein. Jetzt wuchs der Widerstand erst recht, und der Präsident mußte selbst eingreifen. Er ließ sich nicht von der ‚United Fruit’ kaufen. Er verhandelte für uns. Jetzt bekommen wir 36 Cent pro Stunde. Wir haben gewonnen.“
„Ja, aber viele mußten zahlen, selbst die Regierung“, sagt ein anderes Mitglied des Vorstandes. „Als Repressalie gegen unseren Präsidenten exportiert die ‚United Fruit’ jetzt einen Teil der Bananen über Costa Rica. Das macht ein schönes Loch in unserer Staatskasse. Gegen uns benutzt sie die alten erprobten Methoden. Die Männer, die am meisten Mut gezeigt haben, werden in Lager versetzt, in denen sie niemand kennt. Wenn ihr Vertrag abgelaufen ist, werden sie entlassen. Und dann sind sie Vagabunden, die man aus der Stadt jagen darf oder einstecken.“
„Vagabunden. Ich verstehe nicht.“
„Ja so nennt man hier alle, die keine feste Arbeit haben. Jeder Stellungslose kann von der Polizei des Ortes verwiesen werden. Wer trotzdem bleibt, kommt ins Gefängnis. Ich brauche nicht zu sagen, von wem die Polizei ihre Befehle erhält.“
Als wir wieder im Flugzeug sitzen und über die trostlosen Lager der „United Fruit“ fliegen, muß sich unwillkürlich an Kuba denken. Dort hatten wir, bei unserem ersten Besuch, landwirtschaftliche Genossenschaften und Staatsfarmen besucht und mit den Arbeitern gesprochen. Sie leben in geräumigen Einfamilienhäusern, die der Staat ihnen geschenkt hat. Der Tageslohn 2,80 Pesos (11,20 DM), ob Arbeit da ist oder nicht. Es gibt Schulen für die Kinder und Pflege für die Kranken. Die Begeisterung war groß. Wir hörten selten eine Klage.
Wenn ich nun ein kleiner Mittelamerikaner wäre und rein optisch urteilen müßte, ohne die großen Phasen der Weltpolitik zu beachten – von denen ein Landarbeiter sowieso nichts versteht -, wo möchte ich lieber leben: bei der „United Fruit“ oder bei Castro? – In Kuba natürlich. Rein optisch, wohlverstanden. Und wenn ich meinen Magen befragen würde, nur ihn, dann könnte die Antwort nicht anders ausfallen.
Wenn dann irgendein gescheiter Kerl mit erhobenem Zeigefinger mir sagen würde: „Moment mal, mein Lieber, so einfach ist das nicht. Solange du bei der ‚United Fruit’ bist, gehörst du zur ‚Freien Welt’. In Kuba aber bist du in einem sozialistischen Land. Da gibt es keine Freiheit mehr.“ Wie würde ich reagieren, wenn ich ein kleiner hungernde Mittelamerikaner wäre? Ich würde wahrscheinlich zunächst an meinen leeren Bauch fühlen, dann auf meine erbärmliche Hütte schauen, auf meine kranken Kinder, die nicht lesen können, auf den Capataz, der mich ausbeutet, und die „United Fruit“, die es so will. Und dann würde ich dem gescheiten Kerl an den Kopf fassen, um zu sehen, ob er noch recht bei Sinnen ist.
Der Panamakanal ist für Amerika als Verbindung zwischen Atlantik und Pazifischem Ozean von größter strategischer Bedeutung
Sicherheit und Sauberkeit herrschen in der streng bewachten Kanalzone, die Amerika für rund zwei Millionen Dollar im Jahr gepachtet hat
„Yankee go home. Der Kanal gehört uns. Nur diese Fahne darf darüber flattern.“ So lauten die politischen Schlagworte in Panama. Das Land mit seiner großen Armut ist das neue Sorgenkind Kennedys
Mein Nachbar zieht mich aus meinen Träumereien. Ein dicker eleganter Herr, der sich schon die ganze Zeit beschwert, daß man im Flugzeug keine Zigarren rauchen darf.
„Sie kommen aus Puerto Armuelles. Ist wieder alles ruhig?“
„Ja.“
„Furchtbar, was? Diese Kommunisten sind zu allem imstande.“
„Castros Beispiel steckt an.“
„Castro. Ha, ha. Dieser Kerl ist großartig. Dem sollten wir ein Denkmal setzen.“
„Sie?“ Ich schaue auf seine goldenen Manschettenknöpfe und traue meinen Ohren nicht.
„Wer denn sonst? – Wenn jetzt die Amerikaner Tonnen von Dollars in unsere Länder pumpen, haben wir es doch nur ihm zu verdanken. Hoffentlich hält der Kerl sich noch ein paar Jahre. Ha, ha.“
Was soll ich da noch sagen. – Er fragte mich, woher ich komme, was ich tue, ob ich viel herumkomme. Dann verfällt der in tiefes Grübeln, aus dem er mit diesem Satz auftaucht:
„Wo, glauben Sie, kann man sein Geld am sichersten anlegen, in Kanada oder in der Schweiz?“
Der Knigge der Indianer verlangt von der Frau, daß sie immer stumm und bescheiden hinter ihrem Mann bleibt. Sei es im Urwald, in den Bergen oder in der Stadt, der Gänsemarsch gehört zum guten Ton. Böse Zungen behaupten, die Indianer von Chiriqui in Nordpanama hätten diese Sitte geschaffen, um auf den langen Märschen nicht das Geschnatter ihrer Frauen anhören zu müssen. Besonders wenn man aus der Stadt kommt und die Geschäfte bewundert hat, gibt es so viel zu erzählen. Und wie soll man sagen können: „Dieser Hut, dieser Schal gefällt mir – warum kaufst du mir nicht das schöne Kleid?“, wenn man immer nur über die Schulter blicken darf und dann wieder kehrt machen muß und brav dahertrippeln wie der Mann es befiehlt
*Anmerkung: Der Begriff Neger/Negerin wird aus dem Originaltext beibehalten. Diese Bezeichnung war damals ohne Abwertung als Fremd- und Selbstzuschreibung geläufig.