Zwischen Kennedy und Castro
Stern, Heft 19, 7. Mai 1961
Fidel Castro hat gesiegt. Der schnelle Zusammenbruch der Invasion zeigt, daß der bärtige Regierungschef die Mehrheit des Volkes hinter sich hat. Allen, deren Denken nicht von Wunschträumen bestimmt wird, war dies bekannt. Umso erstaunlicher ist es, daß Washington eine Aktion unterstützt hat, die, selbst, wenn sie erfolgreich gewesen wäre, nur Haß und Verbitterung in Lateinamerika auslösen konnte. Und um Lateinamerika geht es hier.
Der Glaube, mit Präsident Kennedy sei die Zeit der amerikanischen Einmischung vorüber, ist zerstört worden. Andererseits hat Castro gezeigt, daß man sich erfolgreich gegen den industriellen Riesen des Nordens stellen kann. Jetzt werden die anti-amerikanischen Gefühle überall explosive Formen annehmen. Im karibischen Raum ist die Lage bereits dramatisch. Ich komme gerade von dort. Meine letzte Station war Kuba.
Das Sündenbabel Amerikas nannte man Havanna unter der Diktatur Batistas. Es gab fünfzigtausend Prostituierte, unzähligen Spielhöllen, Hunderttausende von Touristen. Jetzt wird dort geschossen. Die Kunden bleiben aus.
Anstelle der Werbung für Rundfahrten und Nachtlokale hängt politische Propaganda an den Wänden. Prostitution ist verboten. Aber die Probleme bleiben
Die Hauptstadt Havanna war wie immer; sie schien vor Leben und Temperament aus den Nähten zu platzen. Als ob niemand fühlte, daß dieses Land einer Krise entgegentrieb, tanzten die Menschen auf den Straßen. Sie feierten in einem verlängerten Karneval die Siege der Revolution: die Landreform, das „Jahr der Erziehung“, die Nationalisierungen, neue Bauerndörfer. Die erste „Zuckerernte des Volkes“ wurde von üppig gewachsenen, sparsam bekleideten Mädchen auf reich geschmückten Wagen dargestellt. Bärtige Revolutionäre regelten den Verkehr. Die Rhythmen des Cha-Cha-Cha waren überall in der Luft.
„Komm, Yankee, tanz’ mit mir!“ – „Schau, Yankee, was wir erreicht haben!“ – „Sag, Yankee, ihr werdet uns doch nicht angreifen?“ – „Hör, Yankee, wir sind keine Kommunisten. Bitte, Yankee, sei unser Freund!“ Jeder fremde Besucher wird hier automatisch für einen Amerikaner gehalten. Ohne jeden Haß.
Ein westlicher Diplomat, der mich seit Tagen überzeugen wollte, daß Kuba dem Kommunismus verfallen sei, machte seinem Ärger Luft: „Das ist doch nur elendes Gesindel aus den Vorstädten und der Altstadt. Die echten Kubaner sind nicht hier. Die richtigen Leute haben keine Zeit zu feiern. Sie fabrizieren Bomben und planen die Invasion. Sie sollen mal sehen, wie diese Bande nüchtern wird, wenn es hier knallt.“
„Muß es dazu kommen?“
Er schaut mich mitleidig an.
„Wollen Sie etwa, daß Kuba kommunistisch bleibt?“
Aber ist es denn kommunistisch? Diese Frage beschäftigt alle. Die Vereinigten Staaten behaupten: Ja.
Der Großteil der westlichen Presse auch. Fidel Castro sagt: „Wir suchen Gerechtigkeit für alle. Aber wir wollen kein Brot ohne Freiheit, keine Freiheit ohne Brot. Wir haben uns unsere Freunde nicht ausgesucht. Es blieb uns keine andere Wahl. Jetzt müssen wir denen danken, die uns in der Not geholfen haben. Aber wir verkaufen uns keinem.“
Trunken von seiner neuen Selbstständigkeit wird ein Volk plötzlich in den Strudel der Weltpolitik gezogen. Es wollte sich selbst befreien und geriet dabei zwischen die Fronten des Kalten Krieges, dessen Spielregeln es nicht kennt.
Seit Wochen grölte die kubanische Presse kommunistische Schlagworte gegen den „amerikanischen Imperialismus“. Die Invasion lag in der Luft, und je näher sie rückte desto hysterischer wurde der Ton. Männer drehten dem Regime den Rücken und suchten Zuflucht in Florida. Je mehr Plätze frei wurden, umso sicherer rückten die Kommunisten vor; denn je größer die Spannung wird, umso notwendiger werden sie für Castros Regime. Sie sind treue Verbündete gegen Amerika und die Garantien östlicher Freundschaften.
Die kommunistische Partei zählt 26 000 Mitglieder, sie kontrolliert einen großen Teil der Presse und die meisten Gewerkschaften der Städte. Jeder weiß, daß es ohne sie nicht mehr geht. Jeder weiß aber auch, daß sie nicht regiert, noch nicht.
In den Hotels treffen wir Russen, Tschechen, Polen, Chinesen. Sie sehen nicht aus wie Eroberer. Sie stellen sich die gleiche Frage wie wir: Ist Kuba kommunistisch?
Schon das allein klingt seltsam aus dem Munde von Menschen, die angeblich die Herren des Landes sein sollen. Aber hören wir ihnen zu:
„Ich werde nicht klug aus dieser Revolution“, sagt mir ein polnischer Schriftsteller, der seit drei Monaten versucht, ein Buch über Castro zu schreiben. „Hier gibt es keine Theorie, keine feste Linie. Es ist zum Verrücktwerden. Wenn man Maßnahmen der Regierung gefunden hat, die in ein System passen, schmeißt die nächste Verordnung alles wieder um. Wie soll ich ohne jeden Anhaltspunkt schreiben können? Die einzige Definition, die ich bis heute gefunden habe, ist: ‚Revolutionärer Pragmatismus’ oder ‚Pragmatische Dynamik mit Linksdrall’. Komisch, wie?“ Er faßt sich verzweifelt an die Schläfen. Schweißtropfen perlen zwischen zwar seinen Fingern.
Ein tschechischer Ingenieur ist präziser: „Wenn das, was die uns hier vorexerzieren Kommunismus ist, dann bin ich John F. Kennedy persönlich. Allenfalls sind das Gerechtigkeitsfanatiker, romantische Kinder, Gleichheitsapostel. Die wollen Jesus wiederfinden und glauben, Recht haben genügt, um stark zu sein. – Ohne Castro könnte man sich vielleicht zur Vernunft bringen. Aber was soll’s?“
Mit einem Augenzwinkern: „Wo läßt es sich so schön leben wie hier? Was? Pünktlich um sechs Uhr abends höre ich auf, Kommunist zu sein. Und glauben Sie nicht, ich sei der einzige. Hier wird der sturste Dogmatiker korrupt. Die Kubaner glauben so intensiv ans Leben, daß sie nicht einmal ihre Revolution in Zwangsjacken stecken können. Geschweige denn sich selbst. Ha, ha …“ Er schlägt mir auf die Schulter. „Kommen Sie, ein kleiner Bummel durch die Bars kann nicht schaden. …“
Ein russischer Wirtschaftsexperte geht durch die Halle des Hotels „Nacional“. Ein alter Bekannter, den ich in Ägypten zuletzt sah. Ich sprinte hin und frage: „Gehört Kuba jetzt euch?“
„Gott behüte“, sagt er, nachdem wir uns umständlich begrüßt haben, „uns wäre es lieb, wenn Castro sich mit Amerika versöhnen würde. Wir werden sonst noch in Dinge hineingezogen, die wir nicht kontrollieren können. Denn von Kontrolle kann hier keine Rede sein. Auf der anderen Seite müssen wir Kuba unterstützen, wenn wir nicht die Sympathien der neutralen und der jungen Nationen verlieren wollen.“
„Politische Vorteile bringt es Ihnen doch“, sage ich.
„Quatsch! Castro ist eine Belastung und kein Triumph. Durch seinen radikalen Kurs verdirbt er unsere ganzen Pläne für Lateinamerika.“ Er schaut auf die Uhr. Schnell noch die Frage, die zur Plage geworden ist: „Würden Sie Kuba als kommunistisch bezeichnen?“ Er sucht einen Augenblick nach einer Formulierung, dann sagt er lächelnd: „Im Vergleich zu Kuba sind die Chinesen konservativ und wir Russen alberne Reaktionäre. Die Kommunistische Partei Kubas steht auf der äußersten Rechten der Revolution. Urteilen Sie selber.“
Damit läßt er mich stehen und verspricht mir eine längere Unterredung in den nächsten Tagen.
Sie wird nicht stattfinden. Denn wir haben die Nase voll von dieser Stadt, wo das Volk unbekümmert tanzt, wo geschossen wird und – erschossen. Wo einem die abgedroschenen Schlagworte des Kalten Krieges um die Ohren geschlagen werden, daß einem Hören und Sehen vergeht. Und alles im Rhythmus des Cha-Cha-Cha.
Die Schlacht um den Zucker wird zum Picknick. In sonntäglichem Ausflug ziehen die Städter mit Fahne und Machete, mit Kind und Kegel am Wochenende aufs Land, um den Bauern beim Schneiden des Zuckerrohres zu helfen. Sie folgen dem Aufruf Fidel Castros zur Steigerung der Produktion und ernten Blasen und blaue Flecke. Zucker ist die Plage der Insel. Ein Drittel der Weltproduktion kam aus Kuba. Das Zuckerrohr bedeckte drei Fünftel des bebauten Landes. Jedes Jahr von neuem bestimmte der Zucker – und er allein –, ob die Insel reich war oder arm. Heute versucht Kuba diesem Fluch des süßen Unkrauts zu entrinnen. Dazu mobilisiert Castro das ganze Volk. Er will einen großen Teil der Zuckerplantagen in Ackerland und Obstgärten verwandeln und endlich Pflanzen anbauen lassen, die den Kochtopf des Volkes füllen
Wir wollen sehen, was auf dem Land passiert, denn um das Land geht es doch bei dieser Revolution. Mit einem gemieteten Wagen machen wir uns auf den Weg, und schon beim Verlassen von Havanna gibt es die erste Überraschung: Wir werden nicht kontrolliert. In Europa wäre das normal. Aber hier, in einem Polizeistaat – so ist es ja überall zu lesen –, denkt man zunächst an Schlamperei. Das ist es nicht. Wir fahren zweitausendsechshundert Kilometer, schlafen in Städten und Dörfern, sprechen mit Bauern, mit Revolutionären und Rebellen, ohne daß jemals ein Polizist oder Soldat uns fragt, wer wir sind, was wir wollen, woher wir kommen. Denn auch wenn wir spanisch sprechen, wir sehen nicht wie Kubaner aus.
Das Fehlen jeglicher Kontrolle fällt um so mehr auf, als wir gerade aus Mittelamerika kommen. Von San Salvador bis nach Venezuela haben wir keine fünfzig Kilometer im Auto fahren können, ohne von der Polizei angehalten und ausgefragt zu werden. Und das sind – soviel ich gelesen habe – keine Polizeistaaten, sondern mehr oder weniger liberale Länder, in denen die Regierungen reformwillig sind und das Volk ruhig.
Die nächste Überraschung stellt sich ein, als wir die Ergebnisse der Landreform an Ort und Stelle vergleichen mit den Behauptungen der gegenrevolutionären Propaganda oder mit den Erklärungen gewisser westlicher Diplomaten in Havanna. Zwischen zwei Cocktails und einem galanten Abenteuer entscheiden sie: „Die Leute verhungern, die Industrie steht still, die Landreform ist eine Pleite, achtzig Prozent aller Kubaner sind gegen Castro. Viertausend Rebellen sind in den Bergen.“
Beweise? Sie können keine bringen. Dazu fehlt die Zeit. Sie müssen schnell zurück ins Cocktail-Getto der feinen Leute:
Wir aber sind jetzt bei den „dreckigen Bauern“ und fragen: „Wieviel verdienen Sie?“
„Zwei Pesos achtzig (11,20 DM) am Tag.“
„Und vor der Revolution?“
„Manchmal 50 Cents, manchmal einen Peso oder sogar mehr. Aber es gab nie Arbeit fürs ganze Jahr. Höchstens für 4-5 Monate“
„Sind Sie ein freier Bauer?“
„Ich war nur Landarbeiter. Jetzt gehöre ich zu einer Staatsfarm.“
„Zufrieden?“
„Mit soviel Geld, das ich regelmäßig bekomme? Ohne Angst vor der Zukunft und mit einem neuen modernen Haus? Wie soll ich da nicht zufrieden sein?“
„Man hat mir gesagt, ihr bekommt euren Lohn in Form von Warengutscheinen ausbezahlt, die ihr in den Volkskantinen in Waren umtauschen müßt? Stimmt das?“
„Nein, wir bekommen alles in barem Geld. Hier.“ Er zieht strahlend dreißig Pesos aus der Tasche – 120 DM. „Das ist der Lohn der letzten zwei Wochen.“ Soviel Geld hat er früher nie auf einem Haufen gesehen.
Das ist ein Fall. Einer von zahllosen. Wir haben etliche hundert Menschen gefragt. Landarbeiter, freie Bauern, Mechaniker und Soldaten, Techniker und Chauffeure. Neunzig Prozent sind begeistert, weil sie glauben, am Aufbau ihrer neuen Zukunft zu arbeiten. Hier, hat man das Gefühl, wird die Revolution gemacht. Nicht in Havanna. Hier entstehen Straßen, Dörfer, Fabriken – ja ,Fabriken, die unter Batistas Diktatur stilllagen, arbeiten wieder. Hier wird die Landwirtschaft neu aufgebaut, um der Sklaverei des Zuckers zu entrinnen.
Dieser Zucker, auf den ersten Blick alles Gold und aller Reichtum der Insel, war das Krebsgeschwür der kubanischen Wirtschaft und Politik.
Warum? Über 90 Prozent des kubanischen Exports bestanden aus Zuckerlieferungen. Die Amerikaner kauften diesen Zucker weit über dem Weltmarktpreis. Sie taten das nicht, um Kuba einen Gefallen zu tun, sondern um die eigene Zuckerrübenproduktion vor dem Ruin zu bewahren, zu dem die Einfuhr des Kuba-Zuckers zu den niedrigeren Weltmarktpreisen geführt hätte. So entstand die berühmte Zuckerquote, von der jeder kubanische Großgrundbesitzer träumen mußte; er bekam hohe Preise und hatte hatte feste Abnehmer. Das Großkapital stürzte sich auf den kubanischen Boden, und das Zuckerrohr überwucherte wie Unkraut die ganze Insel.
Das Ergebnis? Kuba mußte Lebensmittel und Industriegüter gegen Dollar einführen und befand sich wirtschaftlich völlig in der Hand Washingtons.
Das soll jetzt anders werden. Man baut Tomaten an und Reis, Kartoffeln, Tabak, Korn, damit eines der landwirtschaftlich reichsten Länder der Erde nicht gezwungen ist, die einfachsten Lebensmittel gegen teure Devisen einzukaufen.
Natürlich gibt es auch in der Provinz Unzufriedene. Solche, denen es zu langsam geht oder zu schnell. Zu radikal oder zu weich. Kleinbauern, die nicht mehr das Risiko der Selbständigkeit tragen wollen, sondern den sicheren Lohn der Staatsfarm vorziehen und um Aufnahme bitten.
Die Verantwortlichen sagen „Nein“. Kollektiviert wird nur dort, wo es unbedingt nötig ist. Freiheit gibt man nicht auf aus Bequemlichkeit.
Schülerinnen ziehen die „Schlacht der Erziehung“,
wie man hier sagt. In einem Jahr soll jeder Kubaner lesen können
Wer Castro sehen will, muß Geduld haben. Die Kubaner harrten sieben Stunden aus; er sollte die „Königin der Schulkinder“ krönen. Am Ende kam er gar nicht. Westlichen und östlichen Diplomaten geht es nicht viel besser
Immer wieder stoßen wir auf diese totale Ablehnung jeglicher Dogmatik. Wo ist das System? Ich will es endlich wissen, ich frage frei heraus:
„Sagt mal, seid ihr Kommunisten?“ Schallendes Gelächter.
Ich muß muß meine Frage wiederholen, um zu beweisen, daß ich es ernst meine.
„Natürlich nicht, könnt ihr denn gar nicht begreifen, daß ein Drang zur sozialen Gerechtigkeit nicht unbedingt ein Bekenntnis zu Marx und Lenin bedeutet?“
Der Mann, der das sagt ist der Verantwortliche für einen der 29 Agrarbezirke, in die Kuba jetzt aufgeteilt ist. Er war mit Fidel Castro in denBergen. Sein Bart steht immer noch, denn die Revolution ist noch nicht zu Ende.
„Auf dem Lande werden sie keine Kommunisten finden. Die sitzen in Havanna. Keiner von ihnen war mit in den Bergen. Das sind Zuläufer der letzten Stunde, die jetzt den Ton angeben wollen. Aber das wird nicht lange dauern. Wenn unsere Arbeit hier weiter fortgeschritten ist, werden wir alle nach Havanna gehen und Fidel helfen, den Stall zu säubern. – No, Señor, wir sind alles andere als Kommunisten.“
„Warum dann das Zusammengehen mit Rußland und China?“
„Hat man uns denn eine andere Wahl gelassenIn dieser Gegend der Welt ist es unmöglich, die soziale Struktur zu ändern und die Wirtschaft auf die Bedürfnisse des eigenen Volkes abzustimmen, ohne mit dem amerikanischen Großkapital in Konflikt zu geraten. Das ist nun leider so.Wir haben keine Revolution gegen Batista gemacht, um uns an seiner Statt die Taschen zu füllen. Nach Fidels Sieg glaubten viele, er würde unter dem Mäntelchen der Demokratie so weitermachen, wie es bisher in Lateinamerika nach jeder Revolution üblich war. Als Fidel aber die Landreform befahl und damit zeigte, daß er es ernst meinte, liefen die Lauwarmen davon, und die Amerikaner zeigten die Zähne.
In diesem Moment gab es nur zwei Wege für uns: dem amerikanischen Druck nachzugeben – und damit die Revolution zu verraten – oder Rußlands Hilfe anzunehmen.Das belastet die Revolution zwar auf auf internationaler Ebene, gibt uns aber im Inneren des Landes die Möglichkeit, sie kompromißlos durchzuführen. Die Kommunisten werden wir schon los. Da können Sie Gift drauf nehmen. Und wenn Sie mir nicht glauben können, daß Fidel geradezu um amerikanisches Verständnis gebettelt hat, dann studieren Sie doch mal die Geschichte unserer Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. Sie werden finden, daß wir das Opfer des amerikanischen Wahlkampfes wurden. Und jetzt sollen wir dafür zahlen?“
Von diesem Mann haben wir gelernt: Die kubanische Wirklichkeit ist auf dem Lande und in den kleinen Städten. Nicht in der Hauptstadt, wo die politische Atmosphäre durch den Konflikt zwischen Ost und West vergiftet ist.
In den Provinzstädten patrouillieren Milizsoldaten. Sie spielen die Polizei. Sechszehnjährige Mädchen mit Maschinenpistolen, kleine Brigitte Bardots in enganliegenden Hosen regeln den Verkehr und erröten bis über die Ohren, wenn man sie um eine Auskunft bittet. Keiner fragt, woher wir kommen.
Auf den Landstraßen überholen wir hin und wieder kleine Milizeinheiten, die zu Übungen ausrücken. Sie tragen zusammengewürfelte Kleidung, die man ohne die Stiefel kaum als Uniform ansehen würde. Sie tragen Bärte, Perlenketten und Rosenkränze mit großen Kreuzen, lange Haare. Von Gleichschritt kann keine Rede sein. Manchmal stimmt ein Bart einen Cha-Cha-Cha an, und der Marsch wird zum Tanz.
Ich habe alle Mühe, mir vorzustellen, daß wir es mit Kommunisten zu tun haben, die doch angeblich von roten in Instrukteuren gedrillt werden. Sie sehen nicht wie Militäreinheiten aus, sondern wie fröhliche bewaffnete Vagabunden oder bestenfalls wie zu schnell gewachsene Pfadfinder, die sich irgendwo Maschinengewehre geklaut haben.
Sie winken uns zu. Wir halten an. Jetzt erst fällt uns auf, daß ein Drittel der jungen Männer Neger* sind.
Im Nu sitzen wir alle im Straßengraben und diskutieren.
„Habt ihr Fidel gesehen?“ wollen sie wissen.
„Ja, im Hotel Havanna Libre. Er begrüßte die freiwilligen Lehrerinnen, die in die Dörfer gehen, um das Land zu ‚alphabetisieren’, wie ihr so schön sagt.“
„Auch wir sind freiwillige Lehrer“, sagt einer, der eine Kette aus bunten Muscheln um den Hals hängen hat. „Am Tag unterrichten wir Kinder und Erwachsene. Am Abend üben wir mit diesen Waffen.“
„Jeder Kubaner soll in einem Jahr lesen und schreiben können. Das will Fidel. Heute schon gibt es kein Dorf mehr ohne freiwillige Lehrer“, ruft ein anderer. Er ist schwarz. Ein großer Kranz bemalter Bohnen hängt auf seiner Brust. „Ganz Kuba soll sich bilden.“
Eine verfängliche Frage: „Warum?
„Um bessere Menschen zu werden“, sagt ein Neger* so schlicht, daß es mir den Atem verschlägt.
„Und um zu wissen, daß die Erde rund ist und sich dreht“, schreit ein kleiner Kerl dazwischen, der höchstens fünfzehn sein kann. „Man kann doch nichts werden, wenn man nichts weiß.“
„Wer ist euer Chef?“ frage ich.
„Ich“, sagt der Neger* und steht dabei unwillkürlich auf. Er schaute mich durchdringend an. Eine eigenartige Spannung ergreift die 25 Männer. Es wird still. Ich fürchte schon, daß ich einen Fehler begangen habe und daß nun unser Dialog zu Ende sein könnte. Endlich spricht der Neger* wieder.
„Verstehen Sie, warum ich Fidel liebe? Früher gab es Reiche, Arme und – Neger*. Heute sind wir alle gleich. Keiner dieser Männer fühlt sich gekränkt oder herabgesetzt, weil er einem Neger* gehorchen muß. Ein Viertel der Kubaner ist schwarz. Jetzt sind wir keine Neger* mehr. Wir sind alle Kubaner. In Ihrem Land ist das noch nicht so weit, da müssen die Schwarzen noch um ihre Rechte kämpfen.“
Ich protestiere. Bis ich herausfinde, daß man uns für amerikanische Touristen gehalten hat.
Für die farbige Jugend Kubas gab es vor Fidel Castro keine Zukunft. Man war reich, arm – oder Neger*. Heute sind alle gleich. Für diese Mädchen ist ihre Schönheit nicht mehr einziges Kapital
Während die Verbindung zwischen Washington und Havanna abgebrochen ist und nur noch Polemik die Zeitungen füllt, findet man es hier – wie überall während unserer Reise durch Kuba – ganz selbstverständlich, daß amerikanische Touristen die kubanische Landschaft bestaunen und mit Bauern und Soldaten vertrauliche Gespräche führen.Und dabei ist es so einfach“, sagt uns ein alter Universitätsprofessor den, wir in die Santa Clara aufsuchen, um alle unsere Fragen endlich stellen zu können. „Man muß sich nur einen Moment entspannen und nicht mehr nach schwarz-weißem Muster endgültige Urteile fällen. Das gilt für unsere Politik und unser Benehmen. Was hier passierte, ist nicht mit euren Maßstäben zu messen. Unsere Voraussetzungen sind vollkommen andere.
Nehmen wir die jungen Männer, denen ihr überall begegnet seid. Die kennen weder Friedrich den Großen noch Hitler oder Stalin und Jean-Paul Sartre. Das können also keine sowjetischen Pioniere sein, keine Hitlerjungen und keine französischen Halbstarken. Das sind kubanische Kinder, die mit unserer Geschichte und unseren Verhältnissen fertig werden müssen. Nicht mit euren.
Es sieht nicht militärisch aus – in eurem Sinne. Sie benehmen sich wie Verrückte – nach eurer Meinung. Sie sprechen einfältig oder überheblich – für eure Ohren. Für unsere Begriffe aber sind sie tapfere Kämpfer, disziplinierte Soldaten, verantwortungsvolle Menschen und liebenswerte Jungen.
Der neue Stil: Verzicht auf die engen Röcke, zu hohe Absätze, zu verführerisches Lächeln, auf alles, was die Frauen lieben, ist auch eine Art, Revolution zu machen. Die Mädchen der Miliz und die freiwilligen Lehrerinnen gleichen heute in Kuba einer Mischung zwischen bärtigen Rebellen und Brigitte Bardot. Aber diese Existentialisten in Uniform wohnen nicht in Kasernen. Da ist keine Touristen gibt, hat man sie in den Luxushotels von Havanna untergebracht, wo ein Einzelzimmer früher dreißig Dollar kostete
Der alte Stil ist nicht tot. Auch heute noch vertreten die kubanischen Frauen offen ihren Anspruch auf Weiblichkeit: Am Tage läuft man mit einer Krone von Lockenwicklern herum, um abends, wenn man ausgeht, die Schönste zu sein. Und noch mehr: Die Röcke dieser Kubanerinnen sind so enganliegend, so kurz, daß kein Mann hinschauen kann, ohne verlegen zu werden oder zu erblassen. Sollten die Amerikaner so böse sein, weil ihnen solche Ausblicke jetzt verwehrt sind? Washington hat Touristenreisen nach Kuba verboten
Hier liegt doch die Tragik des Westens und der kommunistischen Welt. Jedesmal, wenn eine der hungrigen Nationen auf die Weltbühne tritt, steht ihr etwas vollkommen Neuem gegenüber, dessen Wille und Ideen, Handlungen und Reaktionen ihr in eure Schablonen zwingen wollt. Es klappte nur nicht. Alle Kategorien werden gesprengt, weil sie hier nicht hineinpassen. Ihr reagiert mit Mitleid oder Verachtung. Die neuen Staatswesen reagieren darauf mit Revolte. Ihr müßt versuchen zu verstehen, oder – ihr werdet Krieg führen müssen.“
„Muß das so sein?“ frage ich.
„Unser Konflikt mit Amerika ist ein Schulbeispiel“, sagte er leise. „Es ist eine Kette von Mißverständnissen, die unweigerlich zur Katastrophe führen müssen. Verstehen Sie mich bitte recht: Es geht hier nicht um Schuld, denn es ist ganz ausgeschlossen, daß Männer von der Qualität eines Kennedy oder Castro bewußt Böses wollen. Es geht um Situationen, die solche Männer zu Gefangenen machen. Kennedy steht unter dem ‚Fluch der Freiheit’ und den Fehlern seiner Vorgänger. Castro steht unter dem Zwang kompromißloser Gerechtigkeit. Und über beiden steht der Wettkampf zwischen Ost und West, der seine eigenen Spielregeln hat und zu dümmsten Vereinfachungen zwingt.“
„Was meinen Sie mit ‚Fluch der Freiheit’?“ unterbreche ich.
„Das ist eines der Probleme, die dem Westen in den nächsten Jahren zu schaffen machen werden. Nehmen wir das kubanische Beispiel. Castro wollte die Macht des amerikanischen Big Business einschränken, um Herr im eigenen Land zu werden. Nehmen wir an, Eisenhower wäre weitsichtig genug gewesen, um die Forderungen Castros anzuerkennen. Wie hätte er es machen können? Er konnte das private Kapital der USA nicht zwingen, seine kubanischen Interessen kampflos aufzugeben. Denn in einem freien Land kann jeder tun und lassen, was er will, solange er nicht gegen die Gesetze verstößt. Die großen Gesellschaften konnten also Public-Relations-Büros bezahlen, um die öffentliche Meinung gegen ihren Feind Fidel Castro zu mobilisieren. Er ist Kommunist, schrieb man, er erschießt am laufenden Band, und wir können es nicht hinnehmen, daß er Sowjetrußland die Tür zu unserer westlichen Hemisphäre öffnet.
Große amerikanische Zeitungen wie Look und die New York Times stellten sich gegen die Flut. Männer wie Alsop, Lippmann, Whright, Hills warnten. Aber es half nichts. Die öffentliche Meinung machte ihrerseits von ihrem Recht Gebrauch, die Politik der Regierung zu bestimmen. So wurde das State Department der Verteidiger des Big Business. In den interamerikanischen Beziehungen ist es nie anders gewesen.“
„Hätte Castro sich mit den Amerikanern verständigen können?“ frage ich.
„Mit der Regierung vielleicht. Mit den großen Konzernen nie. Sie waren bereit, ihm kleine Sozialreformen zuzugestehen. Aber ‚Reförmchen’ führen hier zu nichts.“
„Warum?“
„Mein lieber Freund, das wäre ungefähr so, als wenn Sie einen Haifisch höflich bitten würden, Vegetarier zu werden. Alle Entscheidungen, die zu wirklichen Reformen führen, müßten von denen gefällt werden, deren persönliche Interessen als erste betroffen würden: die der Leute an der Macht. Und das amerikanische Kapital, das sie stützt. Können Sie sich unter diesen Umständen echte Reformen vorstellen?“
„Schwer“, muß ich gestehen. „Ich kenne noch keinen Fall von Selbstmord aus Nächstenliebe.“
„Also kann nur die Revolution zum Ziele führen. Das gilt nicht nur für Kuba. Das gilt für ganz Mittelamerika, wo ähnliche Zustände herrschen wie hier vor Castro. Wenn Präsident Kennedy wirklich neue Lösungen sucht, dann bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Revolution zu unterstützen oder wenigstens zu dulden. Damit dient er natürlich nicht den großen Gesellschaften – aber er gewinnt Freunde. Und darum geht es doch heute.“
Mit der mißglückten Invasion Kubas hat sich Amerika sicher keine Freunde erworben. Wenigstens nicht dort, wo es darauf ankommt. Die lateinamerikanischen Völker werden sich sagen müssen, daß die neuen Männer in Washington vielleicht großzügig planen, wenn es um Laos oder Guinea geht, und selbst China gegenüber eine neue Haltung einnehmen. Für die Nachbarn hat sich jedoch nichts geändert. Hier herrscht immer noch das Big Business.
Die Aktion gegen Fidel Castro diskreditiert die Vereinigten Staaten für lange Zeit vor den fortschrittlichen Kräften Lateinamerikas und den übrigen unterentwickelten Erdteilen.
Für Mittelamerika wird Castro jetzt erst recht zum Messias, Präsident Kennedy aber nicht mehr als zu einem zweiten Eisenhower.
*Anmerkung : Der Begriff Neger/Negerin wird aus dem Originaltext beibehalten. Diese Bezeichnung war damals ohne Abwertung als Fremd- und Selbstzuschreibung geläufig.