Zwischen Kennedy und Castro
Stern, Heft 20, 14. Mai 1961
„He Mister, Sie brauchen einen Führer durch Haiti.“-
„He Mister, Sie brauchen einen Hut.“-
„Schöne Mahagoniteller bitte, Hand gemacht“ –
„Mister, kommen Sie mit mir, ich hab‘ sehr schöne Schwester.“ –
„Ich hab‘ kleinen Bruder, Sir.“-
„Gib mir einen Nickel, Johnny.“ –
„He Mister, ich kenne die Schönsten in ganz Port-au-Prince, hier …“
In der knochigen schwarzen Hand, die sich vor meine Augen schiebt, liegen drei nackte Negerinnen* auf einer Strohmatte und zeigen ihre weißen Zähne in einem verkrampften Lachen. Das Foto ist abgegriffen und zerfetzt. Es sieht ebenso alt aus wie der hagere Neger*, der es mir zeigt.
„Die sind jetzt sicher schon Großmütter“, versuche ich zu scherzen.
Alle lachen. Alle. Das sind zehn bis zwölf Neger* in bunten Hemden und malerischen Strohhüten, die sich stoßen und drängen, um mir ihre Waren anzubieten.
„Aber Monsieur“, ruft einer, „Sie sprechen ja französisch wie wir.“
„Hätten gleich sagen sollen, daß sie kein Amerikaner sind. Franzosen kriegen alles billiger als die Yankees.“
„Sogar die Großmütter“, schreit der Alte und schiebt mir wieder seine Hand unter die Nase.
„Les français aiment l’amour – Franzosen lieben die Liebe“, ruft einer, der elf Hüter auf dem Kopf trägt und seine Worte lachend mit unanständigen Gesten unterstreicht.„Haitianer auch.“ –
Die Stimme ist ernst. Sie gehört einem jungen Neger*. Mit seiner dicken Hornbrille und den feinen Gesichtszügen scheint er der Intellektuelle dieser Gruppe zu sein. Er war es, der sich mir als Fremdenführer angeboten hatte. „Was bleibt uns dann sonst vom Leben übrig, Monsieur?“
Seine kurzsichtigen Augen flackern unruhig. Plötzlich reißt er dem Alten das Foto aus der Hand und schlägt darauf herum, als wolle er die Mädchen prügeln.
„Eine Negerin*. Was? Das faßt ihr zu Hause nicht an. Das könnte abfärben. Man hat Angst. Vor der Polizei. Vor der Frau. Vor der Braut. Aber hier. Warum nicht? Hier kann man mal im Dreck wühlen. Es sieht ja kein Mensch. Es sehen ja nur Neger*.“
„Ta gueule – Halt’s Maul“, ruft einer dazwischen, der in beiden Armen riesige Ebenholzfiguren trägt. Erbärmliche Imitationen afrikanischer Masken. „Monsieur ist doch kein Amerikaner. Der spricht französisch. Franzosen scheren sich einen Dreck um die Farbe.“
Der junge Mann nimmt seine Brille ab, putzt sie mit ungeschickten Bewegungen an seinem Hemd. „Aber ich konnte das nur auf Französisch sagen. Begreif‘ doch. Wer kann schon genug Englisch, um einem Yankee ins Gesicht zu spucken.“ Er gibt dem Alten das Bild zurück und bahnt sich einen Weg durch die lachenden Männer.
Und es geht wieder los:
„Kauf einen Hut, Monsieur.“ –
„Ein paar Teller.“- „Drei Großmütter, haha.“- „Komm mit mir, Joe.“
Ich will gerade erklären, daß ich kein Tourist bin, als ein Stock – ein Mahagonistock, wie ich später feststelle – durch die Luft saust, um mit dumpfem Knall auf der Schulter eines der Männer zu landen. Die Holzteller fallen aus seinen Armen und rollen klappernd hinter den Negern* her, die Reißaus nehmen.
Neben mir steht jetzt ein Mann in Khaki-Reithosen, blitzenden Stiefeln und perfekt geschneidertem Militärrock. Über seinem schwarzen Gesicht sitzt ein Stahlhelm mit der Aufschrift Police – Polizei.
„Wir Zivilisierten“, sagt er gelassen, und meint wahrscheinlich damit sich und mich, „müssen auf der Hut sein, sonst treibt dieses Gesindel noch den letzten Touristen von der Insel.“
Er blickte nachdenklich auf seinen Mahagonistock. „Es ist nicht leicht, diese Kerle zu zivilisieren. Es sind so viele.“
„Es scheint ganz Haiti zu sein.“
Er hat den spöttischen Unterton nicht bemerkt. Die haben keinen Pfennig. Von Erziehung gar nicht zu reden. Wenn die in ihren Dörfern nichts mehr zu fressen haben, kommen sie in die Stadt und leben hier wie Vieh.“
„Vielleicht suchen sie Arbeit.“
„Natürlich suchen sie Arbeit. Aber es gibt keine. Darum sollten sie zu Hause bleiben und sich dort begraben lassen, wo Gott sie zur Welt kommen ließ.“
Er hebt wieder seinen Stock. Wie ein Schulkind, das sorgfältig ein Landschaftsbild nachzeichnet, umreißt er langsam den Horizont von Port-au-Prince.
Halbinsel Haiti. Erste selbstständige Neger*republik der Welt. Vier Millionen Einwohner. Eines der ärmsten Länder der Welt: Jahreseinkommen pro Kopf 200 Mark. Die Regierung hofft auf Kennedy, dass Volk auf Castro
„Schauen Sie, wie meine Hauptstadt daliegt. Eine schillernde Perle im Leib einer tiefgrünen Muschel. Ihre Lippen küßt zärtlich das Karibische Meer. Ihren Rücken streicheln die Palmen, die wie Regentropfen an den Bergen hängen. Ist dies nicht das Paradies?“
„Donnerwetter, Sie hätten Fremdenführer werden sollen.“
„Ich bin Dichter“, sagt er stolz. „Wenn man das Glück hat, im Paradies zu wohnen, muß man seine Schönheit besingen. Hier …“
Schon wieder wird mir etwas unter die Nase geschoben. In Haiti hat anscheinend jeder etwas zu verkaufen. Diesmal ist es eine dünne Broschüre in schmutzig-gelbem Papier.
„Meine Werke“, sagt der Polizist mit einer Stimme, die keinen Widerspruch kennt. „Das kostet einen Dollar. Mit Widmung 50 Cents mehr. Ich mache Ihnen diesen Sonderpreisen nur, weil Sie französisch sprechen.“
Schon zückt er seinen Federhalter – einen teuren Parker 61 -, aber ich komme ihm zuvor und lege eilig einen Dollar in seine offene Hand.
„Geschenk“, sagt er schmunzelnd und zeigt mir den Parker. „To my darling Pierre“, steht auf dem vergoldeten Kopf.
Dieses Symbol galanter Dankbarkeit einer einsamen Touristin scheint ihn zu inspirieren.
„Wenn nur diese Kerle nicht so hungrig wären. Es kostet viel Arbeit, sie im Zaum zu halten.“ Er betrachtet den Geldschein, den ich ihm gegeben habe. „Für einen Dollar würde jeder auf dem Mast eines Schiffes kopfstehen. Hungrige Augen erschrecken die Touristen. Hungrige Augen gehören nicht ins Paradies. Sie verstehen? Die Touristen bleiben aus. Angst vor Unruhen. Was sonst!“ Er klopft auf seine Pistole. „Aber wir sind auch noch da.“
Wir – damit meint er die Herren an der Macht, die Hüter ihrer Ordnung, die amerikanischen Waffen und die Mahagoniknüppel, von denen ausgiebig Gebrauch gemacht wird, um die Hungrigen in ihre Löcher zu treiben und das Paradies sicher zu machen für reiselustige Dollarspender.
Politik und krause Haare
Mein dichtender Paradieshüter scheint noch viel auf dem Herzen zu haben, aber mir genügt es. Als ich mich verabschiede, erstaunt er mich nochmals durch seine Vielseitigkeit.
„Wenn Sie sich abends langweilen, Monsieur, kann ich Sie führen. Il ya de très jolies filles ici. Nicht teuer. Man muß nur die richtigen Adressen kennen. Und mit mir sind Sie sicher.“
„Was, Monsieur l’agent, Sie auch?“
„Man muß leben, Monsieur …“
Und leben lassen, möchte ich ihm nachrufen. Aber wie sollte er mich verstehen. Der kleine Brillenträger hätte sofort begriffen. Es ist eben nicht dasselbe, ob man in den Lauf einer Pistole schaut oder am Drücker sitzt. Die Stellung bestimmt die Weltanschauung.
Ich habe kaum hundert Schritte gemacht, das starre ich selber in den Lauf eines Gewehrs. Den Drücker hält ein kleiner Neger* von vielleicht sechs Jahren, dem die Rotze bis zum nackten Nabel hängt.
„Geld – Yankee“, schreit er, „Geld, sonst tot.“
Sichtbar ist sein englischer Wortschatz damit erschöpft, denn er fängt immer wieder von vorne an. Nachdem ich beruhigt festgestellt habe, daß das Gewehr ein Blechrohr ist, interessiert mich nur noch sein Nabel, der sich wie ein gequälter Wurm aufwärts ringelt.
Das also ist ein Überlebender. Man hat mir erzählt, daß dreißig Prozent aller Kinder das erste Lebensjahr nicht erreichen. Sehr viele müssen schon in der ersten Woche sterben, weil ihre Mütter den offenen Nabel mit Erde beschmieren. Sie glauben, daß er dann besser abheilt.
„Mesdames, Messieurs!“ brüllt es plötzlich so laut durch die Straße, daß selbst mein kleiner Gangster zusammenfährt. „Meine Damen und Herren. Dies ist eine offizielle Bekanntmachung: Saboteure, Kommunisten und Verräter sind am Werk gegen die Interessen des Volkes. Präsident Duvalier, unser geliebter Landesvater, fordert alle zur absoluten Ruhe auf. Wer den Verrätern, Kommunisten und Vagabunden Gehör schenkt, stellt sich außerhalb des Gesetzes. Wer die Regierung kritisiert, macht sich strafbar. Im Interesse der allgemeinen Sicherheit bleiben Schulen und Universitäten bis auf weiteres geschlossen. Schluß der Bekanntmachung. – Aber vergessen Sie nicht das Wichtigste. Vergessen Sie nicht ihr Äußeres. Jean Jolie Flœur bügelt ihre Haare mit künstlerischer Vollkommenheit. Jean Jolie Floeur ist der Besieger des krausen Haares. Drei Monate Garantie. Ja, kommen Sie zu Jean Jolie Flœur, und Sie werden ein neuer Mensch.“
Der alte Ford rattert müde an mir vorbei. Auf seinem Dach preisen die Lautsprecher jetzt ein Parfum an, das Männer anzieht und Mücken in die Flucht gejagt. Wenn es Frauen bestricken würde und Männer abstoßen könnte, käme so was für mich in Frage. Denn in Port-au-Prince scheinen gewisse Grenzen recht elastisch zu sein.
Ich könnte mir auch vorstellen, daß solche Wagen, von der Regierung geschickt, in den Dörfern Haitis Wunder wirken. Sie brauchten nur zu grölen, daß Dreck, auf offenem Nabel, Wundbrand erzeugt. Aber ich vergesse: Es gibt kaum Straßen. Und wen könnte die Kindersterblichkeit schon interessieren? Für manche sterben immer noch nicht genug Kinder. Man kann ohnehin kaum mit den vier Millionen Mäulern fertig werden, die nach Reis und Arbeit schreien.
Als ich einen Nickel aus der Tasche ziehen, sehe ich nur noch eine Hand, die blitzschnell danach schnappt. Da klemmt der kleine Neger* das Blechrohr zwischen die Beine und reitet davon wie ein Hexenlehrling, dem das Meisterstück geglückt ist.
Das Zentrum von Port-au-Prince gleicht einem Ameisenhaufen. Man kann keine fünf Schritte tun, ohne einen Bogen schlagen zu müssen. Überall sitzen Frauen und Kinder hinter erbärmlichen Waren, die sie zum Verkauf anbieten. Männer schleppen Lasten oder rufen Nägel, Nüsse, Bananen, Strohdecken aus. Das ganze Land scheint hier versammelt, um einen Karneval des Handels zu feiern.
Es wird gescherzt, geflirtet, gelacht oder einfach hinter der Auslage von sieben Abziehbildern und drei Lockenwicklern geschlafen. Der Humor dieser Neger*, die Fantasie in Kleidung und Haltung lassen fast vergessen, daß dieser improvisierte Riesenmarkt die Endstation der Armut ist. Hier warten jene, die von ihrer Arbeit nicht satt werden. Hier hoffen sie auf einige Pfennige. Hier ist das Vorzimmer zur Bettelei.
Dieser Markt reicht nicht nur von einer Ecke der Stadt zur anderen. Er überzieht das ganze Land. Wo auch immer die Chance besteht, daß ein Mensch vorbeikommt – und sei es im letzten Winkel der haitianischen Berge – dort sitzt eine Frau oder ein Kind und bietet etwas an. Was? Ein Ei, zwei Bananen, ein Hemd, das man billig erworben hat, und hofft, mit Gewinn – Cents, die man an einer Hand abzählen kann – weiterzuverkaufen. Leere Büchsen, eine Eidechse (zum Essen) oder Kräuter gegen Bandwürmer und Fußgeschwüre, alles wird hier zur Handelsware.
Viele dieser Menschen machen dreißig Kilometer am Tag zu Fuß, um einen Groschen nach Hause zu bringen. Es sind alles Bauern. 95 Prozent aller Haitianer sind Bauern. Aber sie sind genauso unfrei wie ihre Großväter, die auf Sklavenschiffen hier ankamen.
Der Markt brennt oft. Ein Funke genügt, um diese erbärmlichen Holzhütten in Brand zu setzen. Der vorige Präsident wollte Abhilfe schaffen und befahl den Bau einer Markthalle (im Hintergrund). Aber bevor sie fertig war, wurde er gestürzt. Und sein Nachfolger dachte nicht im entferntesten daran, ein Werk zu beenden, das dem Vorgänger Ehre macht. In Haiti ist alles politisch
Haiti wurde 1492 von Columbus entdeckt. Mit ihm kamen die Spanier, dann die Franzosen. In der Rekordzeit von nur 80 Jahren hatten die Spanier die Eingeborenen, damals Indianer, bis zum letzten Mann ausgerottet. Diese zivilisatorische Großtat hatte jedoch einen Nachteil. Es fehlten nun die Arbeitskräfte. So brachte man schwarzer Muskeln über den großen Teich, was nebenbei zum einträglichen Geschäft wurde.
Mittlerweile hatte man auch gelernt, daß ein schwarzer Arbeiter ein Kapital ist. Man trieb die Sklaven also nur noch selten über die Grenzen ihrer Widerstandskraft an – wie man es kurzsichtiger Weise mit den Indianern gemacht hatte – sondern studierte wissenschaftlich, wieviel jeder arbeiten konnte und essen mußte, um nicht vor die Hunde zu gehen.
Nach der ersten Erkenntnis kam die zweite: Je stärker die Neger* sind, umso mehr können sie leisten. Kluge Köpfe machten sich also daran, ein regelrechtes Zucht- und Brutsystem zu erfinden. Die erste Sorge galt der Frau – wie dem Huhn bei der Eierproduktion. Man stellte fest, daß die meisten Negerinnen* steril ankamen und erst nach zwei bis drei Jahren neue Sklaven zur Welt bringen konnten. Der Grund: das Trauma der Gefangennahme und die schlechte Behandlung an Bord der Schiffe.
Reklamationsbriefe gingen an die Jäger und Händler in Afrika. „Wir nehmen keine beschädigte Ware mehr. Bitte Vorsicht beim Verladen.“ – So fuhren die Negerinnen* nicht mehr im Frachtraum, sondern im Zwischendeck und lieferten pünktlich ihre kleinen Neger*.
Jedes System drängt von sich aus nach Rationalisierung und Perfektion. So auch dieses. Die Qualität war gut. Die Zahl aber immer noch unter den Erwartungen. Woran lag das? An den Männern. Sie waren zu müde. Man erfand also die ersten sozialen Maßnahmen: Ruhestunden, ein wenig Musik, kleine Feste. Man ließ auch seine eigenen Söhne großzügig und ohne jedes rassische Vorurteil mit den jungen Negerinne* spielen. Die Farbe war zwar nicht mehr so rein schwarz, aber die Produktion stieg.
Wer Geld hat, fühlt sich als Weißer
Als man endlich auf die Idee kam, für jedes Kind einen Preis auszusetzen ( wir haben es offensichtlich mit den Anfängen des Kindergeldes zu tun ), war das Ziel erreicht: Man konnte endlich die kostspielige Einfuhr abstellen. Die Zucht war geglückt. Man hatte kräftige „hausgemachte“ Sklaven.
Aber da Undank nun einmal die Welt Lohn ist, jagten die Neger* die Weißen aus dem Land. „Es gibt keine Gerechtigkeit“, schrien die. „Vergeßt doch nicht, was wir für euch getan haben.“
Aber es half alles nichts. Die Köpfe rollten, bis kein Weißer mehr auf der Insel war. So schufen 1804 Sklaven die erste Neger*republik der modernen Geschichte.
Sie sprengten ihre Fesseln, aber sie wurden nicht frei. Da sie nur ein Vorbild kannten – ihre früheren Herren – ahmten sie diese nach. So taumelten sie vom Absolutismus in die Anarchie, von liberalen Experimenten in die Tyrannei. Schwarze Herren herrschten wie einst die weißen. Und als endlich die Wahlen Mode wurden, erkaufte man, was man früher erzwang. Ignoranz und Armut blieben nach wie vor die besten Verbündeten der jeweiligen Macht und wurden als solche gepflegt, wie einst die Muskeln der Sklaven.
Männer wollen spielen. Der Hahnenkampf kommt direkt nach der. Im ganzen karibischen Raum ist er der Nationalsport des Volkes. Es wird gewettet, gestritten, erstochen. Meistens sind es Bauern, die hier ihre letzten Pfennige verspielen oder einen mageren Gewinn sofort in Rum umsetzen. „Wenn man arm ist, muß man spielen, tanzen, trinken, um ein Herr zu sein.“ Bauern können hier nicht, wie bei uns, von ihrem Land leben. Wenn Sie Glück haben, gehören Ihnen zwanzig Quadratmeter Erde, vier Kaffeebäume oder zwei Palmen. Manche besitzen nur den Ast eines Baumes, der auf diese Weise unter fünf Familien aufgeteilt wird. In Haiti ist das Land so zerstückelt, daß nur die Zwischenhändler davon leben können
Frauen müssen arbeiten. Um den willkürlichen Preisen der Großhändler zu entgehen, schleppen sie, wo immer es möglich ist, ihre Waren selber auf den Markt. Sie improvisieren Verkaufsstände, und sei es auf den Schienen der Bahn. Ich habe noch nie ein Land gesehen, in dem alle Tätigkeit so ausschließlich von Frauen ausgeübt wird. Sie graben und sie säen, sie pflanzen und sie ernten. Sie sind Lasttiere und Händler zugleich. Und wenn die Männer ihrer Kinder trotz aller Mühe leer bleiben, opfern sie sich selbst
Heute herrscht das Heer. Es wird von Präsident Duvalier kontrolliert und von amerikanischen Offizieren gedrillt. Die Tendenz ist faschistisch. Die Zukunft schwarz.
Warum, fragt man sich, mußte der heroische Aufstand der Sklaven in einer Katastrophe enden? Warum wurden befreite Sklaven zu Bettlern?
„Weil es hier nie einen Fidel Castro gegeben hat.“ So oder ähnlich wird hier jedes Mal geantwortet. Jeder zweite, wenn er überhaupt wagt, über Politik zu sprechen, kann sich keinen anderen Weg aus dem Elend vorstellen als eine Revolution à la Castro. Nicht nur die Intellektuellen, auch das Volk. Es genügt, daß Castros Bild in der Wochenschau erscheint, um einen Sturm der Begeisterung auszulösen, gegen den die Polizei machtlos ist.
Wenn auch die haitianischen Analphabeten ( 90 Prozent der Bevölkerung ) unfähig sind, die kubanischen Umwälzungen zu analysieren und wenn ich auch selten jemanden getroffen habe, der zwischen einer landwirtschaftlichen Genossenschaft und einer Staatsfarm unterscheiden konnte, oder auch nur wusße, was Nationalisierung bedeutet, so ist doch die Faszination enorm, die Fidel Castro auf diese Menschen ausübt.
„Einfache Leute wollen gar nicht verstehen“, sagt mir ein Volksschullehrer. „Ein wenig Hoffnung genügt ihnen. Fidel ist der Messias. Gegen ihn ist Christus ein blasser Heiliger geworden, von dem die Reichen predigen und hinter dem sie sich verstecken. Castro jagt die Reichen aus dem Paradies und schenkt es den Armen. Es gibt keinen anderen Mann in ganz Lateinamerika, der in unserem Namen spricht und uns Arme verteidigt. Das allein genügt, um eine Welle der Sympathie in Bewegung zu setzen, die nicht mehr aufzuhalten ist. Lateinamerika zählt 200 Millionen Einwohner. Davon sind 170 Millionen arme, verhungerte, ausgebeutete Menschen, die keine Hoffnung hatten, bis Fidel Castro kam. Vergessen Sie das nie …“
Ein Chauffeur erklärt es mir: „Warum ich Fidel liebe? Aber Monsieur, das ist doch einfach. Schauen Sie mich an. Pechschwarz. Vor Fidel gab es in Kuba Reiche, Arme und Neger*. Fidel aber hat gesagt: Alle sind gleich. Die Schwarzen dürfen jetzt in die gleichen Bars gehen wie die Weißen. Sogar in die Casinos. Und arbeiten. Dabei gibt’s gar nicht viele Neger* in Kuba; Nur ein Viertel. Hier in Haiti sind sie alle Neger*; selbst die fetten Politiker und Geschäftsleute. Aber glauben Sie ja nicht, daß die sich als Schwarze fühlen. Die sind weiß. Ja, Monsieur, wer Geld hat, ist weiß, wenn sein Gesicht auch genauso schwarz ist wie meines.“
Jedes Mal, wenn wir mit der dünnen Oberschicht Haitis in Berührung kamen, mußten wir feststellen, wie recht dieser Mann hatte. Ihre Haltung wird nur von einem Wunsch bestimmt: nicht nicht mit dem Volk identifiziert zu werden, das sie regieren und von dem sie leben. Sie, die emanzipierten Neger*, fühlen sich als „weiße“ Herren. Sie sind von der panischen Angst besessen, mit jenem abergläubischen, unwissenden Volk verwechselt zu werden, das am Rande und außerhalb der Hauptstadt lebt. Um der Cadillacs würdig zu sein, der Klimaanlage und der Botschaftsempfänge, meinen sie, nicht zu einer afrikanischen Welt gehören zu dürfen. Ihre Furcht, nicht „weiß genug zu sein“, treibt sie zu einer dauernden Flucht aus ihrer geistigen Heimat. Das geht soweit, daß sie es ablehnen, zu helfen und zu erziehen; denn je größer ihr Abstand vom Volk wird, umso mehr fühlen sie sich „weiß“.
Ein Student zeigt er stolz seinen Bart. Er (der Bart) liegt in der Schublade eines Nachttisches. Echte schwarze Stoppeln liegen auf dem Kinn eines Porträts, in dem ich den Studenten als Kind erkenne.
„Ich lasse den Bart immer 3-4 Tage stehen, rasiere mich dann trocken und sammle die Stoppeln“, meint er.
„Männlichkeitskult oder Masochismus?“
Ich wußte gar nicht, daß schwarze Augen so böse blicken können.
„Fidelismus, wenn Ihnen das etwas sagt“, zischt er. „Als Fidel in die Berge ging, schwor er, seinen Bart so lange stehen zu lassen, bis sein Land frei würde. Ich tat das gleiche Gelübde. Viele Studenten schworen. Die Faschisten bekamen Angst; die Bärte wurden verboten.“
„Aber warum dieser heimliche Stoppelkult?“
„Irgendwo braucht jeder einen Altar für seinen Glauben. Ein Nachttisch ist genauso gut wie eine Kirche, wie ein Eisschrank oder wie Hammer und Sichel. Ich halte meinen Schwur: Der Bart wächst hier, in dieser Kiste, bis mein Land frei ist.“
Der Bart ist ihr Symbol der Hoffnung
Er blickt spöttisch auf mein amüsiertes Gesicht.
„Ich weiß, was sie denken: Kinderreien! Billige Romantik!“ Er reckt seine zwei Meter stolz in die Höhe.
„Es ist unnütz, von einem Bürger der reichen Welt Verständnis zu erwarten. Wir betteln auch nicht mehr darum. Wir bedauern euch. Für was kann man bei euch noch sterben? Für den Fernsehapparat, die gesicherte Stellung, die wohlklingende Visitenkarte. Welches Ziel bietet man der Jugend, außer der Karriere? Das Rennen nach dem gesicherten Lebensabend beginnt in der Wiege. Brr – lieber gleich verrecken.“
Er hat die Schublade zugeschlagen, dasßdie Stoppeln fliegen und stampft im Zimmer auf und ab.
„Fidel hat uns ein Ziel gesteckt. Eine Mystik vorgelebt, die seit Jahrhunderten zum Ausbruch drängte. Er hat nicht nur geredet, er hat auch gehandelt und schlägt sich jetzt verzweifelt gegen eine Übermacht von Feinden. Gegen alle, die uns bis jetzt die Freiheit verweigerten. Er ist nicht das, was der Westen aus ihm gemacht hat. Er ist und bleibt, ob siegreich oder geschlagen, ob lebendig oder tot, der reinste Ausdruck des lateinamerikanischen Drangs nach Freiheit.“
Ich frage mich, ob ich den Westen hier verteidigen soll. Hatte es Zweck? Mir fällt nichts Besseres ein, als einige Worte über unsere Konzeption der Freiheit zu sagen. – Die Art, wie der Riese mich anschaut, beweist, daß ich daneben gehauen habe.
„Freiheit“, schreit er, „bei euch gibt es keine Mystik mehr, außer die Sicherheit. Eure Sicherheit, genannt ‚Freiheit made in Europe‘. Im Namen der Sicherheit wird getreten – nach unten. Geschossen – nach allen Seiten, wird Wohltätigkeit geübt, wo es brennt. Nachdem ihr uns getreten und erschossen habt, wollt ihr unsere Mäuler jetzt mit Almosen vollstopfen, damit wir nicht mehr nach Freiheit schreien können. Wir sind nicht nur hungrige Bäuche, die man kaufen kann, wir sind Menschen.“
Als ich aus dem Hause trete, streckt sich mir eine Hand entgegen, in der ein Stück Holzkohle liegt. Ein vielleicht zwölfjähriges Mädchen bittet mich, die Kohle zu kaufen. Ich bin so in Gedanken versunken, daß sich die Hand einfach wegschiebe. Einige Meter weiter ist sie wieder da.
„Holzkohle, Mister, fünf Cents.“
Das Stück Kohle ist nicht einmal groß genug, um eine Tasse Kaffee zu wärmen. Ich gehe weiter. Plötzlich versperrt mir das Mädchen den Weg. Sie zeigt nicht mehr die Holzkohle. Sie deutet auf sich:
„Amour, Mister. Take me – 25 Cents.“
Touristen sind neben dem Kaffee, die Haupteinnahmequelle Haitis. Sie kommen in Scharen auf Kreuzfahrten und gehen schnurstracks in die Geschäfte, wo Whisky, Strohteppiche und Stoffe billiger sind als in den Vereinigten Staaten. In Port-au-Prince hat jeder etwas zu verkaufen: Rumbarasseln, Halsketten aus Bohnen, selbstgemachte Strohhüte, Holzteller, gute Adressen. Es ist nicht einfach, durchzukommen
Polizisten sorgen für die Ruhe. Sie benutzen da zu lange Knüppel aus Mahagoni Holz, die recht weh tun. Seit die sozialen Spannungen überall im karibischen Raum zu Unruhen geführt haben, ist es im Ferienparadies der Amerikaner nicht mehr geheuer. Wenn die Haitische Regierung nicht die letzten Devisenbringer verlieren will, ist sie gezwungen, den Touristen wenigstens das Gefühl der Sicherheit zu geben
Wir sind mit einem Führer der geheimen Opposition verabredet. Er lebt versteckt. Wir müssen also vorsichtig sein und spielen gewissenhaft Räuber und Gendarm, was in Haiti gar nicht so einfach ist; wie sollen Weiße unbemerkt bleiben, wenn alle anderen schwarz sind? Wir haben es trotzdem geschafft und sitzen in einer zerfallenen Hütte am Rande der Stadt einem Rechtsanwalt gegenüber, der vor einigen Tagen heimlich aus dem Exil zurückgekehrt ist.
„Warum seid ihr Fidelisten?“
„In unseren Ländern bedeutet Fidelismus keine Partei. Er ist ein Elan, die zu unserer Befreiung führt. Hinzu kommt, daß Fidel den einzig möglichen Weg eingeschlagen hat: die radikale Änderung der sozialen Struktur.“
„Dabei geht er nicht gerade sparsam mit Menschenleben um. Schreckt Sie das nicht?“
„Daß es bei einer echten Revolution Scherben gibt, und sogar Ungerechtigkeiten, ist unvermeidlich. Ihr vergeßt immer, daß es bis heute in diesem Raum der Welt noch keine echte Revolution gegeben hat. Es waren immer Palastrevolten. Man riß sich um die Kasse. Um mehr ging es nie. Dabei gab es immer mehr Tote als bei Fidel.
Die Amerikaner mischten kräftig mit. Sie unterstützten immer jene, die dem Big Business am besten dienten. Ob es Liberale waren oder Diktatoren, Mörder oder Irre. Vor 1915-1934 regierten hier die berühmten Marines, die Elitetruppe der USA. Sie können sich vorstellen, daß wir die Amerikaner nicht besonders gern haben.“
„Und weil die Russen noch nie hier waren, glaubt ihr jetzt, der Kommunismus sei die Zauberformel.“
Im halben Satz merke ich: Das hätte ich nicht sagen dürfen. Es wird plötzlich kalt in der Hütte. Bei 40 Grad im Schatten.
„Also doch. Man hatte mir gesagt, sie brächten ein gewisses Verständnis mit. Sonst hätte ich Sie gar nicht empfangen. Marx und Lenin sind für uns ebenso jämmerliche Apostel wie Foster Dulles. Wir kümmern uns um kein System. Mein Gott, wenn man doch endlich begreifen würde: Hier muß die Korruption verschwinden, das Volk Brot und Erziehung erhalten; die Entscheidungen, die dazu notwendig sind, bedenken keine ideologischen Bekenntnisse.“
Auf der Gran-rue, der Hauptstraße von Port-au-Prince, treffe ich einen alten Bekannten: meinen kleinen Gangster mit seinem Blechrohr. Er beobachtet ein amerikanisches Ehepaar, das einige Schritte entfernt mit einem Negerjungen* spricht.
Der Mann hält einen Nickel in Kopfhöhe, nach dem die schwarze Kinderhand gierig greift. Jedes Mal, wenn die kleinen Finger des Geldstück erreichen, reißt der Mann seinen Arm in die Höhe. Ich denke unwillkürlich an eine Hundedressur mit dem berühmten Stück Zucker und höre Folgendes von der Frau: „Nein, du böser Bube, sagt erst einmal höflich ‚bitte schön‘.“
„Gib Nickel“, schreit der Kleine. „You, Joe, give me.“
„Nein, Du mußt lernen, dich anständig zu benehmen. Sag schön ‚bitte, Sir‘.“
„Hunger“, sagt der Negerjunge* . „Nickel, Nickel, Nickel.“
Er hat den Arm des Mannes mit beiden Händen erwischt, und schnappt mit dem Mund nach dem Geld, während seine Füße auf dem Bauch des Touristen Halt suchen.
„Kleines dreckiges Biest“, zischt die Frau. „Albert, get rid of him – jag‘ ihn zum Teufel. Schau deine Hose an.“
Als der Kleine wieder auf dem Boden steht, hält sie ihm voller Geduld einen langen Vortrag über gutes Benehmen. Sie spricht über den Wert der Anständigkeit und die Bedeutung der Höflichkeit in der menschlichen Gesellschaft. „Du mußt ein guter Mensch werden, wenn du vorwärts kommen willst“, meint sie. Aber der Junge versteht natürlich kein Wort Englisch.
Mein kleiner Gangster hat dem Spiel ebenso fasziniert zugesehen wie ich. Plötzlich scheint es bei ihm zu schalten. Er richtet entschlossen sein Blechrohr auf den Bauch des Touristen und befiehlt: „Geld, Yankee, Geld, sonst tot.“
Das ist zu viel. Alberts Unterkiefer verschwindet im Doppelkinn, sein Arm sinkt herunter. Im Nu verschwindet sein Nickel in einer schwarzen Hand. Die zwei kleinen Bettler jagen um die nächste Ecke.
„Reg‘ dich nicht auf, Albert“, sagt die Frau mit sanfter Stimme, „es war nur ein Nickel.“
*Anmerkung: Der Begriff Neger/Negerin wird aus dem Originaltext beibehalten. Diese Bezeichnung war damals ohne Abwertung als Fremd- und Selbstzuschreibung geläufig.