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Kanzel, Tasca und Arena

Stern, Heft 42, 17. Oktober 1959

„Ich bin Zigeunerin reinster Rasse. Hier, sieh meine Haut, meine Augen, meine Haltung.“
Pepita strafft ihre Gestalt. Sie spannt ihre Hüften und wird in einer Sekunde zum Urbild der Zigeunerin, deren Silhouette den Frauentyp ganz Spaniens über Jahrhunderte geformt hat und heute noch bestimmt.
Wie bei uns der Film ein weibliches Schönheitsideal schuf, dem alle jungen Frauen nachstreben, so hat in Spanien die tanzende, singende, leidenschaftliche Zigeunerin frauliche Formen und Haltungen entscheidend beeinflußt. Hier ist der Umfang des Busens nicht wichtig, sondern die stolze Art, den Oberkörper zu tragen. Hier ist die schlanke Taille ohne Belang, es zählt der Schwung der Hüften und des Schenkels. Die flache Schönheit des Nordens ist verpönt. Lange Beine, schmale Hüften und wohlgeformte Brüste erlauben zwar den nordischen Frauen eleganter zu sein als ihre spanischen Schwestern, sie regen jedoch die Fantasie des Spaniers nicht im geringsten an. Für ihn muß eine Frau Hüften haben und Schenkel, deren Formen bei jeder Bewegung verlockend unter dem Kleid spielen. Dabei muß sie ganz feine Fesseln haben – ein Zeichen guter Rasse – und winzige Füße (zwischen Größe 34 und 36), um durch diese zierliche Zerbrechlichkeit seine zarte Seite anzurühren, sein Verlangen, ritterlicher Beschützer zu sein.
Pepita hat unglaublich feine Fesseln. Langsam schiebt sie einen Fuß vor und hämmert mit ihrem Absatz den Rhythmus eines Fandangos. Ihr stolzer Blick ist schwer zu ertragen. Das ist keine Koketterie mehr, sondern Herausforderung, keine Erotik, nein, Hochmut einer Rasse, die gelassen alle Schimpfworte hinnimmt, wie Diebe, Bettler, Heuchler – weil sie überzeugt ist, allein den einzig wahren Sinn des Lebens bewahrt zu haben: die Leidenschaft und die Liebe.
Pepita würde mir ohne jede Hemmung Uhr und Brieftasche stehlen, sie würde betteln gehen oder Meineide schwören, weil sie überzeugt ist, sich einem ewigen Gesetz verschrieben zu haben, das ihr erlaubt, alle von Menschen geschaffenen Gesetze mit Füßen zu treten. Und weil sie alles verachtet, was nicht von Zigeunern stammt.

Sie setzte sich zu uns. „Glaubst du mir jetzt, daß ich Zigeunerin bin?“
„Und ob ich dir glaube“, sage ich und stürze einen Tio Pepe hinunter. „Eindrucksvoller konntest du es mir gar nicht beweisen.“
„O doch“, antwortet sie mit einem maliziösen Lächeln. „Aber darüber wollen wir lieber nicht reden.“
„Willst du was trinken?“
Sie ist plötzlich entspannt. Ihre Schultern sind nicht mehr so stolz nach hinten geworfen. Ihre Arme ruhen lässig auf dem Tisch. Die Verwandlung ist erstaunlich. Vor mir sitzt ein kleines lächelndes siebzehnjähriges Mädchen, das nach einer Limonade verlangt.
Wir sitzen in einer Tasca in Triana, dem Zigeunerviertel von Sevilla. Eine Tasca ist eine gewöhnliche Kneipe, in der man trinkt. In einigen gibt es, wie hier, einen Gitarristen und zwei oder drei Zigeunerinnen, die Flamenco tanzen. Auch ein Sänger gehört oft dazu. Diese Tasca ist nicht für Touristen. Hier ist man unter sich. Manolo Herrera, ein Zigeuner, mit dessen Familie ich einmal während drei Wochen durch Andalusien gewandert bin, und der mir seitdem jedes Jahr pünktlich zu Weihnachten eine Postkarte schickt, hat mich hierher gebracht, um mir die Tanzkünste seiner Nichte Pepita zu zeigen.
„Die hat Rasse, was?“ sagt er voller Bewunderung. „Erinnerst du dich an das kleine sechsjährige Mädchen, das damals mit uns reiste und soviel Geld einbrachte, wenn es in den Straßen tanzte? Das war Pepita. Jetzt ist sie eine Frau“, fügt er stolz hinzu. „Y que mujer! – und was für eine Frau!“
Eine kleine ältliche Frau nähert sich unserem Tisch. Sie ist schwarz gekleidet, wie die meisten älteren Frauen des Volkes, die entweder für irgendein Mitglied ihrer zahlreichen Familie Trauer tragen oder, einmal verheiratet, ihrem guten Ruf und ihrem eifersüchtigen Gatten dadurch Genüge tun wollen, daß sie endgültig aufhören, kokett zu sein, indem sie sich in schwarze, unförmige Kleider hüllen.
„Erkennst du sie wieder?“ fragt Manolo. „Das ist Nana Hedilla, Pepitas Mutter, die uns früher in dieser Tasca mit dem Rollen ihrer Kastagnetten toll machte.“
Ich kann mir schwer vorstellen, daß diese kleine rundliche Person irgendjemanden tollmachen kann, erinnere mich aber an „Nana de Triana“, wie sie sich stolz nannte, die vor zehn Jahren zu den besten Tänzerinnen Sevillas gehörte. Heute kommt sie nicht mehr zum Tanzen in die Tasca, sondern nur, um auf Pepita aufzupassen und sie brav nach Hause zu bringen. Zigeunerinnen kennen das Feuer ihrer Töchter. Sie sind deshalb doppelt vorsichtig. Es gibt kaum eine Tänzerin in Spanien, sei es auf der Bühne, in der Tasca oder im eleganten Nachtlokal, die nicht ständig von ihrer Mutter begleitet wäre. Selbst wenn sie ins Ausland gerufen werden, bleiben die schwarzgekleideten Mütter ihnen wie Geheimpolizisten auf den Fersen.
„Sie hat‘s nicht geschafft“, sagt Manolo. „Halt’s Maul“, schreit sie ihn an. „Natürlich hätt‘ ich‘s im Handumdrehen geschafft, wenn ihr verfluchten Männer nicht wärt. Da kniet ihr einem jahrelang auf der Seele, versprecht Himmel und Erde, bis man weich wird. Man will endlich auch Frau werden und heiratet so einen hergelaufenen Kerl wie deinen Bruder. Natürlich darf man weitertanzen, das wird hoch und heilig geschworen, aber ehe man sich versieht, hat man acht Kinder, hängende Brüste und Krampfadern. Und alles ist aus – für immer.“
Sie nimmt Pepita bei der Hand und zieht sie hoch.
„Aber ihr wird das nicht passieren, darauf könnt ihr euch verlassen. Sie wird eine große Tänzerin werden. Dafür sorge ich. Sie muß es werden; denn für unsereins gibt es keinen anderen Weg aus dem Elend.“
Manolo und ich erheben uns ebenfalls und folgen den beiden Frauen auf die Straße. Es ist erst zwölf Uhr nachts, aber schon schleppt „Nana de Triana“ ihre Tochter nach Hause. Sie kennt die verführerischen Tücken andalusischer Nächte. Sie geht kein Risiko ein. Manolo hält mich etwas zurück.
„Sie hat recht“, sagte er. „Tausende von Mädchen, Zigeunerinnen und andere, werden nur deshalb Tänzerinnen, weil es die einzige Möglichkeit ist, der Armut unserer Vorstädte zu entkommen. Der Weg ist hart. Nur wenige erreichen es wirklich. Die meisten enden wie Nana. Und die, die nicht heiraten, aber auch nicht wieder ins Elend zurück wollen, werden Prostituierte. Wenn sie Glück haben, werden sie die Geliebte eines reichen Mannes, der oft sogar für ihre Familie sorgt.“

Vom Hinterhof in die Arena

Als wir vor dem Haus angekommen sind, in dem Manolo wohnt, hören wir kurze, befehlende Rufe: „Olé toro (Stier), olé.“ Im Patio, dem kleinen Hof, um den fast alle andalusischen Häuser gebaut sind, tummeln sich einige Kinder. In der Mitte steht ein Junge. Er ist vielleicht zehn Jahre alt. In seinen Händen hält er ein zerrissenes Hemd. Während er seinen kleinen nackten Oberkörper herausfordernd vorbeugt, ruft er befehlend: „Toro, anda!“ (Stier, nun los!)“ und jedesmal stürmt eines der Kinder in gebückter Haltung auf ihn zu. Er weicht geschickt aus, wie ein richtiger Stierkämpfer.
Ohne ein Wort zu sagen, rennt nun auch Manolo auf ihn los. Aber der Junge läßt sich nicht aus der Ruhe bringen. Festen Fußes wartet er. Als Manolo nur noch einige Zentimeter von ihm entfernt ist und ich glaube, er würde ihn umwerfen, vollführt der Knirps eine vollendete Veronika, eine der schwersten Figuren des Stierkampfes, und Manolo schießt an ihm vorbei.
„Olé“, ruft er mir jetzt zu, „olé toro“ und wirft sein Hemd weg. Mit erhobenen Armen steht er wartend da. Ich bücke mich und laufe auf ihn zu. Als ich seinen Körper streife, bohren sich seine Finger schmerzhaft in meinen Nacken. „Banderillas“, erklärt der kleine Kerl lachend. „Ich habe sie genau auf den richtigen Platz gestellt.“
„Das kann man wohl sagen.“ Ich versuche durch Reiben, den brennenden Schmerz zu stillen. „Jetzt weiß ich wenigstens, wo man die Banderillas hinpflanzt.“
Er hört mich gar nicht mehr, er hat schon wieder sein Hemd in den Händen und fordert seine Kameraden energisch auf, weiterzukämpfen. Ich bin erstaunt über den Ernst, mit dem diese Kinder zu so später Stunde unter einer kleinen Funzel stehen und Torero spielen.
„Das ist kein Spiel mehr“, erklärt Manolo „das ist regelrechtes Training eines ehrgeizigen Jungen, der Torero werden will. Du lächeltest, aber du weißt doch, daß es für einen armen Jungen nur einen Weg aus dem Elend gibt: den Sprung in die Arena.
„Für einen Zigeuner“, verbessere ich.
Er schaut mich vorwurfsvoll an. „Im Elend gibt es diesen Unterschied nicht mehr. Da sind wir alle gleich, ob Zigeuner oder nicht. Wir Zigeuner tragen die Armut vielleicht mit etwas mehr Würde, weil wir lange jede normale Arbeit verworfen haben und uns deshalb nicht beklagen dürfen. Aber das ist heute anders. Wir arbeiten in Fabriken, in Bergwerken, wir sind Schuhputzer, Scherenschleifer, Soldaten oder Chauffeure – genau wie die anderen. Wir sind zwar immer noch überzeugt, ein ganz spezielles leidenschaftliches Blut aus unserer fernen asiatischen Heimat mitgebracht zu haben, und sind stolz darauf. Aber das hat nichts mit unserer sozialen Stellung zu tun. Da sind unsere Probleme heute die gleichen wie die der anderen Armen.“
Nana und Pepita, die zunächst in einer Tür des Hofes verschwunden waren, gesellen sich wieder zu uns. Pepita hat ihr Kostüm abgelegt. Sie sieht in ihrem geflickten Kleid recht unscheinbar aus. Ich kann mir schwer vorstellen, daß dieses Mädchen so selbstbewußt in der Tasca getanzt hat.
Manolo erklärt weiter: „Übrigens, der kleine Stierkämpfer hier ist kein Zigeuner. In diesem Haus wohnen nur vier Zigeunerfamilien, alle anderen sind ganz normale Spanier. Der zwölfjährige Bruder dieses Jungen ist im Seminar. Die Kanzel ist der dritte Weg, hier herauszukommen.“
Er lächelt Nana verschmitzt an. „Es ist sicher der leichteste Weg, aber zu schwer für einen Zigeuner. Denn wer kann schon Priester werden mit unserem Blut?“
„Unser Blut, unser Blut“, fährt in Nana böse dazwischen. „Was nützt es. Schau uns an. Da kann man noch so leidenschaftlich sein, noch so verliebt; mit Flöhen, leerem Magen und zehn Menschen in einem Zimmer geht selbst die schönste Liebe zum Teufel.“ Sie wendet sich drohend Pepita zu. „Daran denkt man nicht, wenn man siebzehn Jahre alt ist. Deshalb muß ich es für dich tun.“
„Sie tanzt großartig“, sage ich, um Nana zu beruhigen, aber sie hört gar nicht zu. Sie grübelt vor sich hin, während Pepita verlegen ihr Kleid glatt streicht.
„Ich hätte dich gern ins Haus gebeten“, sagt Nana endlich. „Aber es ist schon zu spät. Die Kinder und Manolos Frau schlafen schon. Und wir haben nur dieses eine Zimmer für unsere beiden Familien.“ Mit einer müden Handbewegung umschreibt sie den Hof. „Auf diesem Patio siehst du vierzehn Türen. Jede führt zu einem einzigen Zimmer, und in jedem Zimmer wohnen zwei bis drei Familien, und wenn die Kinder heiraten, kommen wieder neue hinzu. Wenn du weg sein wirst, dann werden die Männer mit ihren Strohmatten vor die Tür kommen, um in Hof zu schlafen.“
Ich hatte diese fast unbeschreibliche Wohnungsnot in allen Städten Spaniens angetroffen, hier aber, im Anblick dieser Freunde, die ich einst als ein lustiges Zigeunervolk kennengelernt hatte, das unbekümmert mit seinen Wagen durchs Land zog und sein Lager aufschlug, wo immer es ihm gefiel, überkommt mich plötzlich eine ohnmächtige Scham. Ich greife in die Tasche, wie viele von uns es automatisch tun, wenn sie ein schlechtes Gewissen haben und sich für einige Pfennige freikaufen wollen. Aber meine Hand bleibt stecken. Und merklich haben sich die Gestalten meiner Freunde gestrafft. Pepita sieht plötzlich wieder so aus wie in der Tasca, als sie herausfordernd ihr Zigeunertum beanspruchte. Es wird unheimlich still. Schnell ziehe ich ein Paket Zigaretten aus der Tasche und reiche es herum. Nana und Manolo atmen erleichtert auf. Pepita greift zögernd zu. Auch ich brauche jetzt eine Zigarette, denn es wird mir klar, daß ich in dieser einen Sekunde diesen Menschen die tiefste Erniedrigung erspart habe.
Wir plaudern noch ein wenig. Dann verabschiede ich mich. Als ich langsam in der Dunkelheit davonschlendere, begleiten mich die Stimmen der Kinder mit ihrem“olé, toro, olé“ – und dieser männliche Ruf des Kampfes klingt hier in der Nacht, wie der verzweifelte Schrei nach einem besseren Leben.

Warten auf Francos Tod

Als wir wieder in Madrid sind und die Bilanz unserer sechswöchigen Spanienreise ziehen, sieht das Bild so düster aus, daß ich mich entschließe, einen alten Bekannten aufzusuchen, einen Falangisten, der mittlerweile zu einem bedeutenden Posten in der faschistischen Einheitspartei aufgestiegen ist, um ihm unverblümt meine Meinung zu sagen.
Er empfängt uns mit überströmender Freundlichkeit und versteht es sofort, eine Atmosphäre zu schaffen, als hätten wir uns nicht vor zehn Jahren das letzte mal gesehen, sondern gestern.
Zwei andere Falangisten sind mit ihren Frauen geladen. Man ist elegant, man spricht von tausend Dingen. Das Abendessen ist ausgezeichnet, die Bedienung so wundervoll, gute französische Weine so reichlich, daß ich meinen Groll vergesse und vergnügt mitplaudere über Chruschtschow, Amerika, den arabischen Nationalismus und die gelbe Gefahr. Kein Wort über Franco, das scheint hier zum guten Ton zu gehören.
Als die Herren sich in den Rauchsalon zurückziehen, ruft mein Bekannter seinen Dienstboten zu, uns für die nächste halbe Stunde nicht zu stören, und schließt sorgfältig die Tür.
„Was hast du auf dem Herzen?“ fragt er mich. „Am Telefon klang deine Stimme gar nicht freundlich. Was ist los?“
Ich werfe einen bedeutungsvollen Blick auf seine beiden Freunde, aber lachend sagt er: „Du kannst frei sprechen. Und wenn du uns dein Wort gibst, weder unsere Namen noch unsere Stellungen preiszugeben, wollen auch wir ganz offen sein. Einverstanden?“
„Einverstanden.“
Ich erzähle, was wir während unserer Rundreise gesehen haben, spreche von der Armut, der Wohnungsnot, den unnützen Prunkbauten, der sozialen Ungerechtigkeit, Gefängnissen. „Ich wollte es mir nur von der Seele reden“, sage ich abschließend. „Jemandem sagen können, der mitverantwortlich ist, daß ihr aus diesem wundervollen Volk eine Masse von armen Heuchlern gemacht habt. Wenn ihr die zwanzig Jahre euerer Macht nicht damit verbracht hättet, euch Denkmäler zu setzen, wäre Spanien heute kein unterentwickeltes Land.“
Zu meinem Erstaunen protestiert keiner. Nach einer kurzen Pause sagt mein Gastgeber vollkommen ruhig: „Du hast recht. Dieses Land befindet sich in einem Zustand, daß wir uns schämen müssen, mitverantwortlich zu sein. Wir sind es aber nur insofern, als wir damit einverstanden waren, die offiziellen Träger des Regimes zu spielen, ohne die soziale Revolution durchzuführen, die auf unserem Programm steht. Franco hat es uns versprochen. Aber er hat dieses Versprechen nie eingelöst, sondern den Generälen, Konservativen und der Kirche freies Spiel gelassen und ihnen erlaubt, uns in Schach zu halten. Die Falange ist somit einmal betrogen worden – aber sie will es nicht ein zweitesmal werden. Darauf kannst du dich verlassen.“
Mein Gastgeber, den ich der Einfachheit halber Pedro nennen werde (und seine Freunde Carlos und Paco), steht auf und schließt das Fenster.
„Auch wir müssen vorsichtig sein“, sagte er lächelnd, „denn du sollst noch einiges erfahren. Wir warten auf Francos Tod. Wir wünschen ihn nicht für morgen – wir brauchen den Caudillo noch -, aber wir bereiten uns darauf vor und hoffen, daß es nicht mehr zu lange dauern wird.“
Als Carlos mein Erstaunen sieht, unterbricht er: „Franco hat uns gezeigt, wie man in der Politik manövrieren muß. Sein opportunistischer Wirklichkeitssinn hat uns gelehrt, ebenfalls Realisten und Opportunisten zu werden. Aber mit einem Unterschied: Für ihn ist die Macht eine persönliche Angelegenheit, eine höchst private Sache, und die letzten zwanzig Jahre sind für ihn nichts anderes als seine Biografie. Für uns aber bleibt die Macht die einzige Möglichkeit, einen alten Wunsch zu verwirklichen: die Revolution, verbessert durch zwanzig Jahre Erfahrung. Früher wollten wir eine romantische Revolution, die sich eigentlich in Worten erschöpfte. Heute wollen wir eine greifbare Wirklichkeit, wie es sie in Rußland gibt. Von einem entgegengesetzten Ausgangspunkt kommend, sind wir am gleichen Punkt angekommen wie die Russen. Wir wollen die Revolution des Proletariats. Deshalb auch bleiben wir auf unseren Posten. Die Geduld ist die erste Tugend eines jeden Revolutionärs.“
Als ich Pedro frage, ob ich diese Information in meinem Artikel wiedergeben darf, antwortete er mir sehr ernst:
„Wenn du weder Namen noch Titel angibst – natürlich. Du mußt nicht glauben, daß die Veröffentlichung solcher Erklärungen die Aufmerksamkeit auf uns ziehen wird. Wir sind nämlich keine kleine isolierte Gruppe. Was du hier gehört hast, kannst du von vielen führenden Männern hören, die für die Öffentlichkeit weiterhin Falangisten sind und treue Anhänger Francos. Im Grunde bilden wir heute die einzige soziale Macht, auf die sich Franco stützt. Und es ist in unserem Interesse, die Treue zum Regime aufrecht zu erhalten. Wir können uns den billigen Luxus der Sozialisten und Monarchisten nicht leisten, die aus ideologischen Überlegungen laut protestieren und sich dadurch demaskieren.“
Er bricht plötzlich ab: „Aber trinken wir noch etwas, du siehst sehr nüchtern aus.“
„Da soll man nicht nüchtern werden“, stöhne ich. „Man hat mir gesagt, daß Kontakte bestehen zwischen einigen Gruppen der Falange und der verbotenen kommunistischen Partei. Ich habe selbst festgestellt, daß die Mehrzahl der jungen spanischen Intellektuellen mit dem Marxismus flirtet, man hat mir sogar erzählt, euer berühmter Torero Dominguin sei ein Freund der Kommunisten. Aber in dieser Luxuswohnung aus eurem eigenen Mund zu erfahren, daß marxistische Ideen heute die Falange beherrschen, eine Partei, die allgemein als das letzte Überbleibsel des Faschismus betrachtet wird, das ist wirklich eine Überraschung, auf die ich einen guten Schluck brauche.“
Wir stoßen an. „Auf was sollen wir trinken?“ frage ich. Wir blicken uns fragend an. Es scheint schwer zu sein, einen Toast zu finden, der uns allen genehm ist. „Auf daß Papa Franco uns bald die Erbschaft abtritt“, schlägt Carlos zögernd vor. „Ach, Quatsch“, ruft Pedro. „Auf das Leben. Das wollen wir doch alle leidenschaftlich, um unsere Ideen zu verwirklichen.“ Wir leeren unsere Gläser, und mir wird plötzlich klar, wie diese Männer sich verändert haben. Waren nicht sie es, die während des Bürgerkriegs auf den Tod tranken und sich in die Schlacht stürzten mit dem Ruf: „Es lebe der Tod.“
Ich wende mich wieder an Pedro. „Wenn Franco eure Positionen kennt, muß er doch alles versuchen, euch von eurem Posten zu verdrängen.“
„Warum sollte er das? Wir unterstützen ihn doch, und im übrigen weiß er nicht, wer bei uns diese Ideen vertritt. Andererseits vergißt du, weil du aus einem Land kommst, wo sich die Politik jetzt wieder in der Öffentlichkeit abspielt, daß Diktaturen unvermeidlich eine unmoralische Wirklichkeit schaffen, die jeder annehmen muß, der politisch interessiert ist. Wenn die normale Moral verschwindet, wird eine Notmoral geboren, eine brutal vereinfachte Moral, die nur noch den Nutzen kennt. Aus purer Notwendigkeit sind Tausende von Spaniern zu Spezialisten des politischen Doppelspiels geworden. Die meisten, die heute Francos Politik machen, arbeiten zugleich am Umsturz. Genau wie wir, so bereiten auch die Monarchisten und bürgerlichen Kapitalisten ihre Zukunft vor. Diese Zukunft ist der Tod Francos. In jenem Augenblick müssen wir alle unser wahres Gesicht enthüllen. Unsere kapitalistischen Gegner rechnen mit der Armee. Aber da werden nur die hohen Offiziere mitmachen. Die unterbesoldete Masse gehört zu uns. Im übrigen haben wir das gesamte Proletariat durch die Gewerkschaften, die wir schon zwanzig Jahre kontrollieren, fest in der Hand. Die Gewerkschaft ist ein mächtiges Werkzeug, das bis heute unbenutzt geblieben ist. Durch sie wird die Revolution getragen werden, wenn der Augenblick gekommen ist.“
„Aber wie seid ihr spanischen Falangisten zu Marxisten geworden?“ will ich wissen.
Paco ergreift das Wort. Er ist der Jüngste von ihnen. Vielleicht dreißig Jahre alt. Er gehört nicht zu der „alten Garde“.
„Sie müssen berücksichtigen“, sagt er, „daß wir von Kindheit an zum Haß gegen den liberalen und demokratischen Kapitalismus erzogen worden sind. Man hat uns zum Beispiel gelehrt, daß die soziale Gleichheit erstrebenswerter ist als die Freiheit. Jeder Spanier ist durch die Jugendorganisation der Falange gegangen und besitzt deshalb über den Kapitalismus, die politische Freiheit, die Demokratie kritische Vorstellungen, die ungefähr denen entsprechen, die ein Russe aus seiner ideologischen Schulung mitbringt.“
Pedro unterbricht ihn: Du musst nicht vergessen, Gordian, daß unsere offizielle Propaganda uns bis vor einigen Jahren Rußland als das Beispiel eines verhungerten, unterentwickelten Landes hingestellt hat. Plötzlich sehen wir eine mächtige Sowjetunion, in der nach unseren Begriffen Ordnung herrscht und soziale Gleichheit. Da wir, wie du weißt, das demokratischer Freiheitsideal ablehnen und uns auch von der Religion abgewandt haben, weil die Erstarrung des spanischen Katholizismus in seiner traditionellen Formen ihn jedes persönlichen Gefühlswertes beraubt hat, mußten wir Falangisten unvermeidlich auf die Idee kommen, daß Russland genau das verwirklicht hat, was wir von Anfang an als den Kern unseres Programms bezeichnen. Für einen Mann, der nicht an die Freiheit glaubt und eine proletarische Revolution wünscht, ist es deshalb schwer, sich nicht dem sowjetischen Regime sehr nahe zu fühlen. Es ist nicht einmal das in Rußland vergossene Blut, das ihn abschrecken könnte, weil wir selbst für Ideen getötet haben, und zwar vollkommen sinnlos, denn bis heute haben wir sie nicht verwirklichen können. Du wirst verstehen, daß es ein historischer Unsinn wäre, wenn die Falange nicht vom Kommunismus angezogen würde. Heute, wo der russische Kommunismus ein neues Gesicht hat, gut gekleidet ist, patriotisch aussieht und mächtig geworden ist, weil er eine soziale Disziplin erzwungen hat, die unseren Ideen gemäß den Streik und die Freiheit als altmodische und unrealistische Begriffe verurteilt, gibt es keinen echten Falangisten, der im sowjetischen System, wenn nicht einen Freund, so jedoch ein Beispiel sieht. Im Augenblick teilen sich die spanischen Falangisten in zwei Gruppen. Jene, die sich zum Kommunismus bekannt haben und heimlich mit ihm verbündet sind. Und jene, die nicht von der kommunistischen Partei beherrscht sein wollen, sondern versuchen, die Revolution ohne sie und vor ihr zu machen.“
„Und zu welcher Gruppe gehört ihr?“ frage ich.
Pedro legt mir freundlich die Hand auf die Schulter. „Das, Gordian, ist ein Geheimnis, das wir heute noch für uns behalten müssen.“

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