Stern, Heft 25, 1. Juli 1962
Vor unserer Tür zerfällt eine Demokratie: Frankreich. Das Talent seiner Künstler, die Brutalität seiner Folterknechte, der Humanismus seiner Denker, die Kaltblütigkeit seiner Mörder machen Frankreich heute zum Mittelpunkt der Gewissenskrise, die unsere ganze freie Welt durchdringt. Wie leben unsere Nachbarn? Was wollen sie? Wie kann Patriotismus zum Mord führen? Davon handelt dieser Bericht.
(Anmerkung: diese Serie beginnt mit vier Doppelseiten großformatiger Fotos. Die Bildunterschriften dazu befinden sich meist innerhalb der Fotos.)
Paris ändert sein Gesicht. Paris erstickt.
Das französische Wirtschaftswunder hat zehn Millionen Menschen in einer einzigenStadt versammelt. Das dringendste Problem: Wohnungen
Sie wollen in Ruhe gelassen werden und ihren Ruhestand genießen. Kühlschrank und Fernsehgerät werden wichtiger als die Freiheit. Mehr den je fliehen sie sonntags in die Wälder.
Ganz gleich, ob sie drei Stunden brauchen, um zwanzig Kilometer zu fahren und fünf, um nach Hause zu kommen.
Aber wenn die Gendarmen sie anhalten und nach Sprengstoff suchen, dann ärgern sie sich mehr über die verlorenen fünf Minuten, als über die politische Lage, die solche Maßnahmen fordert. Die Franzosen wollen sich nicht engagieren
Flohmarkt der Ideale nennen die Jungen das alte Frankreich, das sich wohlgefällig auf Bänken sonnt. „Ihr nörgelt nur, aber engagiert euch nie. Ihr habt uns belogen und und in ein torkelndes Schiff gesetzt, ohne Segel und ohne Steuer. Wir wollen nicht leben wie Gott in Frankreich. Ein Gott, der nur gut essen und trinken will, nur lieben, angeln, quatschen und schlafen, kann nicht unser Gott sein. Wir suchen einen anderen! Wir wollen mehr. Wir wollen leben!“ Wie? – Sie haben noch keine Antwort. Doch eine: nicht wie die Alten
Die moralische Wandlung der Jugend vollzieht sich in Paris, in Marseille – überall. Dabei ist die Liebe zum Tummelplatz der Widersprüche geworden. Ist sie die große Lüge, die einzige Wahrheit oder nur ein Kleiderständer, auf dem man seine Vorurteile ablegt? fragen Sie – und versuchen alles
„De Gaulle ist ein Schwein.“
„Wem sagst du das?“
„Ein Verbrecher.“–
„Ich kann ein Lied davon singen.“
„Hast du noch Schmerzen?“
„Brandwunden.“
„Was haben sie gemacht?“ –
„Zuerst die Badewanne.“
„Wie oft?“
„Sechsmal.“
„Und dann?“
„Strom.“
„Wo?“
„Da, wo du denkst.“
„Wer waren die Schweine? Mobilgarde, Polizei, Sonderkommandos?“
„Geheime.“
„Von welcher Seite?“
„Find dich zurecht.“
„Elle est foutue, la France – Frankreich ist kaputt.“
Die beiden Männer,die so sprechen, sind Offiziere der französischen Armee. Der eine ist Oberst, er heißt Pierre. Der andere, Jean, war Reserveleutnant. Er hatte gestern Algier heimlich verlassen.
Um sie zu treffen habe ich keine dunklen Verbindungen zu geheimen Organisationen in Genf, Brüssel oder Paris gebraucht. Ich kenne den Oberst seit 1945. Zu jener Zeit war er einer der Helden der französischen Befreiungsarmee, ein großer Verehrer de Gaulles. In nächtelangen Gesprächen schwärmte er damals von der übermenschlichen Intelligenz seines Chefs. Für ihn war de Gaulle der reinste Ausdruck des französischen Genies. Sein persönliches Engagement begründete Pierre mit romantisch anmutenden Reden von Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Sozialismus.
„Mein Leben für eine menschlichere Welt“, pflegte er zu sagen. Und er meinte es so. Er war unter schwierigen Umständen von Frankreich nach London geflohen und hatte anschließend freiwillig regelrechte Selbstmordmissionen übernommen.
Feind hört mit
„Henri ist gestern verhaftet worden“, sagt er jetzt.
„Warum?“ frage ich.
„Weil er wie wir denkt.“
„Ein Bombenschmeißer?“
„Nein, der versteht nichts von Feuerwerk. Er will nur, dass Algerien französisch bleibt.“
„Dann müßt ihr jetzt wohl untertauchen?“
„Wieso?“
„Wenn hier genauso gefoltert wird wie in Algerien, kann alles passieren.“
Brüllendes Gelächter: „Du hast nichts begriffen. Frankreich ist doch nicht Algerien. Und hier ist es auch nicht wie in Deutschland zu Hitlers Zeiten: ein Reich, ein Volk, ein Führer – ein Befehl, ein Gehorsam. In dieser Gegend zum Beispiel steht ein guter Teil der Polizei auf unserer Seite und die Garnison zu siebzig Prozent.“
„Dann verstehe ich Henris Verhaftung nicht.“
„Befehl aus Paris. Es ist noch zu früh für Männer, die in der Verwaltung sitzen, Anordnungen offen zu verweigern. Also muss der Befehl ausgeführt werden. Es fragt sich nur wie. Nimm Henris Fall. Man telefoniert. Es ist zwei Uhr nachts. ‚Monsieur‘, sagt man höflich, ‚wir haben ihr Haus umstellt. Es ist unnütz zu fliehen. In drei Stunden werden wir Sie verhaften.‘ – Und was meinst du, was Henri in diesen drei Stunden getan hat?“
„Seine Papiere verbrannt, seine Waffen versteckt.“
„Genau.“
„Und seine Freunde gewarnt.“
„Falsch. So blöd ist er nicht. Telefonieren ist gefährlicher als Bomben werfen. Abhören ist das Hobby der vielen Sicherheitsdienste. Und du kannst nie wissen, wer deinen Draht gerade im Ohr hat: einer von uns, ein Gaullist, ein Kommunist, ein amerikanischer Agent oder einer, der für alle arbeitet. Weiß der Teufel.“
„Und morgen ist Henri wieder frei, weil die Beweise durch den Schornstein rauchten . . .“
„Das kann noch keiner voraussagen. Hier herrscht Ausnahmezustand. Jeder kann zwei Wochen in Polizeihaft sitzen, und selbst wenn der Untersuchungsrichter das Verfahren einstellt, kann Henri auf unbestimmte Zeit inhaftiert werden. Es fragt sich, wer seinen Fall behandelt: einer von uns, ein Gaullist, ein Kommunist oder ein amerikanischer Agent. Elle a bonne mine la France, hein? Frankreich sieht schön aus, was?“
Pierres Stimme ist nur noch Gemisch von Ekel und Ohnmacht.
„Und dir steht die Rolle des Opfers gar nicht,“ werfe ich ein, „dir, einem Oberst der Fallschirmjäger. Tragt ihr denn nicht die Verantwortung? Ihr, die Ultras, die de Gaulle beschimpfen und alle Verbrechen der OAS decken?“
Jetzt reckt sich Pierre auf. Seine Augen flackern. Ist es Stolz oder der Wein oder Wahn? Ich kann es nicht sagen.
„Wir sind die OAS“, sagt er und hämmert jede Silbe. „Alle Franzosen, die noch an ein sauberes Frankreich glauben. Nein: alle, die sich betrogen und verkauft fühlen. Die Herren der Vierten Republik haben uns verschachert. Indochina, unsere Soldatenehre, unsere Toten waren nur Karten im politischen Spiel, Trümpfe im Wahlgeschäft. Damals war de Gaulle die OAS: das Symbol eines sauberen Frankreichs. Wir riefen ihn. Aber er hat uns auf dem Altar seiner Größe geopfert: Europa, Afrika, die dritte Großmacht als Schiedsrichter zwischen Ost und West – kurzum: der Herr der Welt, an Stelle des Frankreichs, von dem wir träumten.“
Die neue Herrenrasse: Frankreichs Fallschirmjäger. Sie fühlen sich als die Besten der neuen Welle, die Frankreich überrollt: die Welle der Jugend. Ein Drittel der Bevölkerung ist unter zwanzig. Das „alte Frankreich“ wird zum jüngsten Land Europas. Die junge Flut will die alten Rahmen mit neuen Werten füllen. Sie will die Macht. In einem Land, in dem der Staat zerfällt und Fallschirmjäger Ideale schmieden, muß man sich ernstlich fragen, ob diese jungen Bilderstürmer die neuen Barbaren des Westens werden
Strammstehen vor Kommunisten
Ich höre diese Worte nicht zum ersten Male. Sie bilden das Leitmotiv der Ultras. Viele Männer aus dem gehobenen Bürgerstand haben sie mir an den Kopf geworfen, als seien sie so einleuchtend wie das Einmaleins. Besonders im Süden Frankreichs.
Pierre schweigt. Er sieht so aus, als finde er es unnütz, seine politische Haltung weiter vor mir zu rechtfertigen. Er gießt sich Wein nach und schaut auf die Uhr.
„Die Kinder müßten schon lange da sein. Hoffentlich ist nichts passiert. Der Älteste heißt Charles“, sagt er lächelnd, „nach de Gaulle.“
„Aber wohin wird euch das führen?“
„‚Wohin hat man uns geführt?‘ muß man fragen.“
„Vergiß nicht, sieben Jahre lang haben alle Regierungen – einschließlich de Gaulle – unsere Art der Befriedung gekannt und gebilligt. Massenausrottung, Zwangsumsiedlung von Millionen, Folter und Gehirnwäsche wurden geduldet – oder sogar gefordert. ,Siegen mit allen Mitteln‘ hieß der Befehl eines sozialistischen Ministers. Willst du weiter hören, wie man zur Verzweiflung getrieben wird?“
Ich nicke nur, denn ich kann nicht widersprechen.
„Die FLN nannten sie ausländische Agitatoren, von Moskau bezahlte Verbrecher, Kommunisten ohne Gefolge. Und wenn irgendein Intellektueller an unseren Befriedungsmethoden Kritik übte, dann besudelte er die Ehre des Heeres und wurde gerichtlich verfolgt – vom Kriegsministerium.
Und nun sollen die Ströme von Blut umsonst gewesen sein. Die Kommunisten ohne Gefolge, die ausländischen Verbrecher, die Werkzeuge Moskaus, wie man sie nannte und gegen die man uns hetzte, werden plötzlich die Freunde Frankreichs und die Herren Algeriens. Wir sollen das Gewehr präsentieren, wenn diese Männer, die unsere Kameraden schlachteten, die Macht ergreifen? Für wen hält man uns? Alle Araber, denen wir Schutz schworen, sollen wir schutzlos der Rache dieser Leute überlassen? Wir haben militärisch gesiegt und sollen abermals mit Blut und Ehre für die Machenschaften von gewissenlosen Politikern zahlen? Ich nicht, und wenn ich dabei verrecke.“
Er steht auf und reißt die Tür auf.
„Madeleine“, ruft er, „wo um Himmels willen bleiben die Kinder?“
„Im Bad.“
„Warum haben sie sich nicht gezeigt?“
„Ihr habt so laut gesprochen.“
„Wann kommen sie beten?“
„Gleich.“
So leicht wird man Herrenmensch
„Und was machst du mit dem Gehorsam, ohne den eine Armee keine Armee mehr ist und ein Staat kein Staat?“ frage ich.
„Die erst Pflicht der Armee ist es, der Regierung zu gehorchen. Aber die erste Pflicht der Regierung besteht darin, das Heer nicht für verlorene Sachen zu opfern. Es ist ein Verbrechen, Männer zu zwingen, für nichts zu sterben und auf dieses Nichts Patriotismus zu schreiben. Nur damit es noch ein wenig länger dauert, obwohl man heimlich die Kapitulation vorbereitet. So hat de Gaulle es gemacht.
Aber er war auch ein guter Lehrmeister. Er hat uns gezeigt, daß es Momente gibt, in denen ein Mann n e i n sagen muss, um die Ehre seines Landes zu retten. 1940 meuterte er offen gegen die legale Regierung. Am 13. Mai 1958 verschwor er sich heimlich mit uns und stürzte die Vierte Republik. Im Namen welchen Prinzips kann er jetzt Gehorsam verlangen, er, der Frankreich verrät?“
„Im Namen des Rechtes der Algerier auf Selbstbestimmung.“
„Recht ist der Wille des Besseren“, sagt er gelassen.
„Rassendünkel?“
„Nein, besser sind nicht die Rasse, sondern die Werte, die ein Volk oder eine Gruppe der Nation verkörpert.“
„Und die Schlechteren vergast man einfach . . .“
Er lächelt. „Du bist ein Kind. Du tust, als gäbe es das absolut Gute. Gut ist alles, was dem Besseren nutzt und dem Edleren zum Siege verhilft.“
„Und wer entscheidet, wer der Edlere ist?“
„Eine Gruppe, die ihre Werte kennt und bereit ist, für sie zu sterben, ist die edlere.“
So und ähnlich haben viele Franzosen und manche Offiziere zu uns gesprochen, die für ein französisches Algerien eintreten. Sie haben große Worte im Mund, als sei es ihr täglich Brot: Werte, Tradition, das ewige Frankreich, Kreuzritter des Westens, die Edleren, Missionsbewussten usw. Sie rechtfertigen alle Verbrechen.
Diese Männer sind Gefangene ihrer Dialektik. Wie Geisteskranke, die von dem Postulat ausgehen: Ich bin eine Straßenbahn, also habe ich zwölf Räder, also fahre ich auf Gleisen, , also brauche ich Strom, also usw. Sie sind Verrückte der Logik.
Begeisterter Empfang für De Gaulle. Er gilt weniger dem Staatschef als dem Star des Fernsehens, den man sehen und berühren will
Mörder können gute Väter sein
Madeleine kommt mit den Kindern.
Charles, der Älteste, ist in Indochina geboren, Yvonne, die zweite, in Algerien. Marie, die kleinste, in Frankreich.
Pierre breitet die Arme aus, und sie stürzen zu ihm. Er umschlingt sie alle. Wie frisch gepflückte Blumen drückt er ihre Köpfe gegen sein Gesicht.
Jean, der während des ganzen Gesprächs stumm zugehört hat, wird plötzlich lebendig. „Er ist der beste Vater der Welt“, murmelt er.
Pierre lächelt still vor sich hin. Mit geschlossenen Augen.
„Laßt uns beten“, sagt er.
Auch die Kinder schließen die Augen. Madeleine ist hinzugetreten. Sie legt ihre Hände auf die Köpfe und wie eine Stimme erhebt sich das Vaterunser. Anschließend sagen sie ein selbstgedichtetes Gebet, das so endet: „Mache Frankreich groß und beschütze alle, die wir lieben.“
Unwillkürlich knüpfe ich diese Worte an das voraufgegangene Gespräch. Sie liegen auf der gleichen Ebene. Ja, hier beginnt die irre Logik, die Rechtfertigung des Verbrechens. ‚Alle, die wir lieben‘ kann nur ein Gefühl erzeugen: daß es Menschen gibt, die wir nicht lieben können oder nicht lieben wollen, Menschen, die des Schutzes Gottes unwürdig sind. Für diese Kinder wird die Welt heute schon in zwei Gruppen geteilt: wir, die wir mit Gott sprechen und deshalb gut und edel sind – und die anderen.
Jean ist sichtlich gerührt. Er blickt mit feuchten Augen auf die vier Köpfe, deren Haare sich mischen und von der Mutter zärtlich gestreichelt werden.
Es ist schwer, nicht sentimental zu werden.Es gelingt mir nur, weil ich weiß, daß viele Folterknechte gute Väter sind und ihre Hunde verwöhnen, daß man die Seinen innigst lieben und die Lieben auf der anderen Seite kaltblütig töten kann. Man kann ein guter Mensch sein, ein biederer Bürger. Ein treuer Freund – und ein Mörder.
Pierre ist ein Mörder. Er hat es mir selbst gesagt. Ich werde nie die Nacht vergessen, in der er davon sprach.
Es war im Sommer 1958. Wir waren bei gemeinsamen Freunden eingeladen und mußten das einzige Gästezimmer teilen. Pierre hatte viel getrunken. Damals betrank er sich systematisch, bis er todmüde ins Bett fiel.
In der Nacht werde ich von lautem Stöhnen geweckt.
„Nimm die Augen weg“, höre ich Pierre schreien. „Die Augen, reiß sie ‘raus. Zum Teufel, tritt drauf. Bitte, bitte, bitte.“
Das Stöhnen wird unverständlich. Er wälzt sich im Bett herum. Dann ruft er wieder: „Nein, nicht diese Augen. Helft mir doch . . . “
Ich stehe auf und rüttle ihn wach. Als er mich endlich erkennt, sagt er: „Sie schaut mich immer noch an“, und dann: „Hol was zu trinken, bitte, sonst kommt sie wieder.“
Als ich mit dem Wein zurückgekommen bin und wir lange schweigend getrunken haben, fragt ich, wer ihn nachts anschaut.
„Die Kabylin“, sagte er. „Ich hatte das ganze Magazin in ihren Leib geleert. Sie wollte nicht sterben. Sie setzte sich langsam hin, als sei sie ein wenig müde. Nur deshalb blickte ich hin – und ich sah ihre Augen. Erstaunte Augen, ohne Haß, ohne Angst. Nur ungläubige Verwunderung. Dann griff sie nach ihrem Säugling, der tot neben ihr lag, und preßte ihn gegen den blutenden Leib. Und die Augen weinten. Nur die Augen, die weit offenen Augen. – Sie kommen jede Nacht…“
„Mußtest du sie töten?“
„Wir haben das ganze Dorf erledigt. Es war nicht das erste Mal. Tu nicht so, als ob du nichts wüßtest. Ganz Frankreich weiß davon. Krieg ist Krieg. Auf Terror können wir nur mit Terror antworten.“
Pierre steht auf. Wir nehmen die Flasche und gehen in den Garten. Es ist eine wundervolle Sommernacht. Irgendwo am Himmel mischt sich ein Sputnik, der heute auf seine Bahn geschossen worden ist, unter die Sterne. Ich habe es heute Morgen gelesen. Die Menschheit stürmt das All – und hier erzählt mir ein Mensch sein irdisches Leben.
Er hatte bereits im Krieg töten müssen. Aber es waren Kämpfer gewesen. Notwehr sozusagen. Das Morden hatte 1945 begonnen. In Algerien hatte es Aufstände gegeben. De Gaulle war Ministerpräsident. Es galt, den Nationalismus im Keime zu ersticken. Pierre war in Sétif. Seine Einheit metzelte Männer, Frauen, Kinder nieder.
„Wie viele?“
Zwanzigtausend, vierzigtausend. Ich weiß es nicht. Wir haben sie mit Bulldozern verscharrt.
Das Messer wird zum Gott
Später kommt er nach Indochina. Partisanenkrieg reibt die Nerven auf. Kameraden werden verstümmelt. Man kann der nächste sein. Man bekommt endlich einen „Viet“ zu fassen. Natürlich schneidet man ihn in Stücke. Mit der Zeit stumpft man ab. Man reagiert nicht mehr aus Angst oder Haß. Man liest Mao Tse-tung und studiert die psychologische Wirkung des Terrors. Jetzt wird er systematisch organisiert. Man metzelt wieder Dörfer nieder.
Es gibt natürlich Offiziere, die nicht mitmachen, Soldaten, die zurückschrecken, Idealisten, die desertieren. Manchen macht es Spaß. Andere werden Spezialisten.
So kommt man nach Algerien. Man braucht schnelle Geständnisse. Das einzige Mittel: Folter. Zuerst ist es die Aufgabe von Polizei und Spezialtrupps. Bald schaltet die Armee sich ein. Die Methoden? Die klassischen: Badewanne, Ersticken, Strom an Mund, Achsel, Brust und Geschlechtsteilen. Wer schnell gesteht, wird schmerzlos erledigt. Wer schweigt, wird an den Füßen aufgehängt, bis er stirbt. Das kann zwei Tage dauern.
Man bringt die Gefangenen oft nur deswegen um, weil sie Spuren der Folter zeigen. In Paris gibt es Intellektuelle und Menschenrechtler, die viel Lärm machen und Untersuchungskommissionen schicken. Die dürfen natürlich keine Beweise finden. Sonst ist der Teufel los. Es ist nicht einfach, Krieg zu führen. Die Zivilisten wollen immer das letzte Wort haben. Das ist der Grund allen Übels. Sie sitzen bequem zu Hause und spinnen große Gedanken. Hinterm Ofen kann man leicht von Menschenwürde reden. Aber in den Bergen, in der Kasba, wo überall der Tod lauert, wird das Messer zum Gott. Und was heißt Menschenwürde? Man foltert doch nur Araber und Kommunisten . . .
Die Algerier europäischer Abstammung nennt man Schwarzfüße. Man hat sie bewaffnet. Sie führen keinen Krieg. Sie gehen auf Jagd, auf Rattenjagd. Ratten nennen sie die Araber, weil sie wie Ratten im Dreck leben. Pierre ist manchmal dabei, nachts, nach getaner Arbeit, wenn er betrunken ist. Man streicht durch die Straßen und schießt „Ratten“ ab. Es gibt immer Araber, die dumm genug sind, sich zu zeigen. Die jungen Schwarzfüße jagen bis tief in die Araberviertel hinein. Im Grunde hasst Pierre die Rattenjagd. Er haßt auch die Schwarzfüße. Sie sind überheblich. Sie denken nur an ihr Geld, nicht an Frankreich. Ohne sie gäbe es keinen Krieg. Man hätte das Land aufteilen und den Arabern Rechte zugestehen sollen. Nie wäre es so weit gekommen. Der Egoismus der Schwarzfüße ist an allem Schuld. Und jetzt jagen sie Ratten.
Pierre erzählt langsam, ohne Pathos. Nicht ein Wort der Reue oder des Bedauerns kommt über seine Lippen. Es klingt, als spräche er von den Erlebnissen eines anderen. Nach einer Weile frage ich: „Wie wirst du mit der Schuld fertig?“
„Von Schuld kann keine Rede sein. Es gibt sie nur im Traum. Da hängen noch Spinnfäden aus der Kindheit, die wir Gewissen nennen. Es gab Zeiten, in denen ich schlafend aufstand und meine Frau anflehte, mir die Hände abzuhacken, weil ich sie voller Blut sah. Nur im Traum. In wachem Zustand kann ich mich vor mir selbst rechtfertigen.“
Wenn der Tag kommt, stirbt das Gewissen
Die eiskalte Sachlichkeit seiner Stimme bringt mich zur Raserei. Ich schreie ihn an, daß nichts einen einzigen Mord rechtfertigen könne, geschweige denn den kaltblütigen Mord an Tausenden von Männern, Frauen und Kindern.
Mit der gleichen kühlen Stimme fährt er fort: „Wir sind keine Angreifer, sondern Verteidiger, die an die Wand gedrängt worden sind. Wir handeln aus Notwehr, zur Selbsterhaltung. Wir verteidigen den Westen. In Indochina mußten wir abrücken, weil wir zu weich waren. Zu weich gegen die Partisanen und zu weich gegen unsere Politiker. In Algerien darf das nicht wieder vorkommen, sonst ist ganz Europa verloren. Wir allein tragen diese Verantwortung. Wir sind die einzige Armee aus einer westlichen Nation, die offen Krieg gegen den internationalen Kommunismus führt.“
„Und ihr bedient euch seiner Methoden.“
„Der Zweck heiligt die Mittel“, sagt ein weiser Spruch.
„Und was rechtfertigt das Ziel? Was verteidigst du? Das Öl, materielle Vorteile, strategisch wichtige Plätze, wirtschaftliche Interessen, koloniale Positionen – oder das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Freiheit, Recht, Demokratie und die Würde des Menschen? Ich glaube, letzteres macht das christliche Abendland aus.“
„Wir haben noblere Motive als das Öl“, meint er gelassen, „den Antikommunismus, das Überleben der europäischen Traditionen, unsere Familie, unsere Kinder, unsere geistige Überlegenheit.“
Ich finde keine Worte. Sie wären auch unnütz. Ich fühle plötzlich den Tau an meinen nackten Füßen und zittere.
Pierre nimmt noch einen tiefen Schluck aus der Flasche. „Ich glaube, ich kann jetzt schlafen“, sagt er. „Wenn der Tag kommt, sterben die Augen der Frau aus der Kabylei.“
Während ich das schreibe, sehe ich uns wieder in jenem Garten der Ile-de-France. Pierre ging langsam ins Haus, während ich mich nicht vom Fleck rühren konnten. An der Tür drehte er sich um und rief lächelnd: „Mach dir keine Sorgen, alter Junge, wir werden Europa seinen alten Glanz wiedergeben.“
Europa? Gestern las ich folgenden Satz in einem Buch eines algerischen Rebellen: „Verlassen wir dieses Europa, das nicht müde wird, vom Menschen zu reden, während es ihn überall umbringt, wo es ihn findet, an allen Ecken seiner Straßen, in jeder Ecke der Welt. Seit Jahrhunderten unterdrückt es den größten Teil der Menschheit im Namen einer angeblichen ‚geistigen Mission‘. Europa hat eine solch irre Geschwindigkeit erreicht, daß es sich Abgründen nähert, von denen wir uns besser entfernen . . .“
Schweigen ist tödlich
So spricht ein Afrikaner und wendet sich ab, seinen Problemen zu. Wir aber müssen hinschauen. Der schleichende Bürgerkrieg in Frankreich betrifft jeden von uns.
„Jeder von uns ist ein möglicher Pierre. Wir sind schon jetzt kleine Pierres des alltäglichen Lebens“, sagte mir ein Franzose, dem ich meine Begegnung mit dem Oberst schilderte. „Es ist nur eine Frage des Grades der geistigen Vergiftung, und morgen handeln wir wie er. Mit gutem Gewissen, als brave Väter, herrliche Menschen, als Tierfreunde, Helden und praktizierende Christen.
Nur brutale Offenheit kann uns heute noch retten. Brutale Offenheit ist keine Anklage. Sie ist ein Hilfeschrei. Die letzte Waffe. Wir müssen sie hinwegfegen, unsere lächerlichen Empfindlichkeiten, unseren Chauvinismus, unsere falsche Eitelkeit.
Ich muß Ihnen gestehen, daß auch mein Chauvinismus es lieber sähe, wenn Sie den Deutschen ein schönes Bild von Frankreich zeichnen würden. Besonders jenen Deutschen, die unsere heutigen Irrwege als nachträgliche Entschuldigungen ihrer Verbrechen deuten werden. Aber gerade sie sollten sich in Pierre wiedererkennen. Und sie sollten folgendes überlegen: Während die Deutschen im Handumdrehen eine Philosophie erfanden und eine nationale Mystik schufen, die ihre Taten rechtfertigten, kämpfen wir Franzosen wenigstens. Während sie Willkür und Verbrechen ohne viel Widerspruch zu staatlichen Einrichtungen machten, gibt es bei uns einen echten Krieg zwischen Gut und Böse, zwischen Gott und Teufel. Und wir haben den Mut zur brutalen Offenheit. Bis jetzt sind alle unsere Verbrechen beim Namen genannt worden. Von Franzosen. In Frankreich. Das ist entscheidend und läßt auf einen guten Ausgang hoffen.“
Melancholisch fährt er fort: „Es gibt Tausende schöner Dinge in Frankreich, über die Sie ganze Bücher schreiben könnten. Aber darum geht es heute nicht. Zu Hitlers Zeiten gab es auch in Deutschland wundervolle Dinge und herrliche Menschen. Selbst erstaunliche Leistungen des Regimes: Autobahnen, Werke, die auf Hochtouren liefen, zufriedene Arbeiter und singende Kinder. Aber auch darum ging es nicht. Wenn ein Mörder eine kühne Brücke baut, rechtfertigt das nicht sein Verbrechen. Ein Mörder kann geniale Bücher schreiben und schöne Straßen bauen – er bleibt ein Mörder
Zurück aus der Hölle
„Wir verstehen nicht“, sagt die Familie.
„Wir verstehen nicht“, sagt die Concierge.
„Wir verstehen nicht“, sagen die Nachbarn.
Sie begreifen nicht, warum Gérard, 27 Jahre, sich umgebracht hat, zwei Wochen nach seiner Rückkehr aus Algerien.
„Er hatte sich sehr verändert“, sagt die Familie. „Er war nicht mehr derselbe“, sagen die Freunde.
Warum? „Wir wissen es nicht. Er hat uns nichts gesagt. Er schien müde, niedergeschlagen.“
„Er war immer ein guter Sohn“, sagt die Mutter.
„Der beste Schüler“, sagt der Vater.
„Ein sensibler Mensch“, sagt die Freundin.
In der Nacht von Sonnabend auf Sonntag hat Xavier, 24 Jahre, ein Mädchen überfallen. Er hat sie erstochen, vergewaltigt und ins Meer geworfen.
Warum? „Wir wissen es nicht. Er hatte sich verändert. Er sprach nicht mehr wie früher. Er schien brutal und mürrisch, seit er aus Algerien zurück war.“
In Florange sitzt ein 25jähriger seit drei Monaten am Fenster und starrt auf die Straße. Er ist hier geboren und kennt jeden, der vorübergeht. Aber er weiß nicht mehr, was er die letzten zwei Jahre getan hat. Sein Gewissen hat ein weißes Tuch gezogen über zwei Jahre seines Lebens. Zwei Jahre Algerien.
Das sind Soldaten, die in die Heimat zurückkehren. Die andern, die Algerien in panischer Angst verlassen, sind keine Heimkehrer. Es sind Flüchtlinge. Sie sind Heimatlose, die in ein fremdes Land strömen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen. Sie sind die Verantwortlichen – und die Opfer der algerischen Tragödie. Wir haben sie als hilflose Opfer gesehen.
Nur die Kinder kennen die Panik nicht. Für sie ist die Flucht eine große aufregende Reise in eine neue Heimat. Sie werden schnell Freunde finden und richtige Franzosen werden. Aber die Eltern? „Man haßt uns“
Frankreich hat ein neues Problem: die Flüchtlinge. Jede Woche kommen Tausende: Ausländer mit französischen Staatsangehörigkeit
Sie fliehen vor den Arabern, vor der OAS, vor ihrer eigenen Panik. Sie haben nur noch eine fixe Idee: Man will uns töten
Jeder ist unser Feind
Marseille: – Die „Ville de Marseille“ legt an, mit 1150 Flüchtlingen an Bord. Wir brauchen eine polizeiliche Genehmigung, um an die Pier zu kommen. Es wimmelt von Gendarmen. Ich habe den Eindruck, daß es ratsam ist, sie nicht zu fotografieren. Als Claude es dennoch versucht, steht ein Herr im „unauffälligen Regenmantel“ im Sucher und sagt höflich: „Ich rate Ihnen, nicht in diese Richtung zu fotografieren. Die Gendarmen sind nervös. Jeder ist heute misßrauisch. Haben Sie Verständnis. Ich habe Sie gewarnt.“
Mehrere Male kommen Herren „im Regenmantel“, um nützliche Ratschläge zu geben. „Fotografieren Sie dies nicht. Es ist besser für Sie. Und nicht in diese Richtung. Sie ersparen sich Unannehmlichkeiten.“
Wir sagen jedes Mal: „Oui, Monsieur. Merci, Monsieur.“ Aber dann werden wir böse. Eine Gruppe von Regenmänteln versucht, das Interview eines Fernsehreporters zu unterbrechen, das Claude gerade fotografiert. „Ein wenig Diskretion bitte“, sagen sie energisch und stoßen mit den Ellenbogen. „Kein Lärm mit menschlichem Schmerz“, und hopp: Die interviewten Flüchtlinge werden abgeführt.
„Sehen Sie, so werden wir aufgenommen. Es ist eine Schande. Man behandelt uns wie die Aussätzigen. Wir sollen schweigen. Bald sperrt man uns noch ein.“
Eine junge Frau, elegant, mit braunem Haar, schreit es den Geheimpolizisten ins Gesicht. Sie umarmt weinend zwei alte Frauen, die mit dem Schiff gekommen sind. „Man haßt uns hier. Heute hat mir mein Hauswirt gekündigt, denn er will nicht, dass sein Haus ein Lager für algerische Flüchtlinge wird. Man behandelt uns wie Araber. Schaut doch hin. Bald sperrt man uns hinter Gitter.“
Ich muß zugeben, daß die kleinen Metallgitter, hinter denen man die Flüchtlinge versammelt, nicht einladend wirken. Sie entstanden aus dem Konkurrenzkampf der Wohltätigkeit. Jedes Empfangskomitee, die Protestanten, Katholiken, Israeliten, das Rote Kreuz, die getarnte OAS und zehn andere haben kleine Krals gebaut und führen selbstbewußt „ihre“ Flüchtlinge in „ihr“ Verhau der Barmherzigkeit.
Ein alter Herr trampelt mit den Füßen wie ein ungezogener Junge. „Alors, man kann nicht mehr sagen, wie man uns in Algerien behandelt. Alors, die Regierung will auch hier vertuschen, daß man uns umbringt. C’est un scandale. Ich werde es trotzdem sagen: Man schneidet uns die Gurgel durch. Jeden Morgen liegen welche vor ihren Türen. Sie bluten uns aus. Wissen Sie warum. Non?“ Er kommt näher und flüstert: „Die ‚Ratten‘ haben viele Verwundete und brauchen Blut. Man kann keine Blutübertragung mit arabischem Blut machen. Es gerinnt sofort. Ihr Blut ist unrein. Kein Wunder bei so viel Gemisch. Ihre Ärzte wissen das. Deshalb brauchen sie unser Blut.“
Hier wird Angst zur Hysterie. Der alte Mann sucht nach Erklärungen für all die Toten, die er gesehen hat. Er versteht nicht und muß in seinem Hirn suchen, was er schon immer gewußt hat. Schon als Kind hat man ihm gesagt: „Die Araber sind eine schlechte Rasse. Sie haben unreines Blut. Komm ihnen nicht zu nah. Sie haben Läuse. Sie sind nicht wie wir.“ Er hat immer mit dieser „Wahrheit“ gelebt und nach ihr geurteilt und gehandelt.
„Im Zwischendeck liegen Verletzte.“ Wir laufen hin. Auf einem Liegestuhl stöhnt ein Mann. Beide Beine stecken in schmutzigen Verbänden. Die Füße sind geschwollen und fast schwarz. Zwei Männer legen ihn in ein Segeltuch – es gibt keine Tragbahren – und wollen ihn fortschleppen.
Seine Frau weint: „Wenn ihr meinen Mann mitnehmt, was soll aus mir werden. Wie soll ich ihn wiederfinden. Wenn ich mitkomme, muß ich meine Koffer hier lassen. Man wird sie stehlen. Was soll ich nur machen?“
Herr Arfi wurde von französischen Gendarmen verwundet. Er war in einem Zimmer im zweiten Stock, als plötzlich auf die Fassade des Hauses geschossen wurde. Warum? „Wie kann ich es wissen“, sagte er. „Ich habe nie Politik gemacht. Ich bin nur ein kleiner Buchdrucker. Ich wollte in Frieden leben und arbeiten“
„Man“ tötet
Sie bricht zusammen. Claude verspricht ihr mit den Gepäckträgern zurückzukommen. Nach einer Stunde sind Mann, Frau und Bagage am gleichen Ort versammelt. Eine Dame des Roten Kreuzes fragt: „Was haben Sie an den Beinen?“
„Die Gendarmen haben auf uns geschossen“, sagt der Mann.
„Wo waren Sie denn?“
„Bei Freunden. Im Eßzimmer. Im zweiten Stock.“
„Natürlich auf dem Balkon.“
„Nein. Im Zimmer. Sie haben durchs Fenster geschossen. Es gab einen Toten. Ich habe zwei Kugeln im Knöchel und überall Splitter.“
„Wie sind Sie abgereist?“
„Ich mußte bis zur Ecke laufen. Da fanden wir ein Taxi. Aber der Fahrer wollte uns nicht bis zum Hafen bringen. Er hatte Angst. Keiner will es tun. Ich habe noch ein Stück laufen müssen. Wir hatten Glück. Wir kamen an Bord. Wenn wir ein drittes Mal hätten zurückkommen müssen, wäre ich draufgegangen.
„Ein drittes Mal?“
„Ja, wir hatten es am Freitag schon einmal versucht. Wir sind aus Birmandreis. In unserer Stadt wohnen nur Araber. Es ist entsetzlich. Sie wollten uns nichts verkaufen. Und wir hatten Angst, sie selbst um eine Tomate zu bitten. Wir hatten kein Brot, keine Milch. Drei Wochen lang konnten wir den Hund nicht ausführen. Wir haben ihn im Haus gelassen. Die Araber sind sofort eingerückt. Hoffentlich behandeln sie ihn gut. Meine Druckerei ging auch nicht mehr. Eine kleine Druckerei. Wenn arabische Kunden gekommen wären, hätte man sie umgebracht – und uns mit.“
„Wer? Man?“
„Sie natürlich. Alle die gegen uns sind. Alle, die uns umbringen. Die Geheimpolizei, die unsere Fenster überwacht, die Gendarmen, die Regierung.“
„Sie wollen mir doch nicht einreden, daß die Geheimen euch ausrotten wollen. Hier weiß man, wer die Befehle gibt: die OAS.“
„Die OAS – die OAS – immer die OAS. Sie sind die einzigen, die uns verteidigen. Ich gehöre nicht dazu. Aber was wollen Sie, Madame; wenn man weiß, da man zum Tode verurteilt ist und niemand sich mehr um einen kümmert, dann ist man auf der Seite, die uns verteidigt.“
In all diesen Gesprächen gibt es keine Logik mehr. Ein regelrechter Verfolgungswahn hat diese Menschen ergriffen. M a n ist gegen uns. M a n will uns töten. S i e kommen uns erwürgen. „Man“ – „Sie“. Keiner weiß mehr, von wem er spricht. Die Taten der FLN werden mit dem Terror der OAS in einen Topf geworfen, mit den Repressalien der Polizei, den Säuberungsaktionen der Armee, dem Kreuz- und Querschießen der Geheimpolizisten aller Gruppen und Tendenzen. Die Menschen haben nur noch eine fixe Idee: Man tötet uns.
Viele Flüchtlinge mußten ihre Hunde zurücklassen. „Hoffentlich finden sie gute Herren“, sagen sie, „Muslim hassen Hunde“
Am Abend sind wir bei einem bekannten Ehepaar in Montpellier. Er ist Arzt. Seit sieben Jahren haben Paul und Yvonne der FLN geholfen. Sie haben Rebellen in ihrem Haus versteckt. Heimlich, in steter Gefahr haben sie das Recht eines Volkes auf Freiheit über den Gehorsam des Staatsbürgers gestellt. Sie können heute noch verhaftet werden. Für Franzosen, die die FLN unterstützen, sieht das Abkommen von Evian keine Amnestie vor.
Wir finden das Haus in großer Unordnung. Yvonne putzt das Zimmer, das sie bis vor kurzem ‚die Herberge der Brüder‘ nannten und in dem sie algerische Rebellen versteckten.
Wir fragen, weshalb um diese Stunde so viel geputzt wird.
Paul und Yvonne schauen sich an, wie zwei ertappte Diebe.
„Wir haben lange diskutiert“, sagt Paul, „und Yvonne hat gewonnen. Wir nehmen Flüchtlinge aus Algerien auf.“
„Ihr, die FLN-Freunde, wollt OAS verseuchte Schwarzfüße beherbergen? Feinde sozusagen? Das kann nicht wahr sein.“
„Doch“, meint Yvonne mit einem scheuen Lächeln. „Das Zimmer, das für die Rebellen reserviert war, ist jetzt frei. Sie brauchen es nicht mehr. Sie haben gewonnen. Und da habe ich gedacht, es könnte wieder von Nutzen sein, für die, die jetzt in Not sind.“