Stern, Heft 27, 8. Juli 1962
„Ich bin zum Tode verurteilt.“
„Seit wann?“
„Seit vierzehn Tagen. Hier ist das Urteil. Es wurde an meinen Sohn in Paris geschickt.“
Wir sitzen in Marseille in einer Taxe. Der alte Herr zieht ein Papier aus der Tasche. Links oben steht: Organisation Armée Secrète, OAS. Der Text lautet: „Monsieur, Sie haben gegen unsere Befehle gehandelt. Wir hatten Sie gewarnt. Sie sind des Verrats schuldig befunden und zum Tode verurteilt.“ – Stempel: OAS. Sektion des Zentrums.
„Das kann jeder schreiben“, sage ich. „Wenn ich ein makaberer Witzbold wäre, könnte ich Ihnen morgen einen ähnlichen Brief schicken.“
„Nein, Monsieur, ich kenne Freunde, die solche Urteile erhalten haben. Einer ist hingerichtet worden. Aber warum soll ich mich aufregen? Ich bin 72. Ich habe nur Angst um meinen Sohn. Der hat nichts getan.“
„Haben Sie denn etwas verbrochen?“
„Ja, ich habe den Befehl nicht ausgeführt. Sonntag vor vier Wochen kamen zwei Männer in meine Wohnung in Oran. Sie verlangten, daß ich meine arabische Haushälterin tötete. ‚Wir geben Ihnen einen Tag‘, sagten sie, ‚wenn sie dann nicht tot ist, kommen Sie dran!“
„Und was haben Sie getan?“
„Meine Haushälterin war schon dreißig Jahre bei mir. Ich war früh Witwer. Sie hat meine Kinder erzogen. Ich gab mir einige Monatsgehältern und sagte, sie solle tun, als ob sie einkaufen ginge – und nie wiederkommen. Dann schloß ich die Wohnung ab und ging zum Flugplatz. – Ohne Gepäck, ohne viel Geld.“
„Sie hätten sich unter Polizeischutz stellen sollen.“
„Mein junger Freund, wem hätte ich vertrauen können? Ein Mann in Uniform ist bei uns nicht mehr unbedingt ein Hüter und ein Beschützer des Bürgers. In den Büros ist es noch schlimmer. Kann man wissen, auf welches politische Pferd der Beamte gesetzt hat? Niemand findet sich mehr zurecht. Und was noch schlimmer ist: Niemand weiß mehr, was gespielt wird. Wir alle sind die Opfer der ‚Intoxe‘.“
Intoxe = Vergiftung. In Frankreich ist dieses Wort seit Jahren Mode geworden. Gemeint ist die gezielte Erzeugung von Meinungen und Gefühlen, die Dressur des politischen Tieres.
Es gibt heute ganze Generalstäbe der ‚Intoxe‘. Offizielle, halboffizielle, private. Sie ist zur Epidemie geworden.
Ein kleines Beispiel unter Tausenden: Ich höre im Radio zwei Nachrichten. Die erste besagt, daß eine Bande der FLN sieben Europäern die Gurgel durchgeschnitten hat. In der zweiten erfahre ich, daß die Aktion eines Kommandos der OAS zwölf Opfer gefordert hat, alles Araber.
Welche Ideenverbindung entsteht?– Eine Bande ist ein unorganisierter Haufen, etwas Verbrecherisches. Die Gurgel durchschneiden gehört zu den bestialischsten Arten des Mordes. Eine Aktion hingegen ist etwas Forsches, Positives. Ein Kommando ist eine militärische Formation. Opfer kann es immer geben, wenn ein Kommando in Aktion tritt. Sie gehören logischerweise dazu, genau wie Pistole und Gewehr.
Psychologisches Ergebnis: Verbrechen + Messer + tote Europäer = FLN.
Aber: Militär + Aktion + tote Verbrecher = OAS.
Das steht natürlich im Gegensatz zu offiziell erklärten Politik. Aber gerade das soll es ja. Die Fachleute der Vergiftung sind der Meinung, daß es im Interesse des Staates liege, wenn überhaupt niemand mehr etwas versteht. Verwirrung durch ‚Intoxe‘ macht die Zensur überflüssig. Zensur ist eindeutige Freiheitsbeschneidung. ‚Intoxe’ hingegen unterhält die Illusionen der Freiheit.
„Das Palais Royal ist ein schöner Ort, dort kann man alle Mädchen heiraten. Sag‘ mir ja, sag‘ mir nein, sag‘ mir, wenn du liebst.“ Dieses harmlose Lied der Französischen Revolution erklingt vor einer Mauer in Paris, auf der die neue Revolution ihre drohenden Zeichen zieht
Stacheldraht ist überholt
„Wir sitzen in einem Konzentrationslager hinter vergifteten Antennen und Zeitungen“, sagt der alte Herr. „Stacheldrähte sind überholt. Man wirft uns nicht mehr in Ketten. Man macht uns unschädlich durch Vergiftung von Hirn und Seele. Die Industrialisierung des Geistes macht Bajonette überflüssig. Ich glaube, hier liegt die größte Gefahr für uns alle. Frankreich zeigt uns heute am besten, wie es gemacht wird – und wozu es führt.“
„Aber ihr habt doch ein paar mutige Zeitung. Die besten Europas, zur Ehre Frankreichs…“
„Das ist auch der einzige Hoffnungsschimmer. Wenn sie nicht durchhalten können…“
Unsere Köpfe stoßen zum vierten Mal zusammen. Die Taxe hat wieder einen scharfen Schlenker gemacht und ist zum Halten gekommen. Der Fahrer schreit zum. Fenster hinaus:„Dreckiger Rassist. In Algerien gibt’s wohl keine Fahrschule. Wir sind keine Araber. Wir wollen leben.“
Er beruhigt sich erst, nachdem der andere Wagen weitergefahren ist.
Wir reiben uns die Köpfe. „ Was ist denn Sie gefahren?“ fragte ich den Fahrer.
„C’est plus fort que moi – das ist stärker als ich: Jedes Mal wenn ich einen Wagen mit algerischer Nummer sehe, packt mich die Wut. Dann muß ich einfach einen Schlenker machen und ihm vor die Nase fahren. Die sollen merken, daß man sie hier nicht haben will.“
„Die Flüchtlinge?“
„Réfugiés, mon cul — Flüchtlinge, mein Hintern. Ausbeuter, Monsieur, gemeine Blutegel. Zunächst haben sie sich mit dem Schweiß der Araber reich gemacht. Wir haben Steuern geblecht und unsere Söhne nach drüben geschickt. Krieg gab’s, damit sie ihr Geld in Sicherheit bringen konnten. Und jetzt wollen sie uns hier auf Vordermann bringen.“
Er fährt weiter.
„Parken Sie doch irgendwo“, sagt der alte Herr, „was Sie da sagen, interessiert mich sehr.“
Unser Nachbar Frankreich wird innerlich vergiftet. Seine Bürger haben Angst vor dem Chaos, vor politischer Leere, vor dem Gespenst der Fallschirmjäger über Paris.
Kommunisten werden Faschisten
„Das freut mich. Ich rede so gerne. Kann ich die Uhr laufen lassen?“
„Natürlich.“
„Großartig. Wie beim Fernsehen. Bezahltes Quatschen. Das hat’s in Marseille noch nie gegeben. Sonst wären wir alle reich. Na, dann los. Was wollen Sie hören?“
„Ihre Wut.“
„ Also…“ Er holt tief Luft. Aber kein Wort kommt über seine Lippen. Er starrt uns nur mit immer größer werdenden Augen an und läßt den Atem durch die Zähne pfeifen. „Nee, meine Herren, mit der Polente will ich nichts zu tun haben. Ich hab‘ schon so genug Sorgen.“
Ich zeige ihm meinen Paß. Er läßt sich überzeugen und legt los:
„Wut haben wir alle in Marseille. Da können Sie jeden fragen. Die Algerier wollen wir nicht. Die Reichen haben ihr Geld in Sicherheit gebracht, während sie den kleinen Mann drüben zum Widerstand aufhetzten. An der ganzen Küste findet man keine Wohnung mehr, kein Stück Land. Alles aufgekauft. Spekulation im Hinblick auf die selbstfabrizierten Heimkehrer. Alles wird teurer. Durch sie. Und die meisten sind OAS. Ich höre viel im Taxi. Nicht alle flüstern wie Sie, meine Herren.“
Er macht eine Pause, um die Wirkung seiner Anklage abzuwarten. Wir schweigen. Er scheint zufrieden.
„Die weniger Reichen, die jetzt mit dem Schiff kommen, sind zu bedauern. Aber im Grunde sind sie nicht viel besser. Die wollen nicht arbeiten. Jeder will eine Kneipe oder einen Laden. Auf Staatskosten natürlich. Die fühlen sich wie Herren, weil sie ein Jahrhundert lang die Eingeborenen ungestraft in den Hintern treten konnten. Aber hier gibt es das nicht mehr. Wir sind keine Eingeborenen. Jetzt verstehen Sie unsere Wut. Die glauben immer noch, sie seien in einer Kolonie. Unser Priester hat gesagt: ‚Kolonialismus in der Heimat, das ist Faschismus‘ Er kümmert sich viel um die Flüchtlinge. Er sagt auch: ‚Das ist die Heimkehr des Terrors. Die Gewalt, die wir andere Völker fühlen ließen, kommt zurück in die Heimat in Gestalt armseliger Menschen. ‚Was halten Sie davon?“
„Sehr viel“, sagt der alte Herr. „ Ich bin selbst algerischer Flüchtling und weiß nur zu gut, daß ein Priester recht hat. Die Flut, die über Frankreich hereinbricht, ist die Rückwanderung der kolonialen Arroganz. Menschen, die zeitlebens die herrschende Klasse waren, werden sich nicht kampflos damit abfinden, irgend jemand zu sein. Ein Haifisch wird nicht zur Forelle.“
„Es wird große Schwierigkeiten geben, was?“
„Wer kann das wissen? Ich weiß nur, daß diese Flüchtlinge den rechtsgerichteten Parteien neuen Aufschwung geben werden.“
„Da bin ich gar nicht Ihrer Meinung“, ruft der Fahrer. „ In Algerien gab es immer viele Kommunisten und Sozialisten unter der europäische Bevölkerung.“
„Sie waren ebenso wie die anderen. Der Stadtteil Bab el Oued war während der Kämpfe die Festung der OAS. Früher war er die Hochburg der Kommunisten. Das besagt alles. Sobald sie ihre Privilegien als Europäer in Frage gestellt sahen, wurden die Kommunisten zu Faschisten. Und sie werden es bleiben. Das Heimweh nach dem Privilegien sorgt dafür.“
„Gibt es denn noch Chancen für eine Verständigung?“ frage ich.
„In Algerien sicher. Sobald es möglich ist – und wenn ich dann noch lebe – gehe ich zurück. Meine Kinder auch und viele andere. Wir werden mit den Arabern auskommen. Viele von uns. Aber es geht ja gar nicht um Algerien. Das beweist Ihnen die Spaltung der OAS. Die echte OAS hat immer nur ein Ziel gehabt: die Macht in Paris. Jetzt erhält sie mit den Flüchtlingen eine psychologische Reserve in der Heimat. Sie mag in den Untergrund gehen und sogar zeitweise nichts mehr von sich hören lassen. Bei der ersten ernsten Krise wird sie losschlagen. Ihr bester Alliierter ist dann die gedemütigte koloniale Arroganz. Und wie der Priester richtig sagte: ‚Faschismus ist Kolonialismus im eigenen Land‘.“
Mit weißen Handschuhen in die Zukunft
Diese Männer werden zum Kommandierenden erzogen, zu Helden gezüchtet, auf Ehre gedrillt. Sie sind Kadetten der berühmtesten Kriegsakademie Frankreichs: Saint-Cyr. Wie das ganze Heer, sind sie hin – und hergerissen zwischen Gehorsam und Heimweh nach der „Grande Nation“, zwischen de Gaulle und der OAS. Sie wollen eine junge, fanatische Armee sein, beseelt vom Geist der Kreuzzüge. Ein Lieblingslied: Ich hatt‘ einen Kameraden
Waffen für die OAS
Ich sitze in Marseille in einem Bistro. Am Nebentisch trinkt ein Seemanns Pastis. Zwei Männer kommen herein. Sie schauen sich um, mustern die wenigen Kunden und setzte sich neben den Seemann. Eine fragende Kopfbewegung in meine Richtung.
„Tourist“, sagte der Mann mit einem Blick auf meine Kamera. „Er hat eine ausländische Zeitung.“
„Seid trotzdem vorsichtig“, sagt der Dickere .
„Keine Gefahr“, sagt der Seemann, „ der war schon vor mir hier.“
Ich vertiefe mich in meine englische Zeitung.
„Der Kapitän ist einverstanden“, sagt der Seemann. „ Er will aber mehr Geld.“
„Gegenbefehl“, flüstert der Dicke. „Wir wollen zunächst keine Kerle mehr ‚rüberbringen.“
„Also abgeblasen?“
„Nein. Er soll Fracht laden.“
„Was?“
Die Stimme wird so leise, daß ich nicht verstehe.
„Das ist gefährlicher“, sagt der Seemann.
„Es darf auch mehr kosten. Aber es muß schnell gehen. Die Dinger sind jetzt wichtiger als Männer.“
„Wie viel Tonnen?“
„Hundertzwanzig. Ungefähr, versteht sich.“
„Wann braucht ihr die Antwort?“
„Heute Abend, sieben Uhr.“
„Wo? Hier?“
„Bist du verrückt? Bei Romeo.“
Der Matrose geht. Nach einer Weile sagt der Dicke in meine Richtung: „Wie spät ist es, mein Herr?“
Ich muß mich zusammen nehmen, um nicht auf die Uhr zu schauen.
Zum Töten dressiert
Ich sitze im Zimmer des Direktors einer großen Tageszeitung. Ein Mann wird angemeldet. Leutnant L. Seine Züge sind vom Wetter geprägt. Seine Haut ist von der Sonne gegerbt. So sehen Männer aus, die lange in der Wüste lebten. Er ist nervös. Mit ihm ist eine Spannung ins Zimmer getreten, die schwer ertragbar ist.
Er bittet um Hilfe: „ Die bürokratische Maschine ist zu langsam“, sagt er. „ Sie hat kein Herz. Ich muß sofort handeln, wenn ich tausend Menschen das Leben retten will.“
Er erzählt, dass er einer Spezialtruppe angehört hat, die mit der Betreuung frankreichfreundlicher Gemeinden im Inneren Algeriens beauftragt war. Obwohl die Abkommen von Evian eine Amnestie vorsehen, muß damit gerechnet werden, daß viele Einwohner von Dörfern, die sich gegen die FLN unter den Schutz des französischen Heeres gestellt haben, die Opfer persönlicher Abrechnungen werden.
„Frankreich hat sich diesen Menschen gegenüber verpflichtet, sie zu schützen. Ich habe mein Wort gegeben, sie zu retten. Angesichts des Unverständnisses meiner Vorgesetzten bin ich aus dem Heer ausgeschieden, um auf eigene Faust Hilfe zu organisieren. Ein ganzes Dorf wird ausgerottet werden, wenn ich nicht sofort etwas unternehme. Ich habe schon das Land, wo diese Berber Schafzucht treiben können. Jetzt brauche ich noch Geld für den Transport. Helfen Sie mir in durch einen Aufruf in Ihrer Zeitung.“
Seine Augen brennen. Die Hände sind wie zum Gebet erhoben. Ein echter Missionar könnte nicht mystischer aussehen. Er hat den Blick jener Männer, die sich engagieren müssen, weil sie an die große Bruderschaft der Menschen glauben.
Der Direktor scheint einen anderen Eindruck zu haben. Er belächelt den Eifer des Leutnants. „Wenn man heute allen Leuten helfen würde, die sich in Gefahr glauben…“
Weiter kommt er nicht. Der Offizier ist aufgestanden und verläßt den Raum.
Ich wundere mich nicht, als ich ihn einige Minuten später in einer Ecke des Treppenhauses weinen sehe.
„Ich schlafe schon seit Tagen nicht“, sagt er. „Ich kann nicht mehr. Gott wird mir nicht verzeihen können, wenn ich diese Menschen verlasse. Sie haben mir ihr Leben anvertraut.“
„Man wird sich sicher zunächst um die europäischen Flüchtlinge kümmern wollen.“
„Nein, das ist es nicht. Haben Sie nicht den höhnischen Ausdruck in den Augen des Direktors gesehen? Jedes Mal bin ich diesem Hohn begegnet. Diese Leute glauben, meine Berber seien nur ein Vorwand, um OAS-Kommandos nach Frankreich zu bringen. Jeder weiß, daß man im Augenblick Männer und Waffen herüber schmuggelt. Sie wissen sicher auch, was für Gruppen OAS-Chef und Ex-Oberst Godard und seine Freunde ausbildeten, als sie noch die Leiter unserer psychologischen Kriegsführung waren?“
Ja, ich weiß. Es ist eines der traurigsten Kapitel des algerischen Krieges: Sie suchten unter den gefangenen Rebellen die brutalsten aus und verurteilten sie zu Tode. Dann sagte sie: „Ihr braucht nicht zu sterben, ihr könnt sogar frei sein, wenn ihr uns dient.“ Wer sich weigerte, wurde aufgehängt. Wer annahm, tat es meistens mit der Idee, bei der ersten Gelegenheit überzulaufen. Um diese Möglichkeit radikal auszuschalten, wurden die neuen Rekruten gezwungen, ein paar Dutzend Glaubensgenossen zu ermorden und gefangene Rebellen zu foltern. Anschließend teilten die psychologischen Krieger dann der FLN die Namen der Täter mit. Und heute können diese Araber nicht in Algerien bleiben. Sie müssen in Frankreich untertauchen, wenn sie leben wollen. Aus Furcht vor Rache und Strafe sind sie für immer jenen Ex-Offizieren ausgeliefert, die sie zum Morden dressierten.
„Mit 50 Kerlen terrorisiere ich ganz Paris“, rief Lagaillarde, der Chef der Barrikaden, schon 1959. „Ich bringe 25.000 Polizisten zur Verzweiflung. Ich verbreite Furcht und Schrecken. Glauben Sie mir…“
Damals wollte er nur beweisen, daß die FLN nicht existiert und 50 entschlossene Männer den Anschein der Stärke geben können. Aus beschlagnahmten Dokumenten weiß man heute, daß dieser hingeworfene Satz mittlerweile ein Bestandteil der OAS-Strategie geworden ist.
Die Fremdenlegion darf nur in Übersee eingesetzt werden. Frankreichs Kolonialreich zerfällt. Es gibt Arbeitslose auf dem Markt des Krieges
Eine Professorin, die sich seit Jahren mit Algerien beschäftigt und de Gaulles Politik aktiv unterstützt, sagte uns hierzu: „Wenn diese Mörder nach Frankreich kommen, muß man sich auf alles gefaßt machen. Stellen Sie sich vor, daß jeden Morgen ein paar Kinder auf dem Schulweg erwürgt werden. Regelmäßig, unerbittlich. Tag für Tag während Wochen. Welcher Familienvater würde seine Kinder noch zur Schule schicken? Oder Züge entgleisen, Flugzeuge explodieren, Granaten krepieren in Untergrundbahnen. – So kann man eine Nation zur Panik treiben, glauben Sie mir. Ein einziger Mörder, der alle paar Tage eine Frau überfällt, kann eine Stadt zur Hysterie treiben. Das hat es schon gegeben. Es waren Sadisten oder Irre. Aber stellen Sie sich vor, so etwas wird kalt berechnet und systematisch durchgeführt. Es ist nicht auszudenken, was dann geschehen mag. Die OAS hat in Algerien gezeigt, daß sie vor nichts zurückschreckt. Sie tut, was sie für zweckmäßig hält. Wenn diese Wirksamkeit und Zweckmäßigkeit zu Göttern werden, ist der Mensch verloren.“
Es ist erschütternd. Diese Frau ist sieben Jahre lang öffentlich für ein freies Algerien eingetreten, und jetzt muß sie einsehen, daß es weniger um Algerien ging, als um ihr eigenes Land. Um die Freiheit in Frankreich.
Ohne de Gaulle: Chaos
„Ich hoffe nur, daß wir de Gaulle nicht verlieren“, sagt sie. „Ich bin überzeugt, daß er der einzige ist, der uns vor dem Chaos retten kann. Der Staat darf nicht zusammenbrechen.“
Ich möchte jetzt rufen: Aber der Staat ist bereits zusammengebrochen, Madame! Es gibt keinen Staat mehr in Frankreich. Niemand fühlt sich mehr an Gehorsam gebunden oder an die Pflichten seiner Funktion. Es gibt keine Justiz mehr, keine Polizei, kein Heer, kein Parlament, keine Regierung. Was sich so nennt sind Verschwörerzentralen und Nester tödlicher Rivalitäten. Es gibt nicht einmal mehr eine demokratische Auseinandersetzung. Es gibt nur noch Abrechnungen – und viele Tote.
Ja, Madame, es gibt nur noch Charles de Gaulle und das Volk. Alles was dazwischen liegt, ist faul. Und je mehr de Gaulle direkt ans Volk appelliert, mit erhobenen Armen und zitternder Stimme, bettelnd und drohend ein „ Ja“ erpressend, umso fauler wird der Staat. Er kann nicht gesunden, wenn seine Werkzeuge vergewaltigt werden und der Bürger nur noch ja sagen kann – aus Angst vor Chaos, vor politischer Leere, vor dem Gespenst der Fallschirmjäger über Paris.
Aber warum soll ich es ihr sagen? Sie weiß es, wie alle Franzosen, mit denen wir gesprochen haben. Es ist die bittere Erfahrung jedes Tages. Es steht in Zeitungen, die nicht „Intoxe“ spielen und den Mut zur Offenheit haben, in vielen Büchern. Es ist das Thema der Studiengruppen aller Tendenzen: „Wie können wir de Gaulle überleben?“ fragen sie. „Wie kann der Staat wiedergeboren werden?“ „ Worauf können wir aufbauen?“
Mit nackten Händen vor der Vergangenheit
Sobald zwei Franzosen eine Sache gemeinsam vollbracht haben, gründen sie einen Verein. Ein Vorwand zu festlichen Gelagen. Den größten Verein bilden die Veteranen. Sie verlieren keine Gelegenheit, um ihre Orden abzustauben und in Erinnerungen zu schwelgen. Verdun, Douaumont,Isère. Das ist ihr Frankreich: gewonnene Schlachten. Aber der algerische Krieg ist eine andere Welt. Hier haben ihre Medaillen keinen Kurs mehr
Die Regierung? – Sie ist nicht mehr der Ausdruck einer parlamentarischen Mehrheit. Sie besteht aus Männern, die von de Gaulle ernannt werden, die ihm gehorchen müssen oder entlassen werden.
Die Armee?- Sie ist nicht mehr der Hüter der Nation, ein überparteiischer Schutz der republikanischen Institutionen. Es sind Männer in Uniform, die Politik machen. Offiziere, die sich w Icheder für noch gegen die OAS aussprechen, weder für noch gegen de Gaulle – zunächst. Bewaffnete Gruppen, die sich befeinden und an die Macht wollen. Generäle, die ihre politische Meinung über den Gehorsam stellen. Soldaten, die ihre Offiziere verhaften.
Die Polizei? – Sie kennt nur noch ein Motto: Wirksamkeit. Sie urteilt und bestraft. Sie ist Richter und Henker. Bei Demonstrationen sorgt sie nicht für Ordnung. Sie geht zur Gegendemonstration über mit Knüppel, Granaten und Gewehr. Sie verteidigt nicht. Sie greift an. Sie ist ein politisches Instrument geworden, in dem feindliche Gruppen sich zerfleischen.
Die Justiz? – Die Richter sind nicht mehr unabsetzbar. Die Trennung von Exekutive und Justiz ist abgeschafft. De Gaulle ernennt die Richter. Sie müssen gehorchen oder werden abberufen. Die Justiz wird zum Diener der Macht.
Das Parlament? – Es wird nicht mehr befragt. Die Entscheidung werden von de Gaulle getroffen und dem Volk direkt unterbreitet. Jeder wird sein eigener Abgeordneter. Fernsehen und Wahlurne ersetzen die Volksvertretung. Es gibt keine Wahl mehr außer Ja und Nein, de Gaulle oder nicht de Gaulle. Das Referendum wird zum Plebiszit, zur Waffe gegen Parlament, Parteien, Politiker. Es soll das Volk zwingen, die demokratischen Institutionen für überflüssig zu halten und zu verachten.
Wenn Säbel und Weihwedel zusammengehen, ist die Freiheit im Eimer – sagt der Volksmund. Heute ist der Weihwedel fortschrittlicher als der Säbel. Unter den fanatischen Verteidigen der französischen Demokratie findet man viele Priester
Inflation der Geheimdienste
Wie ist es dazu gekommen?
In einer ausgesprochenen Diktatur, mit Einheitspartei und Schwur auf den Führer, halten Gefolgschaft und Polizei den Staat zusammen. Die gaullistische Diktatur hingegen basiert nicht auf Gleichschaltung und Gewalt. Sie ist Ausdruck einer politischen Leere. Keine der politischen Gruppen ist stark genug, Verantwortung der Macht zu tragen. Und keine hat den Mut zur Verantwortung. Nur deshalb kann ein Mann es sich erlauben, allein alle großen Entscheidungen zu treffen und den Staat zu verkörpern.
Niemand jedoch, der nicht direkt an ihn gebunden ist, der ihn liebt oder verehrt, wird sich verantwortlich fühlen oder zu Gehorsam verpflichtet.
Das gilt nicht nur für de Gaulles Gegner. Selbst die Gaullisten bilden viele sich bekämpfende Gruppen und Grüppchen, von denen jede glaubt, die Doktrin de Gaulles zu verkörpern, aber keine weiß, was er wirklich denkt. Er hat zu oft eine Politik gepredigt und eine andere verfolgt. Das ist „Intoxe“ auf höchster Ebene.
Selbst Premierminister Pompidou ist „nur ein Berater, dem manchmal Gehör geschenkt wird“, wie eine gaullistische Zeitung schreibt. „Das ist ein Privileg“, fügt sie hinzu. „Die Funktion Pompidous gleicht der eines Hofministers dank der persönlichen Beziehungen, die ihn mit dem Staatschef verbinden.“
Saint Cyr wurde im Kriege ausgebrannt. Die Kriegsschule mußte in die Bretagne verlegt werden. Einmal im Jahr pilgern die Kadetten nach Paris und hören eine Messe in der „Église des Invalides“. Diesmal sprach der Priester vom Gehorsam
Ersetzen wir das Wort Staatschef durch König – und wir haben das richtige Klima. Ganz Frankreich parodiert de Gaulle als einen absoluten Monarchen. Die Minister sind seine Diener, Sein „Ministerium“. Seine Vasallen buhlen um seine Gunst. Sie haben sich unterworfen, aber sie gehorchen nicht. Alle herrschen in ihren Domänen nach seinem Vorbild: absolut. Sie kämpfen erbittert untereinander, zum Wohlgefallen des Herrschers. Solange sie uneins sind, kann er regieren. Intrigen, Messer, Spione, Söldner, Kondottiere und gedungene Mörder vervollständigen das farbige Bild eines Fürstentums der italienischen Renaissance.
Manche Franzosen finden das romantisch. Aber wir befinden uns im 20. Jahrhundert. Ein Pariser Journalist schreibt: „Vorige Woche wurde ein Offizier, der nach dem April-Putsch verurteilt worden war, von früheren Kameraden aufgesucht. Sie wußten, daß er einmal mein Vorgesetzter gewesen war und weiterhin mit mir in Verbindung steht. Sie verlangten von ihm, ‚in seinem Interesse‘, daß er mich zu einem Rendezvous führte, wo mir ein natürlicher Unfall zustoßen würde.
Wer waren diese Herren? Agenten des Staates, Mitglieder dieser neuen parallelen Polizei, die über beträchtliche Gelder verfügt, niemandem Rechenschaft schuldet und in die sich Ausgestoßene des Heeres und Kriminelle drängen, wenn sie dort größere materielle Vorteile finden als bei der OAS: les Barbouses.“
Die „Barbousen“ überwuchern ein Land wie Unkraut, wenn die demokratische Auseinandersetzung durch Verschwörung abgelöst wird, wenn Staatsstreich, Unterwanderung, Intoxe und Mord als die letzten Waffen im Kampf um die Macht gelten. Im Namen der Wirksamkeit.
Es handelt sich nicht um einen zentral geleiteten Geheimdienst, wie jeder Staat der Welt ihn unterhält. Auch davon gibt es ein halbes Dutzend in Frankreich. Es handelt sich um Organisationen, die mit Staatsgeldern von Ministerien, Politikern und mysteriösen Gruppen unterhalten werden und nur ihren Auftraggebern Rechenschaft schulden. Offiziell sollen sie den Staat vor Verschwörern schützen und Terror mit Terror, Mord mit Mord bekämpfen. An sich schon eine seltsame Auffassung des politischen Kampfes. In Wirklichkeit sind sie die Handlanger ihrer direkten Geldgeber. Söldner der politischen Unterwelt, das sind die „Barbousen“.
Sie machten schon zu Zeiten der Vierten Republik von sich reden. In Deutschland sprengten sie Politiker, Waffenhändler und Diplomaten in die Luft, die Verbindungen zur FLN unterhielten. Sie nannten sich „die rote Hand“.
Andere beschossen Salan mit einer Panzerfaust, als er noch Oberbefehlshaber der französischen Truppen in Algerien war. Er stand Verschwörern im Wege zur Macht. Sie verfehlten ihn.
Wiederum andere Gruppen bereiteten de Gaulles Machtergreifung vor – ohne oder mit seinem Wissen. Darüber wird in Frankreich noch gestritten.
Immer wurden sie von Paris aus ferngesteuert. Von wem? Niemand weiß es? Doch, viele wissen. Aber wer kann es sagen? Es gibt keine Beweise. Zu viele Mitwisser decken einander.
Ihr größtes Feuerwerk ließen die Barbousen in Algerien in die Luft gehen. Hier schossen sie nach links, nach rechts, Gruppen gegen Gruppen und gemeinsam gegen die OAS. Jede organisierte den Gegenterror auf ihre Weise: Bomben flogen in europäische Bars und Cafés. Frauen und Kinder starben. Folter, Hinrichtungen, Strafexpeditionen gehörten zum Tagespensum. Und um nicht aus der Übung zukommen, wurde auch mal auf die Polizei geschossen. Man war ja politisch gedeckt – in Paris.
Diese Organisationen, die parallel laufen, sich überschneiden, sich beschießen, Hand in Hand arbeiten und für den Terror geschult sind, kehren jetzt heim, genau wie die Flüchtlinge, die OAS, die Mörderkommandos, die Folterer.
Frankreich wird die Geister nicht los, die es im Krieg um Algerien rief.
(Obwohl ich kaum einen logischen Zusammenhang zum Inhalt dieser Reportage verstellen kann, füge ich der Vollständigkeit halber auch dieses Foto der Reportage hinzu.)
Die Tochter des Forstmeister Mirandon ist die beste Schülerin Frankreichs in Griechisch. In allen französischen Schulen werden Wettbewerbe mit Preisen und Plätzen durchgeführt