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Weg mit den Alten! III

Stern, Heft 28, 15. Juli 1962

Frankreichs Jugend meutert. Sie fühlt sich von den Alten betrogen. Gordian Troeller und Claude Deffarge berichten über das Generationenproblem in unserem Nachbarland Frankreich

Unrast beherrscht die Jugend. Diese Mädchen fliehen hilflos in ein bitteres „süßes Leben“

Die Baskenmütze war der Stolz des biederen Patrioten. Auf dem Kopf der Fallschirmjäger wird sie zum Orden der Männlichkeit. Die Stirn ist nicht mehr wichtig.
„Wir denken nicht. Wir stürmen“
Sehnsucht nach Koppeln, Bluejeans und schwarzen Lederjacken. Dieses Häufchen Mann träumt jetzt schon von dem Tag, an dem es seine Ratlosigkeit in die Uniform der Revolte stecken kann
Spitze Schuhe für präzise Tiefschläge. Sie sind Bestandteile einer Tradition der Pariser Vorstädte, des Apachenboxens: „la savate“. Entscheidende Schläge werden mit den Schuhen geführt. Heute noch
Lieben! Egal wie. Egal wo. Man braucht Selbstbestätigung. Am Rande der Gesellschaft, wenn es dort leichter fällt. Nur nicht allein sein, allein mit seiner Unsicherheit und der Angst vor dem Leben
Die behütete Jugend aus gutem Hause hat es leichter, mit der Lebensangst fertig zu werden. Sie hat eine Zukunft. Und wenn sie sich auflehnt, wählt sie die Politik. Das sieht nobler aus. Selbst wenn man Bomben wirft
In den Dörfern tobt sich die Jugend im Tanz aus. Mädchen müssen nicht sein. Krach und Verrenkungen genügen, um zu beweisen, daß man jemand ist. Für Politik interessiert sich die Dorfjugend nicht. Sie nennt sie dreckig und verlogen
Ein Drittel der Franzosen sind Kinder. Die Regierung hat systematisch Geburtenpolitik betrieben. Selbst Mittel zur Empfängnisverhütung wurden verboten. Aber es gibt nicht genug Schulen, zu wenig Universitäten, kaum Sportplätze

Der „Platz des Theaters“ liegt wie ein großes Schiff im Zentrum von Montpellier. Es ist der größte Kindergarten, den ich kenne. Die Kinder sind schon etwas alt. Sie lutschen nicht mehr an Schnullern. Sie trinken Wein, Whisky, Pernod oder Coca-Cola. Ihre Gouvernanten sind Kellner, ihre Kinderwagen Motorräder und Jaguars. – Es sind Studenten. Ein Drittel der Bevölkerung von Montpellier sind Studenten.
Wir sitzen auf der Terrasse eines Cafés. Um uns stehen und sitzen junge Männer und ein paar richtige Kinder. Dreißig ungefähr. Die Brigitte Bardots, die vorübergehen, versuchen die Blicke der Jungen auf ihre rollenden Hüften zu ziehen. Nichts. Hier wird diskutiert. Nervös. Die Worte knistern vor Spannung.
„Wir ziehen ihnen die Haut ab.“ — „Schweine — Waschlappen. Da wird mir übel…“
Der Lange spuckt auf meinen rechten Schuh. Keine Entschuldigung. Kein „Pardon, Monsieur.“ Nicht einmal ein Blick in unsere Richtung. Wir sind Fremdkörper in einem Wesen, daß hier aus Schimpfworten und Zorn geboren wird: eine Gruppe. Sie hat jetzt schon den unberechenbaren Charakter jeder Masse. Es wird nicht mehr gedacht. Es wird gebellt.
„Hunde – ja, Hunde“, bellen sie und stürzen sich auf die Mitte des Platzes, wo ein Dutzend Studenten herumsteht und debattiert.
Die Schläge fallen. Schimpfworte. Als wir hinzukommen, wird nur noch stumm gekämpft. Wir sind nicht die einzigen Zuschauer. Etwa hundert junge Menschen haben einen Kreis gebildet und gaffen.
„Des cons“, sagt mein Nachbar, „des énervés“. A quoi ça sert?“— Idioten, Hitzköpfe. Wozu ist das gut?“
„Man kann nie wissen“, sage ich.
„Ideen“, meint er, „die schlagen sich für Überzeugungen. Oh, die Armleuchter.“

Prügel statt Argumente

„Warum denn gleich auffallen?“ sagt ein anderer.
„Die sollen mehr saufen, dann käm’s nicht soweit“, meint ein dritter.
Einige Schritte weiter steht ein Pärchen. „ Du gehst nicht, nein, du darfst nicht gehen“, fleht das Mädchen. „Du hast es versprochen.“
Der Junge beißt sich auf den Lippen. Seine Hände wühlen in den Taschen.
„Und die Freunde?“
„Und ich?“
„Sie sind 10 gegen 15!“
„Ich schreie“, sagt sie mit eiskalter Stimme. Ich sehe nur noch diese beiden jungen Menschen. Hier ist der Kampf dramatischer als dort im Kreis. Bewußter. Sie schauen sich wortlos an. Hier gibt es keine Gruppe, keine Hysterie. Nur einen Mann, der wählen muß.
Und plötzlich schreit er laut und schrill:
„Nein — nein. Deine Feigheit kotzt mich an“, und stürzt sich unter die Kämpfenden.
„Stell dir vor, die glauben an was“, sagt der Nachbar. „Anstatt zufrieden zu sein mit ’ner, Göre, wie Sie.“
„Alles Angeber“, sagt noch einer.
„Moi, je m’en fous. – Mir ist das vollkommen schnuppe. Ich hab’ Wichtigeres zu tun.
Er geht. Ich schaue ihm nach. Kleine, präzise Schritte. Weißer Kragen. Kaufhauseleganz. Ein junger Mann, der vorwärts kommen will.
Zehn Jungen kommen ihm entgegen. Bluejeans, schwarze Jacken aus Leder, offene Hemden bis zum Nabel, Cowboy-Koppel mit schweren Schlössern, lange gewellte Haare. Sie gehen langsam mit hängenden Armen. Ihre Texasstiefel scheinen das Pflaster wollüstig schlürfen zu wollen. Auf ihren gewölbten Schultern tragen sie eine, ich weiß nicht welche, erdrückende Welt. Sie kommen wie Raubtiere, und der Kreis öffnet sich ohne Widerspruch.
Sie sagen kein Wort. Sie schlagen nur stumm auf die Kämpfenden ein. Mit ihren Koppeln, ihren Fäusten. Sie ergreifen nicht Partei. Sie hauen dazwischen. Nach links, nach rechts. Wenn Hände jubeln können, dann tun sie es hier, mit verbissener Freude.
Ich pirsche mich an einen älteren Herrn heran und frage, welches Kriegsspiel hier geübt wird.

Toleranz ist Kapitalismus

„Das Übliche“, sagt er, „ eine politische Rauferei. Das heißt, sie war politisch, bis jetzt. Die Studenten schlagen sich, Rechte gegen Linke. Korporierte gegen Gewerkschaftler, französisches Algerien gegen algerisches Algerien. Dann kommen die Schwarzjacken hinzu und hauen auf alle ein. Die verpassen keine Gelegenheit.“
„Kommt es oft vor?“ frage ich.
„Die Jugend bezieht Stellung“, sagte er und klopft auf sein fünfzigjähriges Herz. „Wir sind die jüngste Nation Europas, Monsieur. Frankreich erlebt eine demographische Explosion sondergleichen. Bald werden 40 % aller Franzosen unter 25 sein. Die alte Lokomotive kommt wieder unter Dampf. Zu viel Dampf. Sie muß platzen.“
Ich mache ihn darauf aufmerksam, daß die Mehrzahl zuschaut und eher auf dem letzten Loch pfeift.
„Hier haben Sie das Abbild Frankreichs“, sagt er.„ Auf diesem Platz. Das Abbild unserer Jugend. Zwanzig Prozent Patrioten. Fünfzehn Prozent Linke. Zehn Prozent Halbstarke und Verbrecher. Und die Zuschauer, die weichen, die lauwarm-vorsichtigen. Wenn ich jung wäre, würde ich drauflos schlagen.“
Aus seinem Knopfloch strahlt die rote Rosette der Ehrenlegion. Er trägt eine Baskenmütze.
Die Schlägerei ist zu Ende. Ich murmele ein paar höfliche Worte und verabschiede mich. Die Jungen sollen mir selber sagen, was sie denken.
Also. Ich zeige mich wieder auf der Terrasse. Es ist das Café der Rechten. Man spricht erregt. Man kommentiert die Schlacht.
„Die Schwarzjacken könnten unsere Brüder sein.“
„Die fressen die Schläge mit einem Lächeln.“
„Wenn die nur Ziele hätten.“
„Verbrecher.“
Ich versuche mich ins Gespräch zu mischen. Zweimal geht es schief. Man ignoriert mich einfach. Aber dann geht es los. Man flucht. Man schimpft. Man nennt mich einen Polizeispitzel, einen Provokateur, einen Kommunisten. Ein Schwein, wenn ich mich recht erinnere.
„Journalist.“
„Ha ha – die sind alle Schweine. Käufliche Waschlappen…“
„Man könnte doch wenigstens diskutieren“, meine ich.
„Quatsch. Die Zeit des Handelns ist gekommen. Hauen Sie ab.“
Ich haue ab.
Auf der anderen Seite des Platzes ist das Café der Linken. Ich zeige mich dort. Sie haben keine Terrasse. Sie sitzen in einem Glaskasten. Überall in Frankreich ist es das Gleiche: die Rechte liebt frische Luft, Gesundheit und pflegt ihr Äußeres. Die Linke raucht und diskutiert in verqualmten Kneipen.
Ich stelle mich vor. Man ist vorsichtig. Man will meine Papiere sehen und stellt viele Fragen. Dann werden drei ausgesucht. Wir setzen uns. Von Fotos wollen sie nichts wissen.
„Für oder gegen die OAS. Für oder gegen den Faschismus. Wir verteilen antifaschistische Flugblätter. Die anderen malen OAS an die Wände und bilden Kommandos. Wir haben Gegenkommandos organisiert. Nicht nur zur Selbstverteidigung. Wir greifen jetzt an. Früher versuchten wir mit der Rechten zu diskutieren. Es ist sinnlos geworden. Die wollen nicht diskutieren. Die wollen Recht haben.“
„Haben die nichts zu sagen?“
„Doch. Immer dasselbe, die gleichen Schlagworte: die ewigen Werte Frankreichs. Wir, die Linke, wir sind die Saukerle, die Frankreichs Ideale verschachern, die Weiber, Päderasten, Schmutzfinken, Proleten, Kommunisten. Wie wollen Sie da noch einen Dialog zustande bringen. Toleranz ist Kapitulation, sagen sie. Es kann keine Diskussion geben.“
„Und ihr?“
„Wir zerbrechen uns den Kopf. Wir studieren die Probleme, die unsere technologische Revolution mit sich bringt und versuchen Antworten zu finden. Die Sie hier sehen, sind keine Kommunisten. Sie haben ein festes System und handeln wie die Rechte. Wir versuchen die Widersprüche zu harmonisieren. Wir wollen Demokraten sein. Das ist nicht einfach, manchmal beneide ich die Jungs von drüben. Es ist so einfach zu ‚glauben‘.“
Bis jetzt hat nur einer gesprochen. Ein anderer fällt ihm ins Wort:
„Und weil wir nachdenken, gibt es bei uns viele Gruppen. Die Linke ist keine Front. Sie besteht aus hundert Varianten des gleichen Themas: Wie organisieren wir unsere moderne Gesellschaft unter Beibehaltung der Freiheit?“
„Wenn Sie mich fragen: ich bin froh, daß alle schlummernden Faschisten durch Algerien und die OAS in Bewegung kommen. Das zwingt uns, eine Front zu bilden und unsere Ziele klar zu definieren. Endlich.“
„Wollt ihr damit sagen, daß es heute in Frankreich zwei fest umgrenzte Blöcke gibt?“ frage ich.
„Es gibt einen soliden Block: die Rechte. Eine werdende Front: die Linke. Und dann gibt es die große Gruppe der Langspielplattenspieler.“
„Langspielplattenspieler?“
„Ja, alle die sich nicht engagieren und vorsichtig an ihrer Karriere basteln, während sie Musik hören.“
„Die müssen doch auch Ideen haben, selbst wenn sie nicht offen Stellung beziehen“, sage ich.
Jetzt wird die Diskussion lebhaft: Man kann sich nicht einigen. Ist die Mehrheit OAS-freundlich oder antifaschistisch? Andere Studenten kommen hinzu.
„Aus blindem Antikommunismus können viele Faschisten werden“, ruft einer dazwischen.
Damit sind alle einverstanden.
„Wir müssen die gleichen Methoden anwenden wie unsere Gegner. Sie niederknüppeln. Sie isolieren. Die Straße muß uns gehören.“
Laute Wortwechsel. Alles sprich durcheinander: „Ich bin kein Kommunist.“ – „Wohin führt das?“ – „Weichlinge…“
Man hat mich vergessen. Ich schaue noch eine Weile zu, wie die „hundert Varianten des gleichen Themas“ sich nicht einig werden. Dann verlasse ich die Kneipe.
Es ist Nacht. Zwei leichte Motorräder fahren haarscharf an mir vorbei. Mit offenem Auspuff. Fünf folgen. Auf jedem sitzen zwei Schwarzjacken. Der Lärm ist unerträglich. Sie machen den „bluff à la vitesse“ (den Bluff der Geschwindigkeit), wie sie es selber nennen. Der Krach soll Ihnen das Gefühl großer Geschwindigkeit geben. Wenn sie vierzig fahren, ist es viel. Aber sie haben die Haltung von Rennfahrern.
Was suchen sie in Lärm, Gewalt, Geschwindigkeit, im Bluff gefährlich zu leben? – Nichts. – Sie fliehen. Sie rennen davon vor dem Leben, das sie nicht entziffern können. Sie können nicht verkraften, was sie nicht verstehen. Lärm und Gewalt betäuben ihre Verzweiflung. Der Bluff erlaubt zu leben.
Ich überquere den Platz. Gruppen gehen ins Kino. Pärchen küssen sich. In einer Telefonzelle scheint man sich nicht nur zu küssen. Als ich langsam vorübergehe, ruft der Junge:
„Sale vicieux – Lustmolch. – Du möchtest wohl auch ein bisschen abhaben?“
Das Mädchen kichert. Drei Gestalten kommen hinter den Bäumen hervor. Ich gehe schneller. Eine der Gestalten geht in die Telefonzelle und löst den Jungen ab.
Fünfzig Meter weiter sitzen zwei Mädchen auf einer eleganten Caféterrasse. Sie sind ungefähr 20.
„J’en ai marre – Ich habe die Nase voll“, sagt die eine.
„Interessiert dich denn gar nichts mehr?“
„Sag mir, was der Mühe wert ist.“
„Die Liebe?“
„Une connerie – Eine Dummheit. Ich weiß, wovon ich rede.“
„Ein Beruf?“
„Wozu?“

Rekruten des Faschismus

Ich komme an meinen Wagen. Er steht nicht weit von dem Café entfernt, aus dem ich rausgeschmissen wurde. Zwei Jungen warten auf mich.
„Sie waren bei den Linken?“
„Ja.“
„Sie wollen diskutieren?“
„Ja.“
Ein Faustschlag erwischt mich im Magen. Zwei andere im Gesicht. Dann bin ich allein.
In Paris habe ich mehr Glück. Hier ist die Lage nicht so angespannt wie in Montpellier, einer Hochburg der OAS. Ich habe mir vorgenommen, herauszufinden, was jene jungen Menschen denken, die eines Tages die Truppen des Faschismus werden könnten. Fünf Schüler und Studenten dieser Tendenz haben sich bereit erklärt, meine Fragen zu beantworten.
„Wir sind froh, daß man in Deutschland endlich erfährt, was wir wollen. Was hier passiert, geht auch die deutsche Jugend an. Auch sie wird einsehen müssen, daß der Wohlstand keine Ideale ersetzen kann.“
„Es fragt sich, welche…“
Die fünf Jungen setzen sich. Drei sind sehr sportlich. Zwei sehen aus wie typische Intellektuelle. Ihr Alter: zwischen 17 und 19.
Ich frage: „Welches ist für euch heute das Hauptproblem Frankreichs?“
A: „Das Fehlen einer starken Regierung.“
B: „De Gaulle. Er macht das Spiel der Kommunisten. Wenn er lange an der Macht bleibt, müssen die Gegensätze sich zuspitzen. Er trägt die Demokratie zu Grabe, die schon lange im Sterben lag. Das ist nicht schlecht. Aber anstatt ein starkes System an ihre
Stelle zu setzen, bereitet er die Katastrophe vor.“
C: „Er entscheidet sich nicht. Weder für Demokratie noch für Diktatur. Er will ein Vater sein. Von denen haben wir genug.“
D: „Bald wird es nur noch die Kommunisten und uns geben.“
Ich werfe ein: „De Gaulle mag versuchen, seine Macht zu festigen, indem er die Linke hinzuzieht und somit sein Regime demokratisiert.“
B: „Wenn sich die Linke entscheidend an der Regierung beteiligt, fällt die Armee endgültig um. Sie geht zur OAS über.“
A: „De Gaulle kann machen, was er will. Es liegt in der Natur der Dinge, in der ganzen Welt übrigens: Die große Auseinandersetzung wird zwischen uns und den Kommunisten ausgetragen.“
Ich sage: „Das erstaunt mich. Auf meiner Reise durch Frankreich habe ich festgestellt, daß wenigstens siebzig Prozent der Bevölkerung kein politisches Interesse mehr zeigen.“

Wir spucken auf ihre Gräber

E: „Wie sollte es auch anders sein. Die Vierte Republik war eine Schweinerei. Sie hat die Politik entwertet. De Gaulle hat die Politik dann überflüssig gemacht. Sobald die Unpolitischen jedoch merken, daß ihnen keine andere Wahl mehr bleibt als Kommunismus, Volksfront – wenn Sie wollen – oder OAS, dann wird der Großteil für die OAS sein. Glauben Sie mir. Genau wie die Armee.“
Ich frage: „Und wenn die Linke kämpft? Generalstreik kann eine gefährliche Waffe sein.“
C: „Die Gewerkschaften haben keinen Kampfgeist mehr. Vielleicht die katholischen Gewerkschaften. Aber glauben Sie, die würden für die Kommunisten ins Feuer gehen?“
„Für die Demokratie…“, sage ich.
E: „Quatsch. Davon hab’ ich auch geträumt. Sie ist nicht zu verwirklichen. Sie führt zur Dekadenz.“
A: „Ein Gewerkschaftler kämpft nur, wenn er Hunger hat. Bei uns frißt jeder mehr, als er vertragen kann.“
Frage: „Ihr steht alle rechts…“
Protestrufe. Alle reden zur gleichen Zeit. Ich fasse zusammen, was sie sagten: Sie sind keine „Reaktionäre“. Das Wort verbitten sie sich. Sie gehören nicht zur traditionellen Rechten. Sie wollen Sozialismus. Ja, Kollektivierung des Bodens, wenn es sein muß, Zerschlagung des Großkapitals, die Liquidierung der Banken und ihrer Lakaien, der Politiker, wie sie sagen. Aber alles muß national sein. Patriotisch. Im Namen eines starken Frankreichs und seiner zivilisatorischen Mission. Sie wollen säubern.
Nachdem der Sturm sich gelegt hat, frage ich, was sie unter Sauberkeit verstehen.
E: „Auf dem Lyzeum lernten wir erbauliche Geschichten. Da gibt es Jungen, die es vorziehen, ihre Hand von einem Fuchs fressen zu lassen, anstatt ihr Wort zu brechen.
Und wenn man seinen Kopf hinhalten will, für ein gegebenes Wort oder eine Idee, dann schreien Mama, Papa und alle ihre Freunde: ‚Fais pas le con – Sei kein Idiot. Nur nicht auffallen. Schau, wo der Wind herkommt. Starrköpfe kommen nicht vorwärts.’ „Vorwärts… Wohin?“
A: „Ja. Und man liest ‚Tristan und Isolde‘ und all diesen Käse. Und wenn dein Schnurrbart sprießt, nimmt Papa dich zur Seite. Ein Männergespräch. Und du bist verflucht stolz. Er muschelt, daß Liebe ja ganz schön sei, dass er aber den physischen Drang verstehe, der dir zu schaffen macht. Er ist ein wenig geniert, der gute Papa, aber er ist bereit, dir zu helfen. Es ergibt sich gerade, daß er eine gute Adresse kennt. Ja, er kann dir sogar den Eintritt erleichtern. Ein Augenzwinkern: ‚Ja, Mutti liebe ich natürlich. Aber du verstehst. Das Leben. Man kann doch nicht immer das gleiche Gericht essen. Selbst wenn Beefsteak gut ist, braucht man mal ’ne Hammelkeule. Haha. Wir wissen doch, wir sind alle schwach. Unter Männern und so braucht man sich doch nichts vorzumachen. Haha.‘ – Wissen Sie, was passiert? Man kotzt.“
B: „Bei mir ist es genau umgekehrt. Wenn das Wort Sexualität fällt, kriegen alle Genickstarre. Sowas ist vulgär. Das ist nur für unsere Dienstmädchen gut.“
C: „ Meine Mutter… Aber reden wir nicht von Frauen. Sie haben nur eine begrenzte Aufgabe in der Gesellschaft. Bleiben wir bei unseren Vätern. Meiner scheint mir typisch: Vor dem Krieg war er für die Volksfront. Als Offizier riß er vor den Deutschen aus, von Breda bis bei Bayonne. Dann war er Anhänger Pétains und Kollaborateur. Im letzten Augenblick verriet er ein paar Freunde und kaufte sich bei den Gaullisten ein. Dann war er MRP, Sozialist, Unabhängiger. Warum aufzählen? Er heulte immer mit den Wölfen. Heute ist er natürlich Gaullist und flirtet bereits mit der OAS. Das gibt Hoffnung. Er hat immer ’ne gute Nase gehabt. – Packt Sie da nicht der Ekel? Weg mit diesen Verfaulten. Selbst wenn sie unsere Väter sind. Wir spucken auf ihre Gräber…“

Mittelmäßigkeit gehört ins Gefängnis

B: „Zugegeben. Mit 17 begeistert man sich leicht für große Dinge. Aber man ist ebenso leicht bereit, sich umzubringen, wenn die Enttäuschungen unerträglich sind. Oder man riskiert sein Leben für etwas Besseres. Das kommt aufs Gleiche ‚raus. Oder nicht?“
C: „Wir wollen Männer, die uns führen, keine Väter, die uns verführen.“
Ich frage: „Was haltet ihr von der Liebe?“
E: „Sie stutzt die Flügel.“
D: „Wir brauchen gute Mütter, keine Sentimentalität.“
„Und die Toleranz?“
A: „Il y a des maisons pour ça, sagt Claudel. — Dafür gibt es Häuser.“ ( In Frankreich werden Bordelle „Häuser der Toleranz“ genannt.)
E: „Wir brauchen Meister, die unsere Seelen wecken, keine Frauen. Männer, die rücksichtslos gegen die Mittelmäßigkeit und den Materialismus vorgehen. Die Mittelmäßigkeit gehört ins Gefängnis. Wir haben die Nase voll von der Jugend à la Françoise Sagan. Wir wollen auch keinen Humanismus à la Tolstoi. Er führt zur Dekadenz.
„Ihr seid Faschisten“, sage ich.
A: „Was ist schlecht daran?“
Ich versuche, das Entstehen der Hitlerjugend zu erklären, das Grauen, zu dem Intoleranz führen kann. Ich deute nach Spanien. Es ist unnütz. Sie blieben ihren Idealen treu, sagen sie und gehen mit höflichen Worten.
Es gibt natürlich in Frankreich viele junge Menschen, die nicht so denken und ein ruhiges Leben führen, wie überall auf der Welt. Auch die jungen Katholiken, die Studenten der Gewerkschaften, die Linken bis zu den Kommunisten sind Minderheiten. Genau wie die Schwarzjacken. Zusammen machen die „Unruhigen“ jedoch fünfzig Prozent der französischen Jugend aus. Sie erleben die Krise Frankreichs, anstatt sie zu ertragen. Sie haben alle eins gemeinsam: die Flucht vor dem Leben, das die heutige Gesellschaft ihnen aufzwingt.
Um besser zu verstehen, haben wir Pädagogen, Priester und Soziologen befragt. Ich fasse zusammen, was sie uns über die Krise der französischen Jugend sagten:
Es fängt mit dem Kind an. Der junge Mensch steht am Pier und will das Schiff besteigen, das ihn ins Leben führen soll. Er träumt vom Großen. Er sucht ein Schicksal. Er will Hauptdarsteller sein in einem Stück, das seinem Leben Sinn gibt, nicht Statist.
Unsere Gesellschaft kann mit diesen Träumen nichts anfangen. Sie will keine Helden. Sie braucht pünktliche Arbeiter und Angestellte. Anstatt auf magische Schiff zu steigen, wird der Junge von der großen Maschine geschnappt. Sie schneidert ihn auf ihr Maß. Sie walzt ihn aus. Die großen Träume fliegen in die Mülleimer unserer Zivilisation. Ausschuß.
„Welche Zivilisation?“ fragt er. – Sie bietet sich mit großen Worten an: Freiheit, Liebe deinen Nächsten, Toleranz, Fortschritt, Güte, Menschlichkeit, Liebe, Verständnis. –
Was findet er: zwei Kriege und 100 Millionen Tote in einer Generation. Haß, Verfolgung, Folter, Ausbeutung. „Sie sind unvermeidlich, um das Paradies zu schaffen“, sagte man ihm, „eine schönere Welt für unsere Kinder.“
Er tritt ins Paradies: ein klimatisiertes Kaufhaus. Hier stehen sie endlich, die echten Götter, denen er dienen soll: Eisschränke, Fernsehgeräte, Autos, Modellküchen, Zelte, Transistoren. „Sei glücklich“, sagt man, „wir haben dein Leben verbessert.“
Jetzt erkennt er endlich das Ziel aller Ziele, das magische Wort: Lebensstandard. Mehr essen, mehr trinken, mehr Bequemlichkeit, mehr Fett.
Er stürzt sich auf diese elenden Krücken des Glücks und fragt: „Ist das alles?“ – „Das ist das Leben“, antwortet man, „du mußt dich anpassen.“ So ist die Welt nun einmal. Du willst mehr? Natürlich. Wir alle wollen mehr. Und wir haben mehr, viel mehr. Wir haben unser Innenleben, mein Junge. Sieh doch hin: Familie, Liebe, Güte, Religion, Kultur. Das übt sich im kleinen Kreise, im stillen Kämmerlein.
Und er schaut hin: Und er entdeckt die gleiche große Lüge. Die Erwachsenen leben nicht die Ideale, die sie ihm anpreisen. Es sind Aushängeschilder, hinter denen sie ihre Selbstsucht verstecken, ihre kleinen Verbrechen und die beschämenden Kompromisse mit dem „Leben“.
Die Religionen? – Im Namen Gottes haben sie alle Schwerter gesegnet.
Die politischen Parteien? – Rattenfänger mit Wohlstandsfanfaren. Auch sie haben nur noch ein Programm: satter leben. Wenn der junge Mann die Inventur bis hierher abgeschlossen hat – bewußt oder unbewußt –, kommt die Krise zum Ausbruch.
Die Schwachen resignieren schnell. Sie ergeben sich kampflos und imitieren die Großen: Sie lügen. Sie schlängeln sich durch. Sie vermeiden die Kanten. Sie hören Langspielplatten und möblieren ihre Langeweile mit den Orden des Wohlstands.
Die Starken suchen weiter. Sie wollen etwas verehren, an etwas glauben, für etwas leben. Die Zeit läuft ab, und sie wollen nicht sterben, ohne gelebt zu haben. Wie? – Sie können es unmöglich allein finden. Aber sie können auch die Welt nicht akzeptieren. Und sie leben ihre „Sinnlosigkeit“. In tausend Formen, die uns barbarisch oder lächerlich erscheinen, fliehen sie vor dem Konflikt mit dem Leben.
Das gilt nicht nur für die großen Städte. Die Dörfer und Städtchen Frankreichs sehen sonntags aus wie die Hauptstraße von Sacramento (Kalifornien) zur Zeit des Goldrausches . Die Söhne von Arbeitern, Angestellten und wohlhabenden Bürgern mischen sich im gleichen Kostüm. Es gibt keine Klassenunterschiede mehr. Eine neue Klasse, die revoltierende Jugend, überschwemmt die Straße. Mit ihrer Uniform – Bluejeans oder Elefantenhose, offenes Hemd, lange Haare – zeigt sie, daß sie die Welt ablehnt, in der ein Schlips den Ruf bestimmt und ein Bankkonto das Gewissen. – Und wenn ihr Idol, Johnny Hallyday, mit seiner Gitarre erscheint, reißt sie die Wände nieder und wälzt sich am Boden.

Jugend an die Macht

Die Bewußteren wollen die Welt ändern, um in ihr leben zu können. Sie machen Politik. Parteien mit Wohlstandsparolen haben keine Zugkraft. Sie suchen mehr als ein Programm. Sie suchen einen Glauben.
Ein Teil findet ihn im Christentum. Er bildet in Frankreich die Vorhut der fortschrittlichen Jugend. Seine Haltung ist radikaler und konsequenter als die der Kommunisten. Während des algerischen Krieges war er der lauteste Fürsprecher des Friedens.
Ein anderer Teil wirft sich zunächst dem Kommunismus in die Arme. Er stellt jedoch bald fest, daß die Lüge sich nicht auf den Westen beschränkt. Der Kommunismus ist kein Glaube mehr, kein Ideal. Rußland ist, wie der Westen, ein großer Supermarkt geworden. Er hat das Wort des Apostels gegen die Beredsamkeit des Handelsreisenden eingetauscht. Osten wie Westen haben den gleichen Gott: den Lebensstandard. Es geht nicht mehr um eine Weltanschauung: Jeder zählt seine Waschmaschinen. Man wirft sich Statistiken an den Kopf. Man kämpft um den Magen, nicht um den Menschen. Er sieht, daß die russische Jugend revoltiert, genau wie er und aus ähnlichen Gründen.
Die meisten dieser Jugendlichen verlassen deshalb den Kommunismus nach einigem Zögern. Sie gehen in den linken Gruppen auf und in den Studentengewerkschaften. Sie sind mit der katholischen Jugend Frankreichs die einzigen, die die Welt nicht ablehnen, gleichzeitig jedoch versuchen, dieser Welt einen neuen Inhalt zu geben. Sie kapitulieren nicht wie die Schwachen. Sie betäuben sich nicht mit Lärm und Gewalt. Sie kämpfen.
Andere wiederum suchen Schuldige für die große Lüge, mit der sie nicht fertig werden. Die Alten, die Juden, die Freimaurer, die Kommunisten und Dekadenten, alle, die nicht ihren Begriff von Ehre und Größe teilen, sind ihre Feinde. Sie wollen säubern, reinemachen, die Luft wieder atmen können, in der sie leben müssen. Sie wollen eine Mission. Ein fest umrissenes Ziel.
Diese Jungen sind es, die nachts über die Mauern ihrer Pensionate klettern und Bomben legen. Die OAS bietet ein Ziel. Den heldischen Einsatz.
„Vergessen Sie nicht“, sagte mir ein Soziologe, „daß es keinen Hitler geben konnte ohne die politische Ausbeutung dieses natürlichen Drangs der Jugend nach großen Idealen. Und in einer Welt, in der man Weltanschauung durch Wohlstand ersetzen will, muß er die verscharrten Götter eines Tages zum Aufstand drängen. Der deutsche Faschismus lebte durch einen Impuls: die Jugend an die Macht. In Frankreich stehen wir heute vor der gleichen Gefahr. Die Krise der Demokratie treibt die Jugend mehr denn je zu Extremen. Sie ist eher bereit zu sterben, als verlogen zu leben. Alles eher, als die Welt ertragen.

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